„Heute-Journal“ & Twitter: Den Opfern das Wort
Die Berichterstattung zu den Morden von Hanau zeigte vor allem auch: Die Opfer, ihre Namen. Auch wenn die publizistischen Extremisten wieder zuschlugen
Wer war Tobias R.? Was wollte er? Wer waren die Opfer? Was sind ihre Geschichten? Der Fernsehabend am Donnerstag stand ganz im Zeichen der Beantwortung dieser Fragen, und es war bemerkenswert, wie vor allem das ZDF-"heute-journal" und Moderator Claus Kleber die Geschichten der neun Opfer von Hanau in den Vordergrund rückten.
Wenn es in den Medien anders herum lief - Täterprofil deutlich vor Opfer-Geschichten - hat es in der Vergangenheit (Christchurch, Breitscheidplatz, Utøyaja) immer wieder auch Kritik gegeben. Am Donnerstagabend blieb haften, wie Claus Kleber im "heute-journal" in der Mitte der Sendung Namen von Opfern verlas, mit brüchiger Stimme. Es wurde fast komplett davon abgesehen, Ausschnitte aus Youtube-Videos oder Pamphlete des Täters zu zeigen. Stattdessen Stimmen von Angehörigen der Opfer. Ein Moderator rang um Fassung.
Natürlich verzichtete das ZDF-Magazin nicht vollständig auf Fragen zu Täter-Motivation und rechtsextremen Hintergrund, mehr dazu im Interview mit Rechtsextremismus-Forscher Matthias Quent, der dann auch bei Maybrit Illner saß. Etwas anders die Schwergewichte im kurzen ARD-"Brennpunkt" nach der "Tagesschau", die meistgesehene Sendung am Donnerstagabend. Es konzentrierte sich auf die rassistische Motivation des Täters.
Auch „Talkshows sind ein Problem“
Die spätere Talk-Runde bei „Maybrit Illner“ wiederum, unter anderem mit NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, stand ganz im Zeichen dessen, was dort Claudia Roth und die Journalistin Kübra Gümüşay betonten und forderten: Es brauche mehr Menschlichkeit in gesellschaftlichen Debatten statt Hate-Speech, gerade auch in solchen Talk-Runden, wo es sehr oft auf Polarisierungen und Unversöhnlichkeiten hinaus laufe.
Es gehe, so Gümüşay, nicht nur um "die digitale Architektur" und das Internet. Auch "Talkshows sind ein Problem", weil da immer "absolute Meinungen gegeneinander antreten". Es sei jahrelang "an diesen Tischen diskutiert worden, ob der Islam zu Deutschland gehört", als sei das eine offene Frage.
Einziger Wermutstropfen: Inszenierung, wo es keiner Inszenierung bedarf
In diesem Sinne fand die Diskussion über rechtsextremen Terror, die Reflektion auch darüber, wie sehr, wie lange schon die Opfer von Hanau mit Migrationshintergrund in Deutschland zuhause sind, ohne rechtsextreme Politiker statt. Das dürfte sich die Illner-Redaktion gut überlegt haben. Einziger Wermutstropfen: Den Bildern aus Hanau lag elegische Streichermusik zugrunde - das ist Inszenierung, wo es keiner Inszenierung bedarf.
Selbst der Privatsender RTL änderte unter dem Eindruck der rassistischen Morde von Hanau sein Programm und brachte um 20 Uhr 15 eine "Spezial"-Ausgabe zur "Horrortat von Hanau", mit Einschätzung zu den Motiven des mutmaßlichen Täters und Einordnungen zu möglichen Verbindungen zu den Netzwerken Rechter Gruppen in Deutschland sowie Schalten zur zeitgleich stattfindenden Trauerfeier in Hanau.
Als dann bei Illner während der Diskussion auch noch mal live nach Hanau geschaltet und von einem ZDF-Reporter weitere Opfer-Namen verlesen wurden, war klar: Die Opfer hatten an diesem Abend im Fernsehen einen Namen und das Wort.
Großes Interesse an den Sondersendungen
Die Fernsehzuschauer haben die Sondersendungen am Donnerstag mit großem Interesse verfolgt. Den „Brennpunkt“ um 20 Uhr 15 im Ersten schalteten 4,86 Millionen ein. Das „ZDF Spezial“ nach den "heute"-Nachrichten kam auf 3,44 Millionen. Die RTL-Sondersendung um 20 Uhr 15 Uhr verfolgten 1,87 Millionen. Die Nachrichten „RTL aktuell“ um 18 Uhr 45 waren mit 3,53 Millionen die am stärksten eingeschaltete Sendung des Abends bei dem Privatsender. "heute“ um 19 Uhr im ZDF wurde um 19 Uhr von 4,46 Millionen eingeschaltet. Die „Tagesschau“ um 20 Uhr verfolgten über alle ausstrahlenden Sender hinweg 10,05 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer-
Ist die publizistische Mitte leer?
Tweet von Jakob Augstein am 20. Februar: „Die Wegbereiter der Gewalt haben Namen und Adresse: Sarrazin, Broder, Tichy, und andere, die die Verrohung des Diskurses vorangetrieben haben. Zuerst kommen die Worte, dann
die Taten. Das ist bei den Rechtsextremisten so, wie bei den Islamisten", twitterte der "Freitag"-Verleger.“
Georg Restle nutzte das "Monitor“-Magazin im Ersten für eine Aufrechnung: Wie viele Mordtaten von linksextremistischer Seite, wie viele von rechtsextremistischer seit 1990? Die Rechtsextremisten gewannen dieses „Spiel“ mit 94 zu null. Das bot Gelegenheit, mit der vor allem von der CDU betriebenen Äquidistanz zu Linkspartei und AfD, mit dem sogenannten „Hufeisenmodell“ abzurechnen. „Morning Briefing“-Autor Gabor Steingart sah in der publizistisch von „Spiegel“-Kolumnistin und Buchautorin Margarete Stokowski befeuerten Debatte eine Koordinatenverschiebung. „Die Mordtaten der Rechten sollen zur Renaissance der Linken führen, wofür die Zersetzung der bürgerlichen Mitte die Voraussetzung bildet“, schrieb Steingart und zitierte dann Stokowski: „Mitte ist ähnlich wie ,bürgerlich’ nicht mehr als ein hohle Phrase“. schließlich seien Rechte und Rechtextreme in eben jener Mitte zu finden.
Tageszeitung schlägt Twitter
Die publizistische Auseinandersetzung mit dem Mord in Hanau muss aufhorchen lassen. Ist die publizistische Mitte leer und hohl? Wie bei jeder Aufregung wird die Meinungsdebatte sogleich von den Rändern geführt, wenn nicht dort besetzt. Die Aufmerksamkeit erregende Augstein-Tichy-Dichotomie vertreibt nahezu jede Wahrheit an die Polkappen der öffentlichen wie veröffentlichten Debatte. Dort verliert die Wahrheit ihren Wahrheitskern, von dort wird über die (publizistische) Mitte hinweg auf die Gegenseite geschossen. Gefangene werden nicht gemacht.
Aufregung wird provoziert, in Kolumnen und zu gerne über Twitter, das Erregungsinstrument schlichtweg. Den Social-Media-Dienst nutzen drei Millionen Deutsche, viele Millionen mehr lesen eine Tageszeitung, dieses Medium kommt auf eine tägliche Auflage von mehr als 13 Millionen Exemplaren. Das sind zu einem ganz großen Teil seriöse Abo-Blätter, die einen Journalismus fern von jener extremen, ja extremistischen Aufmerksamkeits-Attitüde von Augstein, Tichy und der Agro-"Bild" betreiben. Ein Bernd Ulrich von der "Zeit", eine Carolin Emcke, ein Heribert Prantl von der "Süddeutschen Zeitung" analysieren tiefgründig, urteilen mit Augenmaß, das gegenläufige Argument ist nicht ihr Feind.
Die publizistische Mitte ist nicht leer, sie ist nicht hohl, sie ist, sie macht sich zu wenig sichtbar. Wie die gesellschaftliche Mitte. Deswegen schlägt ein ums andre Mal die Stunde der Demagogen.
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