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Anne Will mit ihren Gästen am Sonntagabend
© dpa/Wolfgang Borrs/NDR

TV-Kritik: Asylstreit bei „Anne Will“: Absturz ins nachtblaue Ungewisse

Wo bleibt nur die Reaktion von Innenminister Seehofer? Bei „Anne Will“ müssen die Gäste über etwas diskutieren, worüber sich noch gar nicht reden lässt.

Die Gastgeberin brachte das Dilemma um 22.03 Uhr gleich auf den Punkt: „Wir sind spät, aber wir sind nicht spät genug.“ Anne Will und ihre Gäste saßen im Studio in Berlin-Adlershof und Horst Seehofer saß in München und schwieg. Noch! Immer noch! Längst hätte er reden wollen, längst hätte er erklären sollen, wie er Merkels Verhandlungsergebnisse in Brüssel bewertet und ob ihre europäische seiner nationalen Lösung und seinem „Masterplan Migration“ gleichkommt und somit „wirkungsgleich“ ist.

Aber Seehofer schwieg und Anne Wills Gäste mussten über etwas reden, worüber sich noch gar nicht reden ließ. Bereits das erste WM-Spiel des Tages zwischen Gastgeber Russland und Spanien war in die Verlängerung und dann ins Elfmeterschießen gegangen und auch die zweite Partie zwischen Kroatien und Dänemark spitzte sich so zu. Auch Horst Seehofer suchte die Verlängerung, dann das Elfmeterschießen.

Es war eine faszinierende Sendung, weil sich in ihr die Ereignisse überschlugen, ohne dass sie stattfanden. Die Akteure blieben ratlos und sprachlos, alle arbeiteten sich an Fragestellungen ab, die in der nächsten Sekunde von Seehofers Erklärung, die zunächst ausblieb, vom Tisch gewischt sein konnten. Wer trägt die Hauptschuld im Streit der Unionsschwestern? Ist Merkels Verhandlungserfolg „wirkungsgleich“? Soll die Kanzlerin Horst Seehofer entlassen? Wie ginge es weiter?

Daniel Günther, CDU-Ministerpräsident aus Schleswig-Holstein, gab den Merkel-Euphoriker, die Kanzlerin habe viel mehr erreicht, als zu erwarten gewesen wäre. Robin Alexander, „Welt“-Chefreporter, zeigte sich als Skeptiker und sah Merkels Ergebnisse nicht als „wirkungsgleich“.

„Die sollen sich mal am Riemen reißen!“

Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der Zeit, warnte: „Markige Worte bringen nichts, wenn die Sprache verroht, zerfallen Gesellschaften.“ Zweifelsohne hatte er dabei auch Alexander Dobrindt („Anti-Abschiebe-Industrie“), Markus Söder („Asyltourismus“) und Horst Seehofer („Herrschaft des Unrechts“) im Auge, doch di Lorenzo konkretisierte seinen Tadel nicht und sah auch Merkel an der Eskalationsspirale beteiligt. Wirklich? Das hätte man von ihm gerne genauer gewusst.

Und Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen) meinte, die Münchner Herren hätten wohl „eine Dosis Donald Trump“ zu sich genommen und benähmen sich wie „Halbstarke“. Ansonsten kritisierte sie die „Abschottungsbeschlüsse“ der EU.

Und Olaf Scholz (SPD)? Er war der samtpfötige Deeskalationsautomat, der er immer ist. Anne Will fragt bei ihm gewitzt und hartnäckig nach. Lacher im Publikum.

Bemerkenswert aufgewühlt Daniel Günther. Der sonst so moderate Ministerpräsident hatte geradezu blaue Lippen vor Zorn, aus den Fingern wich das Blut. Er bebte. Er empfahl den Münchnern: „Die sollen sich mal am Riemen reißen!“

Wo blieb Seehofer? Auch Markus Söder, der zugeschaltet werden sollte, ließ sich nicht blicken. Die Ereignisse überschlugen sich, fanden jedoch nicht statt. Das Studio schwebte nun wie ein Raumschiff durch die Nacht, die Verbindung zur Erde schien abgerissen. Da sprach der Knopf im Ohr der Gastgeberin. 22.47 Uhr: dpa meldete, dass Horst Seehofer von allen Ämter zurücktreten wolle oder zurückgetreten sei? Das Studio-Publikum applaudiert!

Die Fragezeichen blinkten nun in den Augen der Talkgäste auf und das Talkshow-Raumschiff stürzte nun weiter ins nachtblaue Ungewisse. Zur gleichen Zeit schossen die Kroaten die Dänen aus dem Wettbewerb. Robin Alexander wusste, wenn Seehofer zurücktritt, „dann wackelt die Republik!“ Daniel Günther bemühte sich um Fasson, aber der „Welt“-Journalist kitzelte den Trennungsfuror aus dem CDU-Mann  heraus. „Sie schimpfen ja immer noch!“ und diagnostizierte über CDU und CSU: „Da passt kulturell nicht mehr zusammen, was einmal zusammengehörte.“

Alles floss nun mit allem zusammen! Am Nachmittag hatte Angela Merkel im ZDF-Sommer-Interview ihren Erfolg beinahe fröhlich herausgestellt, in München bekamen sie Schnappatmung, die Dänen ließen mittlerweile den Tränen freie Lauf, der Rezensent versuchte, den Ereignissen auf den Online-Portalen hinterherzulaufen, aber Horst Seehofer ließ auf sich warten. Das war bestes Live-Fernsehen ohne live, denn der Protagonist saß woanders und man wünschte sich fliegende Zeitungen, Tablets in Lichtgeschwindigkeit, allwissende Kameraaugen in der CSU-Zentrale. Niemand wusste was Genaues, aber das Tohuwabohu war allgemein.

In den auf Anne Will folgenden „Tagesthemen-Spezial“ und im „Heute-Journal-Spezial“ begannen die Korrespondenten zu stottern, Seehofer hatte alle Skripte zerstört, die Auguren deuteten atemlos die Gesprächsfetzen. „Ein denkwürdiger Abend“, beschloss Anne Will die aufregende Sendung. Auch die „Tagesthemen“ brachten keine Lösung, Erlösung, Seehofer und Merkel schwiegen ... noch. Aber immerhin wusste der Metereologe Sven Plöger um 23.34: „Das Wetter ist davon unbeeindruckt und findet einfach nur statt.“

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