Englands südlichste Inseln: Inspector Barnaby und der Fall Jersey
Hunderte Bunker aus Beton säumen die Küsten, Zeugnisse der bewegten Geschichte der Kanalinseln zwischen England und Frankreich. Auf Spurensuche mit dem britischen Schauspieler John Nettles.
Es riecht nach Sonnenmilch. Was seltsam ist, denn der Duft steigt aus der Heide auf. Tatsächlich ist es der Ginster. Er riecht wie ein gut eingecremter Körper am Strand. Links und rechts des schmalen Pfades breiten sich die Sträucher aus, quittengelb, bis runter zur Klippe. Rechts taucht die Ruine von Grosnez Castle auf, ein Spitzbogen, der malerisch den ultramarinblauen Himmel rahmt. John Nettles läuft weiter, würdigt die mittelalterlichen Mauerreste kaum eines Blickes.
John Nettles? Der ist auch in Deutschland besser bekannt als Fernseh-Inspector Barnaby. Jetzt zieht es ihn zum „Marinepeilstand Nummer drei“: Betongrau ragt der Turm mit dem deutschen Namen schließlich sieben Etagen hoch am Rand der Klippe auf, wie der letzte Zahn in einem ansonsten leeren Kiefer.
Davor liegt keine Leiche, flattert kein gelb-schwarzes Absperrband. Dies hier ist nicht das Set für eine Folge von „Midsomer Murders“, wie die Fernsehserie „Inspector Barnaby“ in England hieß. Tatsächlich hat sich Nettles als TV-Inspektor 2012 zur Ruhe gesetzt, wenngleich in Deutschland immer noch jeden Sonntag im ZDF Wiederholungen laufen. Der inzwischen 72-jährige Brite, der ursprünglich Geschichte studiert hat, erforscht seit seiner Pensionierung die Vergangenheit der fünf englischen Kanalinseln.
Hobbyforscher öffneten die zugemauerten Bunker
Von 1940 bis zum Kriegsende standen die als einzige Flecken englischen Bodens unter deutscher Besatzung. Was Briten und Insulanern bis heute keine Ruhe lässt. Und ihnen insgesamt 800 deutsche Bunker bescherte. Nach Kriegsende wurden sie alle zugemauert, sprengen wäre viel zu teuer gewesen. Für Jahrzehnte blieben sie sich selbst überlassen. Bis sie von den Hobbyforschern der Channel Islands Occupation Society einer nach dem anderen wiederentdeckt wurden und heute Museen sind, wenn sich keine andere Verwendung für sie fand.
So erging es etwa Marinepeilstand Nummer zwei, der Betonbruder drüben bei La Corbière, von wo aus man den vielleicht schönsten Blick auf die Sonnenuntergänge über dem hier offenen Atlantik hat. Dort wurde der Turm zur Ferienwohnung umgerüstet, mit gläsernem Penthouse obendrauf. Marinepeilstand Nummer drei wurde hingegen von der örtlichen Motorradgang lange als Partylocation genutzt. Heute führen die Leute von der Occupation Society durch die Anlage. Und erfreuen sich daran, wie gut erhalten alles ist. Einschließlich einer Wandmalerei, ein gelangweilter Wachtposten hatte den Unterstand einst mit floralen Mustern verziert.
Die Straßenschilder sind auf Französisch
Wie aber kommt John Nettles auf die Insel Jersey? War doch die fiktive mittelenglische Grafschaft Midsomer, in der Barnaby seine skurrilen Mordfälle löste, so britisch wie Cream Tea und Gurkensandwich. Jersey hingegen ist irgendwie unabhängig von Großbritannien, gehörte schon vor dem Brexit-Referendum nicht zur Europäischen Union. Die Inseln sind Kronbesitz. Der politische Status ist so kompliziert wie der Stammbaum der Windsors, deren Queen formal Insel-Oberhaupt ist. Davon abgesehen sind die Straßenschilder hier alle auf Französisch. Und Palmen gibt es auch.
Deshalb also ist Jersey gar nicht wirklich Englands südlichste Insel, sondern auch ein bisschen Frankreich. Gesprochen wird allerdings ausschließlich Englisch, was den acht mal 15 Kilometer kleinen Flecken im Meer zu einem interessanten Ziel für Frankreich-Liebhaber macht, die leider kein Französisch können.
Das einzige besetzte Stück England im Zweiten Weltkrieg
Bevor Nettles den stets korrekten Barnaby gab, drehte er bereits in den 80ern auf Jersey als Detective Sergeant Jim Bergerac. Damals mit Lederjacke und im burgunderfarbenen Triumph Cabrio. Ein geschiedener, trockener Alkoholiker, also nicht ganz so brav wie der treue Barnaby, den Nettles beim Bier in St. Aubins Old Court House als „menschgewordenes Verhütungsmittel“ bezeichnet. Irgendwann während der Dreharbeiten für den schneidigen „Bergerac“ also stand Nettles auf einem Bunker und fragte sich, was ist das da unter mir? Sein Forscherdrang war geweckt, dem er seit seinem Serien-Abschied nachgehen kann. Zumal seine Tochter und die beiden Enkel auf der Insel leben. Sie ist hier die Datenschutzbeauftragte, in einem Steuerparadies wie Jersey eine Schlüsselposition.
Nettles forschte vier Jahre lang, heraus kam erst eine dreiteilige Fernsehdokumentation und dann ein Buch, das auch auf Deutsch vorliegt, unter dem Titel „Hitlers Inselwahn“.
Die Briten, sagt Nettles, hielten die Inseln seinerzeit für militärisch bedeutungslos und nicht zu verteidigen, nachdem die Deutschen 1940 an der nur 14 Kilometer entfernten französischen Küste aufgetaucht waren.
Die Deutschen stellten auf Rechtsverkehr um
Tausende verließen darauf die Inseln, um in England als Flüchtlinge zu leben. Noch mehr entschieden sich zu bleiben und eine ungewisse Zeit unter deutscher Besatzung hinzunehmen. Es folgte, was Nettles „Inselwahn“ nennt. Froh über den Propagandawert, tatsächlich ein Stück England erobert zu haben, wurden die Inseln mit unglaublich viel Beton und bis zu 26 000 deutschen Soldaten in eine Festung verwandelt. Die französischen Straßenschilder wurden durch solche auf Deutsch ersetzt, im Kino in der Hauptstadt St. Helier liefen fortan keine englischen Filme mehr, sondern solche aus Babelsberg. Und auf den Straßen wurde von Links- auf Rechtsverkehr umgestellt.
Die Insulaner nahmen sogar das vergleichsweise gelassen hin, denn die Deutschen waren noch auf eine weitere Strategie verfallen. Statt wie in Polen und später in Russland sengend und mordend einzufallen, galt hier die Devise, sich so anständig wie möglich zu verhalten. Schon um die Engländer zu beeindrucken, die das ja auf ihrer Insel drüben irgendwie mitkriegen mussten.
Und weil der Krieg getreu dem alten John-Cleese-Gag „Don’t mention the war“ in Großbritannien immer noch ein Riesenthema ist, gilt auf Jersey noch viel mehr: „Mention the war!“ Sie reden gern darüber, erst recht mit Deutschen. Anlässe gibt es genug.
Im Wetland Centre zum Beispiel, einem Informationszentrum am Rande eines Feuchtgebietes an der Westküste, wo sie stolz sind auf die vielfältige Vogelwelt und zehntausende Orchideen. Eben hat Nettles noch die fliegende Rohrweihe durch eines der Schießscharten-ähnlichen Fenster beobachtet. Einen Gang weiter stehen wir schon wieder in einem Bunker, der aussieht wie gerade erst geräumt. Nettles ist begeistert: Sogar die Dichtung der Gasschutztür ist nach 70 Jahren noch erhalten.
Der beliebteste Surfer-Treffpunkt
Ein paar hundert Meter weiter liegt der Strand von St. Ouen, in seiner Weitläufigkeit und mit seinem feinen, hellen Sand einer, wenn nicht der schönste Strand der Insel, wegen seiner heranrollenden Atlantikwellen gleichzeitig beliebtester Surfer-Treffpunkt auf Jersey. Die Surfer versammeln sich im „Watersplash“ – Diner, Strandbar und Nightclub zugleich. Die Feinschmecker zieht es zum nördlichen Ende, zu „Faulkner Fisheries“.
Dort hält Sean Faulkner Hummer, Krebse und Austern in immer kalten Wasserbecken. Faulkner, ein knorriger 62-Jähriger, ruderte schon mit zehn im eigenen Boot zum Fischen, als Erwachsener war er Proviantmeister auf dem Passagierschiff „Canberra“ im Liniendienst nach Australien. Weil ihm aber schon als Kind aufgefallen war, dass er seine besten Fänge in dunklen Höhlen machte, kehrte er zurück, pachtete den Bunker am Nordrand der Bucht und flutete ihn mit Atlantikwasser für seine Schalentiere. Essen kann man sie gleich hier, auf primitiven Holzbänken, eher Imbiss als Restaurant, mit Blick auf die Bucht. „Sehen Sie die Betonmauer?“, fragt Faulkner, der Wall zieht sich die gesamte Strandstraße entlang. „Von den Deutschen gegen anlandende Panzer errichtet.“ Heute ist die Mauer ein Bollwerk gegen die Flut.
Der größte Bunker verbirgt sich im Landesinneren in einer weitverzweigten Tunnelanlage, den „Jersey War Tunnels“. Die Anlage ist heute Museum. Natürlich gibt es jede Menge Uniformen, sogar einen Panzer, aber auch liebevoll arrangierte Wohnzimmer der späten 1930er Jahre. Nicht unsympathische junge Männer, Schauspieler im Alter der Soldaten damals, sprechen die Besucher per Videobotschaft an, ihr Akzent weist sie als Deutsche aus. Unter den Bildschirmen stehen Botschaften wie: „Er hat selber Kinder und vermisst sie. Würdest du ihn für deine Kinder ein Eis kaufen lassen?“
Mit seinem Buch hat sich Nettles nicht nur Freunde gemacht
Die Ausstellung spart nichts aus, weder die Inselbewohner, die ihre Landsleute denunzierten, weil sie ein verbotenes Radio besaßen, noch die Mädchen, die sich mit deutschen Soldaten einließen, noch die furchtbare Lage der Zwangsarbeiter, die aus ganz Europa hierhergeschafft wurden, um all diese Bunker zu errichten. Denn auch unter den so sympathisch auftretenden Deutschen waren Nazis, auch hier wurden irgendwann Juden deportiert. Weil es nur zehn gab, von denen drei in Auschwitz ermordet wurden, kriegte das aber nicht jeder mit.
Widerstand regte sich kaum auf den überschaubaren Inseln. Wo hätte er sich auch verstecken sollen? Stattdessen fühlten sich manche Insulaner ihrerseits von den britischen Vettern erst im Stich gelassen. Um dann zugucken zu müssen, wie die alliierte Invasionsflotte1944 an ihnen vorbei die normannischen Strände stürmte. Die Insel sollte fortan gemeinsam mit den deutschen Besatzern einfach ausgehungert werden.
Hatten die Insulaner zu sehr kollaboriert?
Nach dem Krieg wurde eine Einheit des britischen Geheimdienstes entsandt, Untersuchungen darüber anzustellen, ob Bürger Jerseys vielleicht ein wenig zu sehr mit dem Feind kollaboriert hatten. Was vollkommen unbritisch wäre. Weshalb man es dann lieber doch nicht so genau wissen wollte, einfach die deutschen Schilder abnahm, den Linksverkehr wieder einführte und die Bunker zumauerte.
Mit seinem Buch in dieser Gemengelage herumzurühren, hat John Nettles nicht nur Freunde eingebracht. Und es gibt Stimmen, die lieber andere Vorzüge der Insel hervorheben würden.
Etwa Jersey als Steuerparadies?
Vielen Insulanern geht dieses Theater, das sich hinter den Stahl- und Glasfassaden des kleinen Businessbezirks der Inselhauptstadt St. Helier abspielt, ebenfalls auf die Nerven. Paul Bisson zum Beispiel, der mit „Marigold Dark“ einen ziemlich schwarzhumorigen Krimi über durchgedrehte Investoren und alkoholkranke Jerseyaner geschrieben hat. Natürlich verdankt die Insel ihren Nachkriegsaufstieg dunklen Kapitalflüssen. Und sie profitiert noch davon. Immerhin leistet sich die Insel ein ausgezeichnetes Bussystem, das einen auch noch zu später Stunde nach Hause bringt. Aber das fremde Geld habe auch die Preise für Grund und Boden auf Londoner Niveau getrieben, sagt Bisson. Das mache es vielen Inselbewohnern schwer, hierzubleiben.
Lieber spricht man über Black Butter
Weshalb man sich gern an die Zeit erinnert, als Jerseys Wirtschaft noch gleichgewichtig auf drei Säulen stand, neben der Finanzindustrie waren das Landwirtschaft und Tourismus.
Und über kurz oder lang landen die Gespräche bei Kartoffeln, den kleinen Jersey Royals. Oder bei Äpfeln, die im Oktober zum großen Ereignis werden, wenn alle zusammenkommen und sie gemeinsam verrühren, um daraus Black Butter zu machen, einen mit Lakritz gefärbten und gewürzten Aufstrich, auf den sie mindestens genauso stolz sind. Über den hübschen Botanischen Garten, den sie hier haben, drüben im Inselosten in Samares Manor. Oder über ein leibhaftiges Weingut, davon gibt es ja nicht viele auf den britischen Inseln.
Prima, aber all das hätte niemals John Nettles’ alias Inspector Barnabys Interesse geweckt. Dazu musste er erst auf einem Bunker stehen. Übrigens sitzt er am Nachfolgebuch. Wieder geht es um Jersey, selbstverständlich im Krieg.
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