Rückblick: Silvester am Brandenburger Tor: Jagd nach der Million
Jahreswechsel in der Hauptstadt heißt auch: die große Sehnsucht nach immer neuen Rekord-Partys. Zu Silvester streckten die Berliner immer wieder nach der magischen Grenze von einer Million Besuchern am Brandenburger Tor. Dabei hatte die Fete vor 20 Jahren ganz bescheiden begonnnen: 1994 kamen gerade tausend Menschen.
Man kann sich ja mal irren. „ Doch auch in diesem Jahr bestätigte sich die alte Erfahrung“, schrieb der Tagesspiegel am 2. Januar 1995, „Berliner feiern Silvester am liebsten zu Hause mit Freunden.“ Da waren zur ersten regulären Silvesterparty am Brandenburger Tor im Dauerregen schätzungsweise tausend Menschen gekommen.
Doch in einer Stadt wie Berlin sind alte Erfahrungen eben nichts wert, das zeigte sich nach und nach; heute ist die Party am Tor eine der weltgrößten – auch wenn sich die Besucher einer exakten Zählung naturgemäß widersetzen. Eberhard Diepgen munterte die Stadt schon am Neujahrsmorgen 1995 mit goldenen Worten auf: „Wir wollen eine Metropole werden, ohne aber jeden negativen Aspekt einer solchen zu übernehmen.“ Was ja partymäßig auch gelang. Die nächste Feier Silvester 1995 stand bei zehn Grad minus wettermäßig erneut unter einem schlechten Stern, doch dieser Mangel wurde mangels Sicherheitsmaßnahmen weggeballert, quer durch die Menschenmenge.
Der Tagesspiegel- Reporter ortete Touristen aus Texas und Kalifornien, das Bühnen-Entertainment hingegen hatte Berliner Wurzeln: Moderator Andreas Dorfmann und der Brachial-Unterhalter Frank Zander trumpften auf. Über die Zuschauerzahl ist nichts Genaues überliefert.
Geballer quer durch die Menschenmengen
Dann ging es richtig bergauf. 50 000 Besucher 1996, 100 000 im Jahr darauf – und erste Anzeichen beginnenden Größenwahns: „Behauptungen im Fernsehen, es seien eine Million gewesen, erwiesen sich als stark übertrieben“, kritisierte der Tagesspiegel. Zumal der Direktvergleich zu Ungunsten der werdenden Metropole ausfiel: Jeweils mehr als eine halbe Million Menschen bevölkerten die Champs-Elysées in Paris, den Times Square in New York und Wiens Straßen.
Allerdings wurde im Gedrängel nun die Notwendigkeit eines Sicherheitskonzepts deutlicher, denn das Geballer quer durch die Menschenmengen nahm langsam gefährliche Formen an. Konsequenz: Im Jahr 1998 wurde der Pariser Platz eingezäunt und nur für 250 000 Menschen freigegeben. Alles in allem kamen auf beiden Seiten des Tors dann etwa 400 000 Feierlustige zusammen.
Mit Modern Talking und den Puhdys
Dann kam natürlich die Milenniumsfête, und da gab sich Berlin mit derart kleinkarierten Zahlen nicht mehr zufrieden. Das Jahr 2000 war zu begrüßen, und insofern ist es geradezu zwangsläufig, dass nun erstmals die Zahl von zwei Millionen Menschen genannt wurde. Sie ließe sich zwar weder verifizieren noch widerlegen, aber kam es darauf an? Das Musikprogramm hatte die Niederungen der Berliner Provinz weit hinter sich gelassen, war aber immer noch geeignet, das Blut feinsinniger Feuilletonisten gefrieren zu lassen: Modern Talking und die Puhdys fluteten die Festmeile mit ihrem bekannten Liedgut, und das Megafeuerwerk wurde umschmeichelt von den Klangwolken Mike Oldfields. Nur der dichte Nebel dämpfte die ganz großen Gefühle.
Weltniveau à la Jürgen Drews und Olaf Henning
Silvester 2000 ging es dann doch ruhiger zu, man einigte sich auf eine runde Million Besucher. Ein Jahr später gab es wieder was zu feiern, nämlich die Einführung des Euro, die musikalisch wiederum von den Puhdys und Frank Zander umrahmt wurde. Und man versuchte entschlossener, die Knallerei in den Griff zu bekommen und richtete in sicherem Abstand „Abbrennplätze“ ein. Dann ging es weiter, mal so, mal so. Dass 2004/05 nur etwa 700 000 Menschen kamen, galt als leichter Rückschlag.
Aber es kam noch dicker, als die Feier 2009/10 im Schneegestöber in eine lebensgefährliche Krise rutschte: Nur 210 000 Besucher? Die Schuld wurde bei den Unterhaltungskünstlern Jürgen Drews und Olaf Henning gesucht, die jegliches Weltniveau weit verfehlten. Ein Jahr später war die Musik besser, aber es kamen auch nur 180 000 Leute.
Seitdem heißt es allgemein nur noch distanziert: „Hunderttausende feierten ausgelassen am Brandenburger Tor.“ So oder so: Die alte Erfahrung, dass die Berliner Silvester am liebsten zu Hause bleiben, hat sich erledigt.
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