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Retter oder Täter? Sara (Lena Urzendowsky) vertraut dem Lehrer Simon Keller (Devid Striesow), obwohl der sich im Chat als „Benny“ ausgegeben hat.
© dpa

Verstörender Film über Online-Verbrechen: Die Macht des Jägers: Cyber-Grooming

Ein verstörender Film mit Devid Striesow zum Thema Cyber-Grooming. Jedes Kind, das im Internet unterwegs ist, soll damit schon einmal in Kontakt gekommen sein.

Wie soll man da auch Böses ahnen? Wenn der smarte Lehrer Simon Keller vor der Klasse sitzt und den besorgten Medienpädagogen gibt: „Ich will das Internet nicht verdammen. Ich will euch nur bewusst machen, dass dort Jäger unterwegs sind. Und wenn ihr nicht aufpasst, seid ihr vielleicht die Beute.“ Nachmittags geht er dann ins gutbürgerliche Eigenheim, kocht, scherzt mit Frau und Tochter. Wenige Tage später sieht man den netten Lehrer Keller, wie er heimlich Mädchen beim Sport in der Turnhalle beobachtet und dabei onaniert. Kein Zweifel: Der gehört zu den Jägern.

„Das weiße Kaninchen“, der Titel dieses Films ist harmlos, den Inhalt wird man so schnell nicht vergessen. Verstörung ist noch eine gelinde Beschreibung für das Gefühl, das dieses TV-Drama beim Zuschauer hinterlässt. Was am, so sagen Kriminologen, offenbar weithin unterschätzten Thema Cyber-Grooming aber auch an Devid Striesow liegt, der sich als pädophiler Lehrer wieder einmal an eine extreme Rolle herangewagt hat. Erinnert sei an den bisexuellen Stammzellenforscher in Tom Tykwers „Drei“ oder den Nazi-Beamten in Stefan Ruzowitzkys „Die Fälscher“.

Eine fatale Dreiecks-Geschichte. Simon Keller ist ein pädophiler 40-Jähriger, der im Internet mit falscher Identität unterwegs ist, als „Benny“. „Kevin“ ist ein Teenager, der Mädchen missbraucht. Und Sara ist das Opfer von beiden. Die 13-Jährige ist nicht die Selbstbewussteste. Jungs anzusprechen fällt ihr schwer. Sie fühlt sich von ihren Eltern unverstanden und ist damit umso anfechtbarer für die Verheißungen des virtuellen Raumes.

Zum Beispiel bei „Kevin“, der ihr schnell Komplimente macht und bei „Benny“, der sich Sara als Helfer anbietet, als „Kevin“ von Sara erst ein Oben-ohne-Selfie verlangt und sie dann mit dem Smartphone-Foto erpresst.

Cyber-Grooming nennt sich das, ein Fachbegriff für eine Art Online-Verbrechen: das gezielte Ansprechen von Minderjährigen im Internet mit der Absicht, von ihnen Nacktbilder und Nacktfilme zu bekommen oder sie zu treffen und zu missbrauchen. Jedes Kind, das im Internet unterwegs ist, soll mindestens schon einmal in Kontakt mit einem Cyber-Groomer gekommen sein, sagen Kriminologen. Ein unterschätztes Massenphänomen. Es passiert in Chats, sozialen Netzwerken oder eben wie in diesem Film beim Spielen in Online-Games, in die sich der Lehrer Simon Keller mit falscher Identität hineinbegibt.

Der Sog der virtuellen Ebene wird visuell

„Benny“, angeblich 16, entpuppt sich als Erwachsener, der im Netz den Jugendlichen gibt, um so an Mädchen ranzukommen. Er muss sich dabei mit „Kevin“, jenem anderen Cyber-Groomer, messen lassen, wobei die Grenzen zwischen, sozusagen, guten und bösen Pädophilen in diesem Film zu verschwimmen drohen.

Eine doppelte Perfidie, die sich die Autoren Holger Karsten Schmidt und Michael Proehl ausgedacht haben, gipfelnd in einer Szene im Wald, in der sich die Wege von „Benny“, „Kevin“ und Sara unheilvoll kreuzen. Erstaunlich die Regie. Die Verstrickungen im virtuellen Raum inszeniert Florian Schwarz, indem er die Chatter in einem tatsächlichen Raum gegenüberstellt. Der Sog der virtuellen Ebene wird visuell, die reale Gefahr für Sara durch „Benny“ und „Kevin“ nahbar, greifbar. Das ist frappant.

Wenn von Striesows darstellerischer Leistung die Rede ist, ein bipolarer Lehrer, der sich immer mehr in ein Lügenkonstrukt verstrickt und seine bürgerliche Scheinwelt nicht mehr aufrechtzuerhalten vermag, ein im Grunde besonnener Mann, der seinem zerstörerischen Trieb zu erliegen scheint, dann muss auch Lena Urzendowsky erwähnt werden.

Die 15-Jährige spielt jene Sara in ihrer ersten Hauptrolle mit einer erstaunlichen Offenheit und Verletzbarkeit, Striesow fast ebenbürtig. Die junge Schauspielerin hat keine Sekunde gezögert, als das Angebot kam: „Mir war von Anfang an klar, ich will diese Rolle unbedingt.“ Auch wenn es absurd klinge, es mache Spaß, sich da reinzudenken, dieses Mädchen zu verstehen, sich damit zu beschäftigen.

Ob sich der Zuschauer damit beschäftigen will, in der Primetime? Florian Schwarz rechnet für seinen Film „Das weiße Kaninchen“ nicht nur mit Beifall, gerade auch bei einem bitteren Ende, das viele Fragen offen lässt. Dass die Geschichte über den Lehrer, der ein Doppelleben führt, und die 13-jährige Sara, die sein nächstes Opfer werden könnte, polarisiert, das weiß der Regisseur.

„Ich kann mir schon vorstellen, dass das kontrovers wird“, sagte Schwarz der Deutschen Presse-Agentur. Es verlange dem Zuschauer eine Bereitschaft ab, sich auf so eine Figur einzulassen. Und die Frage ist ja, will man das, bei einem Menschen, der Kinder missbraucht?

Zum Thema Pädophilie keine holzschnittartigen Antworten also. Vielleicht in der Talkshow „Maischberger“, im Anschluss an den Film. Mit Monika Beisler, deren Tochter nach einem Fall von Cyber-Grooming seit 2013 verschwunden ist. Ein 53-jähriger Familienvater hatte sich im Online-Chat als Teenager ausgegeben und das Vertrauen der damals 13-Jährigen Tochter erschlichen. Sie traf sich mit dem Elektriker und verschwand. Auch ein Jäger.

„Das weiße Kaninchen“, Mittwoch, ARD, 20 Uhr 15. Im Anschluss: „Maischberger“, 21 Uhr 45, zum Thema Cyber-Grooming.

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