Ulli Zelle: Der Marathon-Mann
Seit 30 Jahren ist Ulli Zelle als Reporter für SFB und RBB im Einsatz – so verlässlich wie die Berliner Currywurst.
Zehn Mal ist Ulli Zelle den Berlin-Marathon gelaufen. 42,195 Kilometer durch die Innenstadt. Entlang der Strecke ist ihm vieles vertraut. Einmal entdeckte er während des Rennens die Stelle, von der aus er für eine Reportage in die Kanalisation abstieg. Er passierte den Tiergarten, aus dem er über einen Obdachlosen berichtete. Am Ziel, dem Brandenburger Tor, führte er Life-Interviews zur Silvesterparty. Der Berlin-Marathon ist für Ulli Zelle wie ein Lauf durch sein Leben.
Ulli Zelle arbeitet beim Rundfunk Berlin-Brandenburg. Seit 30 Jahren berichtet der 63-Jährige für die „Abendschau“. Am 1. Mai steht er regelmäßig auf dem Oranienplatz in Kreuzberg, im Dezember auf Weihnachtsmärkten, im Frühling in den Weltgärten von Marzahn-Hellersdorf. Ulli Zelle ist der rasende Reporter des Senders, ein Maskottchen der wiedervereinten Stadt. Wie der Berliner Bär ist er groß und stark. Seit 30 Jahren trägt er die gleiche Frisur, mittellanger Seitenscheitel. Während die Hauptstadt sich ständig verändert und Regierende Bürgermeister kommen und gehen, ist Ulli Zelle immer noch da. Verlässlich wie die Berliner Currywurst.
Er kommt in sein Lieblingscafé geschlendert. Jeans, Turnschuhe, kurzärmeliges Hemd. Im Café „Lentz“ hat er seine Frau kennengelernt und die Musiker für seine Band. Er ist gern hier, am Stuttgarter Platz, ein Ort mit vielen Facetten: Russen, Prostituierte, Besserverdienende. Er wirft seinen Autoschlüssel auf den Tisch, ruft die Kellnerin beim Namen und bestellt sich Chili con Carne. Sofort fängt er an zu plaudern. Berührungsängste kennt ein Ulli Zelle nicht. In seinem Haus in Alt-Gatow stehen mittlerweile 25 Umzugskartons, in denen er die Notizen für seine Beiträge aufbewahrt. Andenken an sein Reporterdasein. „Die Gesprächspartner, die ich in meinem Leben hatte, muss man erst mal zusammenkriegen“, meint er.
Ulli Zelle hatte alle am Mikrofon
Meryl Streep, die Rolling Stones, Michail Gorbatschow – er hatte sie alle am Mikrofon. Auch den ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl. Als der einmal aus dem Schloss Bellevue kam, war der Reporter auch da. Er grüßte: „Guten Tag, mein Name ist Ulli Zelle.“ Helmut Kohl war begeistert: „Sie sind der Erste von einer öffentlich-rechtlichen Anstalt, der sich überhaupt vorstellt.“ Ulli Zelle erzählt das nicht ohne einen gewissen Stolz. Auch er möchte beachtet werden. Er sagt: „Ich finde es nicht unangenehm, wenn Leute mich auf der Straße ansprechen. Wir machen ja unsere Arbeit für diese Leute. Wenn ich nicht erkennt werden möchte, hätte ich auch Tischler bleiben können.“ Schon als Kind spielte Ulli Zelle unter einer gebogenen Nachttischlampe den „Tagesschau“-Sprecher.
Damals lebte er noch in Schaumburg, dem ehemaligen Fürstentum, in der Nähe von Hannover. Als 1961 im Osten die Mauer errichtet wurde, baute er sie als Zehnjähriger im Buddelkasten aus Sand und Steinen nach. Anfang der 1970er Jahre zog er zum Studium der Gesellschaftskommunikation nach Berlin. Hier wurde die Mauer für ihn Realität. Er wohnte in Kreuzberg, hörte die Band Ton Steine Scherben und erkundete die geteilte Stadt. Wenn er mit der West-U-Bahn durch Ost-Berlin fuhr, weckte das in ihm eine Sehnsucht: „Ich sah die verstaubten Scheiben und die verblassten Schilder des Nordbahnhofs. Und ich wünschte mir, dass das mal wieder entstaubt werden würde. Das konnte doch nicht immer so bleiben.“
Wenn Ulli Zelle über die DDR spricht, fällt auf, wie viel er über das untergegangene Land weiß. Er kennt Personen, Orte, Verlagsnamen. In der Buchhandlung am Alexanderplatz kaufte er sich bei einem seiner Ostbesuche die Marx-Engels- Werke und das Kapital. Er hörte lieber die Songs der DDR-Band Silly statt die der Puhdys. Von der Rockgruppe Pankow kann er heute noch ein ganzes Lied zitieren: „Das selbe Land zu lange geseh’n, die selbe Sprache zu lange gehört, zu lange gewartet, zu lange gehofft, zu lange die alten Männer verehrt.“ Er summt die Melodie der DDR- Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“.
Ulli Zelle ist eine Berliner Fernsehlegende. Er selbst bezeichnet sich allerdings bescheiden als „kleinen Reporter“, dagegen schwärmt er von den Edelfedern des Zeitungsbetriebs. Nach seinem ersten Studium hat er noch einmal Publizistik studiert, er hat ein Buch über Berlins Historienmeile „Unter den Linden“ geschrieben, er spricht perfekt Englisch. Aber er findet: „Es muss solche geben und solche.“
Besonders im Sommer fuhr er als Westbürger gern in den Ostteil der Stadt. Grünau, Friedrichshagen, Müggelsee, Langer See. Am Wannsee war es ihm zu voll. „Ich fand blöd, dass man die Zweitstadt nicht nutzte“, sagt er. So tauschte er die 25 Mark West in 25 Mark Ost um und passierte den Grenzübergang an der Heinrich-Heine-Straße. Einmal saß er in einem Café an einer Anlegestelle in Schmetterlingshorst, als er von Ost-Berliner Bürgern angesprochen wurde: „Sind Sie Ulli Zelle?“ Damals arbeitete er als Reporter beim SFB. Er war erstaunt: „Kennen Sie mich?“ Die Ost-Berliner antworteten: „Ja, wir gucken die Abendschau. Und wer erzählt, dass er sie nicht guckt, der lügt.“ Ulli Zelle sagt, dass er schon immer eine Beziehung zum Osten gehabt habe. Er sei für ihn wie ein Geheimnis gewesen: Man kam ihm nah, aber trotzdem blieb er einem fremd.
"Ulli und die grauen Zellen", so heißt seine Band
An einem Freitagabend im Juni steht Ulli Zelle auf einer kleinen Bühne in der Hafenbar in Tegel. Er ist nicht als Reporter hier, sondern als Sänger. Er trägt ein T-Shirt mit dem Schriftzug „Graue Zelle“. Das ist der Name seiner Band. „Ulli und die grauen Zellen“ sollte ursprünglich nur einen Abend lang spielen, zu seinem 50sten Geburtstag. Jetzt tourt die Gruppe seit 13 Jahren durch Berlin und Umgebung. Das Publikum ist gemischt, von jung bis betagt, und sehr gut aufgelegt. Es wird geklatscht und getanzt, lang verheiratete Paare zeigen ihr erprobtes Können aus Boogie-Woogie und Rock ’n’ Roll. The Monkees, Beatles, Elvis Presley. Ein bisschen wirkt die Hafenbar an diesem Abend wie aus der Zeit gefallen, eine Oase im Westberliner Wirtschaftswunder der 60er Jahre. Ulli Zelle heizt die Leute an, er läuft durch die Reihen wie der Moderator einer lustigen Samstagabendshow, er springt auf den Tisch und schwingt seine Hüften. Eine zierliche Frau mit schwarzen Haaren schenkt ihm ein Glas selbst gekochter Marmelade. Ulli Zelle, das spürt man, befindet sich gerade in seiner Lieblingsposition. Inmitten des Volkes.
Als am 9. November 1989 die Mauer fiel, schickte man ihn nachts zur Bornholmer Straße. Er stand in der Menge jubelnder Ost-Berliner, die unter dem Mantel noch das Nachthemd trugen, die das Abendbrot auf dem Tisch stehen gelassen hatten und nun vor Freude in Tränen ausbrachen. Der Reporter kennt heute noch alle beim Namen, die er in dieser Nacht interviewt hat. „Für mich hat der Mauerfall beruflich eine Riesenchance bedeutet“, sagt Ulli Zelle. „Wir konnten das Wachsen einer Stadt beobachten, die aus zwei Halbstädten entstanden war. Es gibt in Europa keine Stadt, die sich so radikal neu erfinden musste. Als Lokalreporter ist das natürlich spannend.“
Mit der Selbstverständlichkeit kein Neuankömmling zu sein, betrat er nach der Wende fremde Kontinente. Er berichtete aus Oberschöneweide, Mahlsdorf oder Friedrichsfelde. Er stand vor dem Tierpark, zwischen Plattenbauten, in stillgelegten Kabelwerken. Wie Forrest Gump tauchte er bei allen Großereignissen auf dem Bildschirm auf. Richtfest auf dem Potsdamer Platz, Einweihung derReichstagskuppel, Grundsteinlegung des Bundeskanzleramts. In einem Vierteljahrhundert ist Ulli Zelle an Kilometern wohl mehr als zehn Marathons durch die Stadt gelaufen. Sein eigenes Rennen hat er längst gewonnen. Er sagt: „Es gibt in Berlin kaum eine Ecke, in der ich noch nicht war. Kein Loch, keinen Berg, keinen Keller, keinen Turm.“
Im Moment zeigt der Rundfunk Berlin- Brandenburg aus Anlass des Mauerfall-Jubiläums alte Sendungen der „Abendschau“von 1989. Die Filmaufnahmen wirken wie Fotos aus den Alben, die heute keiner mehr selbst einklebt. Man sieht einen jungen Mann mit großer Nase und wachem Blick. Das Mikrofon liegt fest umklammert in seiner Hand, er hält es in eine Traube von Menschen. Jetzt, 25 Jahre später, schaut man auf fast das gleiche Bild. Ulli Zelle sagt, dass ihn die Neugier und die Menschenliebe zum Reporter gemacht haben. Während der Fußball–WM berichtete er von der Fanmeile zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule. Hunderttausende, Lärm und Getöse. Einmal, noch bevor er einem Fan die erste Frage stellen konnte, wurde ihm eine Bierdusche verpasst.