Wie bei Schirachs "Terror - Ihr Urteil": Arte stellt in TV-Drama die Schuldfrage
Notwehr oder Mord: Im französischen TV-Drama „Der zweite Schuss“ sollen die Zuschauer entscheiden.
Das Leben der Belmontes könnte besser nicht laufen. Das Ehepaar betreibt in Frankreichs Süden ein kleines Juweliergeschäft, es hat zwei wohlgeratene Kinder, und obwohl schon seit fast 25 Jahren verheiratet, dient das Ehebett nicht nur zum Schlafen. Dieses Idyll wird jäh unterbrochen, als ein Mann mit Motorradhelm auf dem Kopf in den Laden stürmt und die Herausgabe der kostbaren Schmuckstücke verlangt. Doch Christine Belmonte (Valérie Karsenti) weigert sich. Das sei der dritte Überfall in kurzer Zeit, sagt sie dem Räuber, der mit einer Waffe auf ihren Kopf zielt und sie immer lauter anschreit. Matteo Belmonte (Frédéric Pierrot), der in der Werkstatt arbeitet, wird auf die Ereignisse aufmerksam, holt eine Pistole aus einer Schublade, geht nach vorn in den Laden und zielt auf den Mann mit dem Helm. Und drückt ab. Erst einmal, dann ein zweites Mal. „Der zweite Schuss“, so der Titel des TV-Dramas von Arte, verändert das Leben vieler Menschen.
Was zunächst wie ein Fall von Notwehr erscheint – mit einem zumindest für das Juweliersehepaar einigermaßen glimpflichen Ausgang –, entwickelt sich mehr und mehr zu einem Albtraum. Der angeschossene Räuber schafft es zwar noch zu einem Komplizen auf den Motorroller, doch während der Flucht fällt er vom Sitz und stirbt auf dem Asphalt. Später stellt sich heraus, dass seine Waffe eine Attrappe war und der Juwelier mit einer nicht registrierten Pistole geschossen hat. Unversehens sieht sich Matteo Belmonte nicht mehr in der Rolle des Opfers, sondern als möglicher Täter, gegen den Polizei und Staatsanwaltschaft ermitteln.
Mehr Gesellschaftsdrama als Kriminalfilm
Regisseurin Isabelle Czajka hat „Der zweite Schuss“ jedoch nicht in erster Linie als Kriminalfilm inszeniert, in dem juristische Aspekte im Vordergrund stehen. Im Zentrum stehen andere Fragen: Eine davon ist, was ein solches Ereignis mit den daran beteiligten Menschen macht. Insbesondere mit Matteo Belmonte, hinter dessen ruhigem Wesen noch etwas anderes schlummert. Der Film erzählt dies in vielen kleinen Szenen, zwischen denen manchmal nur ein kurzer Zeitraum, mitunter aber auch mehrere Monate liegen. Auch gesellschaftliche Fragen werden aufgeworfen. Matteo Belmontes Sohn Paul (Eric Pucheu) bringt die Politik ins Spiel. Der Kandidat für das Bürgermeisteramt will das Recht auf Notwehr stärken. Gefordert ist jedoch vor allem der Zuschauer. Wie vor einigen Monaten bei „Terror“ nach dem Buch von Ferdinand von Schirach muss der Zuschauer auch in dem französischen Drama entscheiden, ob und welche Schuld der Juwelier auf sich nahm, als er auf einen Menschen geschossen hat. Kurt Sagatz
„Der zweite Schuss“, Arte, Freitag, 20 Uhr 15