Auf dem Mount Everest 1975: Junko Tabei: Die erste Frau an der Spitze
Der Mount Everest gehört bis Mai 1975 den Männern. Dann wagt die Japanerin Junko Tabei den Aufstieg – auch als symbolischen Akt für Gleichberechtigung. Ihre Expedition wird von einer Lawine verschüttet.
In 6300 Metern Höhe richten sie ihr Lager ein. Seit zwei Monaten ist Junko Tabei mit ihrer Gruppe unterwegs, nun muss sie rasten: sich an die immer dünnere Luft gewöhnen, bevor es weitergehen kann. Schließlich beginnt bald die sogenannte Todeszone, die schon dutzenden Bergsteigern das Leben gekostet hat.
Es ist der 4. Mai 1975, noch 2550 Meter bis zum Gipfel. Die Zelte sind gerade aufgebaut, die Werkzeuge und Sauerstoffflaschen verstaut, die Nahrungsmittel auch. Da knackt und knirscht es laut. Eine gewaltige Lawine löst sich und verschüttet das Camp. Junko Tabei wird unter einer Schneedecke begraben, sie bekommt kaum Luft. Für einen Moment denkt sie: „Jetzt ist es aus, jetzt musst du sterben.“ Dann verliert sie das Bewusstsein.
Drei Jahre lang hat sich Junko Tabei auf ihre Mission vorbereitet. Den höchsten Gipfel der Welt bezwingen? Als erste Frau überhaupt? Viele rieten ihr ab. Professionelles Bergsteigen gilt in den 1970ern noch als Männerdomäne. Frauen gehören an den Herd, nicht in den Himalaya. Zu gefährlich und anstrengend sei der Extremsport fürs schwache Geschlecht, das hat Junko Tabei mehrfach zu hören bekommen. Und erwidert: „Wir können den Berg ja auch langsam erklimmen“. Die Japanerin ist ebenso zäh wie zierlich, nur eineinhalb Meter groß, 50 Kilo schwer. Willenskraft sei das Wichtigste, sagt sie. Und dass sie davon mindestens ebenso viel besitze wie die 35 männlichen Bergsteiger vor ihr, denen der Aufstieg gelang.
Bereits als Zehnjährige ist Junko Tabeis Liebe zum Berg erwacht. Eine Lehrerin nimmt sie damals mit auf den Nasu, einen Vulkan. Eigentlich meidet Tabei jeden Sport, sie ist ein kränkliches Mädchen, das jüngste von sieben Geschwistern. Oft leidet sie an Fieber oder Lungenentzündung. Wettkämpfe und Konkurrenzdenken sind ihr ein Gräuel, sagt sie. Beides gibt es beim Klettern nicht. Wichtig ist nur das Ankommen.
Junko Tabei stammt aus einem fortschrittlichen Elternhaus in der Provinz Fukushima. Sie studiert englische und amerikanische Literatur an der Showa Women’s University in Tokio. Dort will sie, mit Anfang 20, erstmals einer Bergsteigergruppe beitreten. Doch die ausschließlich männlichen Mitglieder reagieren mit Argwohn. Keiner möchte mit einer Frau klettern. Die Vorurteile haben in Japan einen religiösen, lange zurückliegenden Ursprung: Im Volksglauben galten Frauen als unrein, bestimmte Bergregionen dagegen als heilig. Das durfte sich nicht vermischen.
Die Behörden erlauben nur eine Tour pro Jahr
1969, mit 30 Jahren, gründet Junko Tabei ihren eigenen Verein, den „Ladies Climbing Club Japan“. Ihr Leitspruch: „Let’s go on an overseas expedition by ourselves.“ Schon ein Jahr darauf klettert Tabei mit anderen Bergsteigerinnen auf Annapurna III, mit 7555 Metern einer der berüchtigten Siebentausender im Himalaya. Erstmals kann ein reines Frauenteam einen derart hohen Gipfel erreichen. Der Ehrgeiz ist geweckt. Nun wollen die Kameradinnen die 8000-Meter-Marke knacken, den höchsten Berg der Welt.
Auf der Seite Nepals heißt er „Sagarmatha“, Stirn des Himmels. In Tibet kennt man ihn als „Chomolungma“, Mutter des Universums. Der Westen hat den Berg nach Sir George Everest benannt, dem Mann, der die erste zuverlässige Höhenmessung durchführte. 1971 wollen die Frauen ihre Expedition anmelden. Bei der Regierung Nepals bittet Tabei um Erlaubnis. Doch die Warteliste für die kommenden Jahre ist voll. Während heute jährlich hunderte Bergsteiger den Everest erklimmen, sind die Genehmigungen damals rar. Die Behörden gestatten lediglich eine einzige Expedition pro Saison.
Rückhalt bekommt Tabei von ihrem Ehemann. Der ist selbst Bergsteiger, kennt die Risiken am Mount Everest. Aber noch besser kennt er seine Frau. Gemeinsam sind sie bereits auf Japans höchsten Berg, den Fuji, und das Matterhorn in den Schweizer Alpen geklettert. Bevor Junko Tabei die gefährliche Expedition auf den Mount Everest antrete, solle sie ihm bloß noch ein Kind gebären, wünscht er sich. Als sie 1972 schwanger wird, beantragt sie wieder eine Genehmigung – und bekommt den Zuschlag für das Jahr 1975. Nach der Geburt ihrer Tochter beginnt sie zu trainieren. Wenn das Baby schläft, geht sie joggen. Noch fehlt es an Geld für die Expedition. Tabei, eine talentierte Musikerin, gibt Klavierunterricht, spart, wo es geht. Doch das reicht nicht. Die Gruppe ist auf Sponsoren angewiesen. Für Junko Tabei ist es Glück, dass die Vereinten Nationen gerade 1975 zum „Jahr der Frau“ erklären, um der Frauenbewegung Anerkennung zu verschaffen. Der japanische TV-Sender Nihon und eine Tageszeitung mit Sitz in Tokio finanzieren im Zuge dessen die erste weibliche Expedition als symbolischen Akt für mehr Gleichberechtigung. Hunderte Frauen bewerben sich um die Teilnahme. Neben Tabei sind am Ende 14 weitere Japanerinnen dabei, allesamt gebirgserfahren. Viele Kritiker glauben nicht an den Erfolg. „Sie sagten uns, wir sollten stattdessen lieber unsere Kinder großziehen“, erinnert sich Tabei später. Doch für sie gibt es keine Zweifel.
Im Frühjahr 1975 erreicht die inzwischen 35-Jährige Kathmandu, die Hauptstadt Nepals. Dort stellt sie eine Gruppe von neun Sherpas zusammen, für mehr reicht das Geld nicht. Auch an den Sauerstoffflaschen wird gespart. Ihr Plan: Bis 7500 Meter muss es ohne Atemhilfe gehen. Sie entscheiden sich für die Südroute – exakt jene Strecke, die 22 Jahre zuvor der Neuseeländer Sir Edmund Hillary mit seinem nepalesischen Sherpa Tenzing Norgay nahm und so als Erster den Gipfel erreichte. Die acht Expeditionen vor Hillarys waren tödlich verlaufen.
Tabeis Aufstieg beginnt im März, zunächst kommt die Gruppe gut voran. Bald treffen sie Reinhold Messner, der Extrem-Bergsteiger ist mit einer italienischen Gruppe zur Lhotse-Südwand unterwegs. „Auch die Japanerinnen, die Gesichter dick mit Sonnenschutzcreme verschmiert, waren auf dem Weg in ihre Basislager, zum Mount Everest“, erinnert sich Messner später in einem seiner Bücher. Der Begrüßung sei ein Kichern vorausgegangen, „und da wir uns mit Worten kaum verständigen konnten, unterhielten wir uns mit Gesten“. Der Pulk habe ihn „eher an eine Oberschulklasse als an eine Expeditionsfrauschaft“ erinnert. Die Leiterin Junko Tabei habe im Übrigen verschüchtert gewirkt.
Ihre Kameradinnen hingegen wissen um die Durchsetzungskraft der Anführerin. Junko sei keine Frau, sie sei „ausdauernd wie ein Mann und arbeite wie ein Tier“, erzählen sie Messner.
Sie erholt sich im Sauerstoffzelt
Dass Junko Tabeis Mission am 4. Mai 1975, dem Tag der Lawine, nicht unter Schneemassen begraben endet, verdankt sie allerdings mehreren Sherpas. Die können zunächst sich selbst und dann alle anderen Teilnehmer aus den Schneemassen befreien. Tabei ist stark unterkühlt, doch Aufgeben kommt nicht infrage. „Der Schock dauerte nur Sekunden. Ich blieb ruhig und entschlossen, tat nach der Katastrophe kaltblütig, was zu tun war.“ Es scheint ihr, als gäbe ihr jemand Befehle: „Galt es doch, das einzig Richtige, das Rettende zu tun.“
Als Verantwortliche entscheidet sie sich zum Weiterkämpfen. Was vorangegangene Männerexpeditionen oft verschwiegen haben, spricht Tabei aus: Ohne Hilfe der Sherpas wären sie kläglich gescheitert. Doch der anstrengendste und gefährlichste Teil liegt noch vor ihr.
Gemeinsam steigen sie ein Stück ab, um Kraft zu sammeln. Drei Tage lang liegt die Japanerin im Schlafsack, fast bewegungsunfähig, reglos. Tabei erholt sich im Sauerstoffzelt. Dann fühlt sie sich bereit für die nächste Etappe. Es geht wieder los, die eisigen Hänge hinauf. Nur ihr Sherpa Sirdar Ang Tsering begleitet sie auf dem härtesten Streckenabschnitt, alle anderen aus der Gruppe bleiben zurück. Trotz schmerzendem Rücken und schwerer Beine geht Tabei weiter. Ihre Prellungen ignoriert sie, der Körper ist übersät mit blauen Flecken. Streckenweise auf den Knien kriechend schleppt sich die Japanerin voran.
Ihre Ausdauer wird belohnt. Zwölf Tage nach dem Lawinenunglück, eingehüllt in ihren roten Daunenanzug, erreicht sie den Gipfel über die Südflanke. Es ist der 16. Mai 1975, 12.30 Uhr, die Sicht ist klar. Junko Tabei spürt den Wind um sich, sie ist angekommen auf dem Dach der Welt und am Ende. Um sie herum nichts als Felsen, Schnee, der unendliche Himmel. Junko Tabei steckt eine Stange in den eisigen Boden, an deren Ende die japanische Flagge weht.
„Lass uns gehen“, sagt sie zu ihrem Sherpa. Vorsichtig beginnen sie mit dem Abstieg.
Nur wenige Tage später, am 27. Mai, erreicht die zweite Frau den Gipfel: Eine Tibeterin ist, zusammen mit acht Männern, über die gefährliche Nordseite aufgestiegen. Dass ihr die Japanerin bereits zuvorgekommen ist, weiß sie im Moment des Jubels noch nicht.
Tabeis Erfolg ist eine Sensation, weltweit berichten die Medien. „Dieser Gipfelsieg passt wunderbar in unsere Emanzipationslandschaft“, kommentiert etwa die „Süddeutsche Zeitung“, feiert ihn als Meilenstein auf dem Weg zur Gleichstellung der Geschlechter. Ein Zitat Tabeis geht um die Welt: „Ich kann nicht verstehen, warum Männer so einen Wirbel um den Mount Everest machen – es ist nur ein Berg.“ Einer, der keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern macht.
Neider behaupten noch Jahre später, Tabei sei von ihrem Sherpa Ang Tsering hinaufgezogen und geschoben worden. Manche verspotten sie als „Everest mommy“ und „housewife climber“, als Hausfrauen-Bergsteigerin.
Eine der ersten Journalistinnen, mit denen Tabei nach ihrem Triumph spricht, ist Elizabeth Hawley, Chronistin mehrerer Himalaya-Touren. Deren Urteil über die plötzlich weltberühmte Japanerin: „Sehr bescheiden… keine großartige Bergsteigerin im Sinne von technisch anspruchsvollen Expeditionen, aber eine gute und vor allem eine entschlossene.“
In den Folgejahren klettert Tabei weiter. Jedes Weihnachten versendet sie Grußkarten, auch an Elizabeth Hawley, und listet darin auf, welche Berge sie in den zurückliegenden zwölf Monaten bestiegen hat. 1992 erringt Junko Tabei einen neuen Rekord: Als erste Frau schafft sie es, die höchsten Gipfel aller sieben Erdteile zu bezwingen, die „Seven Summits“, darunter der Kilimanjaro und der Mount McKinley in Alaska.
Heute ist Junko Tabei 75 Jahre alt, und längst weiß sie, dass ihr Lebensziel unerreicht bleiben wird. In jedem Land der Welt wollte sie den höchsten Berg erklimmen. Ewa 60 davon hat sie abgehakt. Außerdem hat sie den „Japanischen Himalaya-Abenteuer-Fonds“ gegründet, eine private Organisation zum Schutz des Gebirges. Der explodierte Tourismus, die massenhaft zurückgelassenen leeren Sauerstoffflaschen, Kanister, kaputte Zelte, dagegen will sie kämpfen.
Ginge es nach Junko Tabei, dürfte die nepalesische Regierung nur noch zwei bis drei Teams pro Saison zulassen. Der Everest sei zu voll geworden, sagt sie. Er brauche jetzt eine Pause.
Isabel Stettin
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