Serie "Deutschland 86": „Den Kommunismus mit Kapitalismus retten“
Die DDR handelt sich ihrem Untergang entgegen: Gespräch mit den Autoren Anna und Jörg Winger über ihre Serie „Deutschland 86“.
Frau Winger, Herr Winger, wie viele Amazon-Lastwagen mussten Deutschlands Straßen verstopfen, bis „Deutschland 86“ finanziert war?
JÖRG WINGER: Das habe ich noch nicht ausgerechnet. Aber eine schöne Frage.
Anders gefragt: Hat Amazon das Projekt gerettet, nachdem RTL für die zweite Staffel abgesagt hatte?
ANNA WINGER: Ganz klar: ja. Unsere Serie läuft in rund 110 Ländern, 109 Länder haben schon die zweite Staffel gekauft, nur Deutschland nicht. Sie können sich vorstellen, dass es nicht ganz einfach ist, eine deutsche Serie, die in deutscher Sprache gedreht wird, zu produzieren – wenn sie nicht in Deutschland zu sehen ist.
JÖRG WINGER: RTL hatte Interesse, eine zweite Staffel zu machen, aber unsere Vorstellungen gingen zu weit auseinander. Bei RTL hat die erste Staffel nicht so gut funktioniert, bei Amazon dagegen schon. Amazon ist also nicht nur aus reiner Nächstenliebe dabei. Das Schöne am Wettbewerb ist ja, dass wir für unsere Serien jetzt viel mehr potenzielle Abnehmer haben. Also Apple, Netflix, die Telekom, Sky ...
Produzieren Sie für den Weltmarkt?
ANNA WINGER: Je mehr Interesse für unsere Arbeit da ist, desto mehr Möglichkeiten haben wir. Das ist schon mal sehr angenehm und erleichtert vieles.
Die ARD zeigt jetzt „Babylon Berlin“. Ein Jahr, nachdem sie bei Sky gelaufen ist. Wie finden Sie das?
JÖRG WINGER: Im Prinzip gut. Es hat vielleicht etwas lange gedauert. Aber ich könnte mir vorstellen, dass nicht alle Zuschauer der ARD gleichzeitig ein Sky-Abo haben. Für sie ist die Serie also etwas Neues.
Werden wir in Zukunft vermehrt derartige Kooperationen sehen, also eine Zusammenarbeit zwischen Streamingdienst oder Pay-TV und Fernsehsender?
JÖRG WINGER: Der Trend geht dahin, dass die großen Konzerne ihre Produktionen lieber in ihrem eigenen Ökosystem behalten. Allerdings ein Trend, der sich aber auch schnell wieder umkehren kann.
ANNA WINGER: Für die Zuschauer sind solche Kooperationen von Vorteil. Und für die Produzenten im Übrigen auch. Im traditionellen Fernsehen wird ein ganz anderes Publikum erreicht. Und davon profitieren auf längere Sicht alle, die an diesen Produktionen beteiligt sind.
Gibt es wesentliche Veränderungen von „Deutschland 83“ zu „Deutschland 86“?
JÖRG WINGER: „86“ ist der Ausblick in die Welt. Ich glaube, wir zeigen ganz gut, wie sich der Kommunismus zu retten versuchte, indem er kapitalistisch wurde. Das ist das große Plus. HVA-Spion Martin Rauch ist jetzt nicht mehr ganz so grün hinter den Ohren, das könnte als Verlust gesehen werden – allerdings wachsen auch die Herausforderungen.
ANNA WINGER: Ich liebe „86“, weil es originell und auch überraschend ist. Etwas Vergleichbares habe ich noch nicht gesehen. „86“ ist in der Gegenwart angekommen. Es geht um Frauen, Rassismus und viele Themen, die gerade aktuell sind. Für mich beschreibt „86“ den Punkt, an dem die Verantwortlichen in der DDR gesehen haben, dass es vorbei ist, 1989 leuchtete schon am Horizont.
Aber eine gewisse Naivität ist trotzdem noch zu spüren.
ANNA WINGER: Ja, jedenfalls auf ostdeutscher Seite, die in „86“ hauptsächlich gezeigt wird.
Die Frage aller Fragen bei westdeutscher, ostdeutscher, deutsch-deutscher Fiktion: Ist es wirklich so gewesen, wie es dem Zuschauer gezeigt wird? Sie wissen ja: Die Tapete muss stimmen!
JÖRG WINGER: Unser Ziel war ein psychologischer Realismus. Die historischen Daten sind natürlich korrekt. Aber historische Akkuratesse hat uns nie besonders interessiert. Wir haben viel fiktionalisiert und uns einige künstlerische Freiheiten herausgenommen. Sonst hätten wir ja gleich eine Dokumentation drehen können.
ANNA WINGER: Was ist schon authentisch? Alle sehen alles anders, im Rückblick sowieso, so etwas wie Deckungsgleichheit gibt es im historischen Erinnern oder Beschreiben nicht. Wir stellen eine Welt her, die es so nie gegeben hat. Da ist es im Prinzip egal, welche Tapete an der Wand hängt.
Bei einem Realitätscheck, wie er bei „Babylon Berlin“ gemacht wurde, würden Sie gnadenlos durchfallen.
JÖRG WINGER: Mit Pauken und Trompeten. Das ist eine deutsche Obsession. Dass auch in der Fiktion alles so sein soll, wie es wirklich war. Das ist natürlich unmöglich. Jeder nimmt die „Realität“ anders wahr.
Botschaft bei „Deutschland 86“: Ein fieser Kommunismus kann nur überleben, wenn er einen fiesen Kapitalismus anwendet.
JÖRG WINGER: Wir können eben auch bösartig!
ANNA WINGER: Wir hatten einen Berater, der bei der Kommerziellen Koordination des Herrn Schalck-Golodkowski dabei war. Den haben wir gefragt, ob wir nicht übers Ziel hinausgeschossen wären. Der Mann war sehr zufrieden mit uns: Alles so, wie Sie es zeigen, hat er gesagt. Nur noch schlimmer.
Wie lange hält dieser Trend noch an, also deutsche Geschichte als Seriengeschichte?
JÖRG WINGER: Nichts währt ewig, das ist klar. Aber solange das Interesse da ist, werden wir oder andere weitermachen. Es gibt noch jede Menge zu erzählen.
Worüber lässt sich einfacher schreiben, über Ost- oder über West-Deutschland?
ANNA WINGER: Ostdeutschland. Weil ich nie in Westdeutschland gelebt habe. Ich kenne nur den Osten, in dem ich 16 Jahre gelebt habe. Ich bin aus New York nach Leipzig gezogen. Und dann kam Berlin. Ich wohne jetzt in West-Berlin, aber interessanter finde ich immer noch den Osten.
JÖRG WINGER: Ich bin eher westsozialisiert. Mich hat der Osten Deutschlands bis zum Fall der Mauer eher wenig interessiert. Dann aber umso stärker, besonders nachdem ich 1999 nach Leipzig gezogen bin. Die Frage ist: Muss man im Osten geboren sein, um über den Osten schreiben zu können? Mein Argument dagegen: Ich kenne weibliche Autorinnen, die sehr gute Männerrollen schreiben.
Was zeigt „Deutschland 86“: eine Ost- oder eher eine West-Sicht der Dinge?
ANNA WINGER: Weder noch. Uns interessierten zum Beispiel die Parallelitäten zum Apartheid-Regime in Südafrika: Zwei Regime, die wackelten. Ich glaube, die wenigsten wissen, wie die Kommunisten wirklich Geschäfte mit Kapitalisten gemacht haben. Das ist eine Wundertüte, das können Sie mir glauben. Mich hat auch gereizt zu zeigen, wie, pathetisch ausgedrückt, der letzte Kampf gekämpft wurde. Ich halte es gerne mit den Underdogs, gerade wenn sie einen Kampf kämpfen, den sie nicht gewinnen können. Das Interessante ist, dass die Beteiligten das ganz genau wussten.
Befinden wir uns unverändert im „goldenen Zeitalter“ der Serie?
ANNA WINGER: Who knows. Ich habe Freunde, die sich keine einzige Serie ansehen!
JÖRG WINGER: Ich kenne niemanden unter 50, der in den letzten Jahren nicht mindestens zehn Serien gesehen hätte. Mich interessiert, wie man es schafft, das Image von deutschen Serien noch weiter zu verbessern. Es gibt immer noch eine gewisse Beißhemmung, wenn es um deutsche Produktionen geht.
Amazon hat schon die nächste, die dritte Deutschland-Staffel in Auftrag gegeben. Wann ist Schluss? „89“? „92“? „95“?
JÖRG WINGER: Wenn wir nichts mehr zu erzählen haben oder es niemand mehr sehen will.
Das Interview führten Thomas Eckert und Joachim Huber.
„Deutschland 86“, zehn Folgen, bei Amazon ab 19. Oktober verfügbar.