Wie über Straftaten und Tatverdächtige berichten?: An der Vermutungsgrenze
„Täter“ oder „mutmaßlicher Täter“ oder „Tatverdächtiger“: vom richtigen Umgang mit Begriffen in den Medien - und nicht nur dort.
Für die „Bild“-Zeitung waren sie gleich die „Killer“. Gemeint sind die beiden Männer, die binnen weniger Tage Ende Juli verhaftet wurden, nachdem sie auf Bahnhöfen im niederrheinischen Voerde und in Frankfurt/Main Menschen vor einfahrende Züge gestoßen und so getötet haben. Oder soll man nur sagen und schreiben: vor einfahrende Züge gestoßen und so getötet haben sollen?
Beide Taten geschahen vor den Augen zahlloser Zeugen, mitten am Tag, womöglich auch gefilmt von Überwachungskameras. Dass die beiden Männer, ein in Deutschland gebürtiger Serbe und ein aus der Schweiz kommender Eritreer, die ihre Opfer nicht kannten, Emigranten waren, spielt hier keine Rolle. Es geht anhand dieser jüngsten, zu Recht Erschütterung auslösenden Vorfälle vielmehr um die Art und Weise, wie über schwere Straftaten und die Tatverdächtigen berichtet wird. Berichtet werden sollte.
Denn das sprachliche Durcheinander ist bei derlei Anlässen ziemlich groß. Während „Bild“ die „Killer“ mit Fotos und im Fall des Eritreers auch mit vollem Namen nennt, werden in der „FAZ“, der „Süddeutschen Zeitung“ oder im Tagesspiegel genau wie in den öffentlich-rechtlichen TV- und Hörfunksendern allenfalls Vornamen und Anfangsbuchstaben des Nachnamens veröffentlicht. Das ist in seriösen Medien allgemein üblich. Bei Porträtfotos werden meist schwarze Balken über die Augen gelegt oder die Gesichter bei Filmaufnahmen verpixelt.
"Mutmaßlicher Täter", eine absurde Formulierung
Das Durcheinander beginnt freilich mit den begleitenden Texten. Wie zuletzt auch beim rassistischen Mordanschlag auf einen eritreischen Migranten im hessischen Wächtersbach ist in den Medien mal von einem „mutmaßlichen Täter“ und dann, meist im selben Artikel, auch wieder einschränkungslos vom „Täter“ die Rede. So auch vergangene Woche in mehreren (Titel-)Geschichten der genannten Zeitungen. Dabei ist die sprachlich unschöne Bezeichnung „mutmaßlicher Täter“ (statt schlichter: der Tatverdächtige) seit einigen Jahren zur Standardformel in fast allen Medienmeldungen über Kriminalfälle geworden.
Wie absurd die Formulierung „mutmaßlicher Täter“ sein kann, zeigt ihre inzwischen übliche Verwendung selbst bei internationalen Ereignissen. So wird beispielsweise gemeldet, dass Terroristen irgendwo ein Gebäude mit hundert Menschen in die Luft gesprengt haben, gleichzeitig heißt es „die mutmaßlichen Täter“. Als sei das ganze Attentat nur ein „mutmaßliches“. Sogar bei dem vom Schützen selber per Helmkamera gefilmten Massenmord in Christchurch rastete als Erstes die Formulierung von dem „mutmaßlichen Täter“ ein. Als nur „mutmaßlich“ werden so auch Tatverantwortliche bezeichnet, die sich selbst richten: etwa in einem Artikel auf der „FAZ“-Titelseite vom 24. Juli, nach dem Anschlag in Wächtersbach.
Andererseits geht es bei der Berichterstattung über Kriminalfälle natürlich um die Persönlichkeitsrechte nicht nur der Opfer, sondern auch der (noch nicht gerichtlich verurteilten) Tatverdächtigen. Gerade im frühen Ermittlungsstadium müssen Beschuldigte gegenüber einer öffentlichen Vorverurteilung der Medien einen angemessenen Schutz genießen. Deswegen ist bei Bagatelldelikten oder auch Fällen von Massenkriminalität von einer identifizierenden Kennzeichnung selbst der verurteilten Täter strikt abzusehen. In der Abwägung zwischen öffentlichen Informationsinteressen und individuellen Persönlichkeitsrechten auf Anonymität, auf das Recht am eigenen Bild, auf den Schutz vor einer „sozialen Prangerwirkung“ von Veröffentlichungen überwiegt normalerweise der Respekt vor dem Persönlichkeitsrecht.
Eingeschränkter Anonymitätsschutz
Grundsätzlich gilt das auch in allen Fällen des Jugendstrafrechts, wo zudem die Gerichtsöffentlichkeit beschränkt ist. Fragwürdig ist zudem, wenn Erwachsene im Zusammenhang mit minderen Delikten mit Vornamen und Nachnamenkürzeln sowie Hinweisen auf Alter, Beruf oder Wohnort benannt werden. Damit sind Menschen in ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld bereits bloßgestellt – während die weitere Öffentlichkeit auch bei voller Namensnennung (oder einem Foto ohne schwarzen Balken) die jeweils Betroffenen ohnehin nicht kennen würde.
Einen eingeschränkten Anonymitätsschutz genießen dagegen Personen der „Zeitgeschichte“, also Prominente des öffentlichen Lebens. Wie Politiker, Spitzensportler, Stars. Das hängt oft mit dem eigenen Anspruch zusammen. Wird eine bekannte Bischöfin bei einer Alkoholfahrt erwischt oder ein Politiker oder Topmanager bei einem (selbst relativ leichten) Fall von Steuerhinterziehung, dann überwiegt das mediale Informationsinteresse. Von politischer, moralischer oder im weitesten Sinne zeitgeschichtlicher Relevanz kann dabei nicht nur das Delikt, sondern auch die Frage sein, wie Prominente von Polizei und Justiz behandelt werden, ob also bei ihnen mit dem gleichen Maß wie bei jedermann und jeder Frau gemessen wird.
Die Zahl und Art der möglichen Fälle ist zu groß, als dass der seit 1973 immer wieder fortgeschriebene „Pressekodex“ des Deutschen Presserats mehr als nur allgemeine Ratschläge geben könnte. Zum Thema „Vorverurteilung“ heißt es da in der Richtlinie 13.1, die Berichte über Ermittlungs- und Strafverfahren müssten „frei von Vorurteilen“ erfolgen. Und: „Der Grundsatz der Unschuldsvermutung gilt auch für die Presse.“
Unschuldsvermutung gilt nicht absolut
Letzteres stimmt – und stimmt doch nicht ganz. Denn diese Vermutung, die durchaus eine Säule des Rechtsstaats bedeutet und auch in Artikel 6, Absatz 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert ist, richtet sich zuallererst an die staatliche Gewalt, an die Polizei und Organe der Justiz. Für die Medien und überhaupt die Öffentlichkeit, auch für zeitgeschichtliche Autoren, Filmemacher oder Künstler (jeden Geschlechts) gilt sie zwar mittelbar. Aber nicht absolut.
Einfaches Beispiel: Kriegsverbrecher wie Hitler oder Diktatoren wie Stalin sind nie juristisch zur Rechenschaft gezogen worden. Sie deshalb nur als „mutmaßliche Täter“ (also mutmaßlich unschuldig!) zu bezeichnen, wäre absurd. So haben auch seriöse Medien nach erstem Zögern die Namenskürzel und Mutmaßlichkeiten bei offensichtlichen Tätern wie dem norwegischen Massenmörder Anders Breivik oder dem Breitscheidplatz-Attentäter Anis Amri zu Recht aufgegeben. Ein heiklerer Fall war der des womöglich psychisch gestörten Germanwings-Piloten, der 2015 seine Maschine in Frankreich mit 150 Personen an Bord nach allen Indizien, doch ohne letzten Beweis wohl absichtlich zum Absturz brachte.
Doch wer, wenn nicht er, wäre bei jenem bis dahin einzigartigen Fall eines Linienflug-Suizid-Piloten nicht eine Person der zumindest „relativen Zeitgeschichte“ gewesen? Bei ihr, das ist juristischer Konsens, überwiegt das Informationsinteresse – auch an persönlichen Hintergründen. Sein Name konnte daher nicht verborgen bleiben. Allerdings, eine schuldhafte Tat, die ihn selbst mit zum Opfer machte, bleibt hier wirklich nur: eine Vermutung.