Wissenschaftliche Selbstversuche: Ins eigene Fleisch
Einer schiebt sich Schläuche in die Vene, der andere schluckt Bakterien. Forscher wollen ihre Theorien beweisen – manche mit allen Mitteln.
Der elektrisierte Naturforscher: Alexander von Humboldt (1769 – 1859)
Ob Alexander von Humboldt wohl nervös ist, als er dort im Hörsaal in Jena steht? Unter den Zuschauern des jungen Forschers befinden sich an diesem Tag im April 1795 prominente Gäste, Johann Wolfgang von Goethe sowie der Herzog Carl August von Weimar, auch Humboldts älterer Bruder Wilhelm ist gekommen. Alexander spricht über seine Forschungen zum Galvanismus. Etwa 15 Jahre zuvor hat der italienische Wissenschaftler Luigi Galvani entdeckt, dass Muskeln sich durch elektrischen Strom zusammenziehen, womit er das Lebensbild der damaligen Zeit ins Wanken bringt.
Ist man im 16. Jahrhundert noch davon ausgegangen, dass die „anima“, die Seele, den Menschen bewegt, so bezeugen Galvanis Experimente das Gegenteil. Die tierischen Muskelfasern zucken, wenn er zwei unterschiedliche Metallstücke daranhält. Alexander von Humboldt will noch mehr erfahren. 1792 hat er zum ersten Mal in Wien von Galvanis Versuchen gehört und beginnt, seine eigenen Experimente durchzuführen. Dabei nutzt er seinen Körper als Versuchsobjekt, wie viele Forscher in der Geschichte der Wissenschaft: von Robert Koch über Marie Curie bis zu Sigmund Freud. Humboldt klebt sich Cantharidenpflaster auf die Schultern – deren Wirkstoff bildet Blasen auf der Haut –, sticht die mit Flüssigkeit gefüllten Beulen auf. Er experimentiert mit verschiedenen Metallen in den Wunden, auch in ähnlichen Verletzungen an der Hand und im Mund. Und schafft es nicht, das Phänomen ganz zu erklären.
Als 1796 seine Mutter stirbt und der 27-Jährige ein Vermögen erbt, bricht er auf zu seinen Forschungsreisen durch die ganze Welt. Die Experimente zum Galvanismus betreibt er dort weiter, sie stehen jedoch nicht mehr im Fokus. Die Forschung übernehmen nun andere. Der Mediziner Emil du Bois-Reymond experimentiert mit der elektrochemischen Signalübertragung im Nervensystem und begründet rund 50 Jahre später den Fachbereich Elektrophysiologie. Alexander von Humboldt fördert den jungen Wissenschaftler, er sieht dessen Forschungen als die Weiterführung seiner Arbeit.
Der lachende Chemiker: Humphry Davy (1778 – 1829)
Davy habe ein Vergnügen gefunden, für das es noch keine Worte gebe, schreibt der englische Dichter Robert Southey im April 1799 an seinen Bruder. „Es brachte mich zum Lachen und kitzelte in jedem Zeh und jeder Fingerspitze.“ Sein Freund, der Chemiker Humphry Davy, hat in den Wochen zuvor mit der Wirkung von Distickstoffmonoxid, besser bekannt als Lachgas, experimentiert. Nachdem er das Gas an sich selbst mehrfach getestet hat, bietet er es auch seinen Freunden an, die begeistert von dessen Wirkung sind. Am Abend treffen sich am pneumatischen Institut in Bristol nun Ärzte, Patienten, Dramatiker und Poeten der Zeit, um aneinander und an sich selbst zu experimentieren. Humphry Davy ist der Zeremonienmeister dieser Treffen. Die Versuche beginnen mit medizinischer Intention, immer öfter schweifen sie jedoch ab zu Gedanken über die Grenzen der Sprache. Davy selbst inhaliert während seiner eigenen Studien teilweise bis zu vier Mal am Tag Lachgas und dokumentiert die genaue Dosierung und anschließende Effekte. So entdeckt er die betäubende Wirkung und empfiehlt deswegen Distickstoffmonoxid in Operationen als Narkosemittel einzusetzen. Doch niemand nimmt ihn ernst, Lachgas gilt als Partydroge und hat in der Medizin nichts zu suchen. Davy wendet sich neuen Themen zu und wird 1802 Professor für Chemie an der Royal Institution in London. Erst 39 Jahre nach seinem Tod setzt man Lachgas als Anästhetikum bei klinischen Operationen ein. Noch heute nutzen Zahnärzte das fröhlich machende Gas bei Patienten, die große Angst vor einer Behandlung haben.
Der sensible Mediziner: Hendry Head (1861 – 1940)
Ein Selbstversuch am eigenen Penis? Klar, sagt sich der englische Arzt Henry Head. Er sucht nach einer Körperregion, die zwar Druck und Schmerzen erkennt, aber sanfte Berührungen nicht wahrnimmt – auf seinen Penis trifft beides zu. Taucht er die Spitze gerade so weit in 40 Grad heißes Wasser ein, dass die betroffene Hautpartie es berührt, empfindet er Schmerz. Ist die Eichel von Wasser umgeben, weicht der Schmerz und verwandelt sich in ein angenehmes Gefühl der Wärme. Head erforscht Ende des 19. Jahrhunderts die überempfindlichen Hautzonen bei verschiedenen Organerkrankungen. Weil er unzufrieden mit den ungenauen Antworten seiner Patienten ist, macht er sich selbst zum Versuchsobjekt. Und nicht nur seinen Penis. Er lässt sich einige Nervenbahnen in seiner linken Hand durchtrennen und dokumentiert genau, in welchen Bereichen der Hand und des Arms er nichts mehr spüren kann. Glücklicherweise kehrt sein Gefühl nach zwölf Wochen zurück. All diese Erkenntnisse helfen Head, die Sinnesübertragungen im menschlichen Körper besser zu verstehen, die er in seiner Doktorarbeit an der Universität in Cambridge 1892 veröffentlicht. Nach seiner großen Entdeckung forscht Henry Head weiter als Neurologe, unterbrochen wird er durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Als er nach dessen Ende der erste Professor für Medizin am Royal London Hospital werden soll, ist es für ihn zu spät. Head hat Parkinson, keiner erkennt das wohl besser als er selbst. 1919 kündigt er seinen Job im Krankenhaus. Was bleibt, ist sein Name. Die Head’schen Zonen beschreiben bestimmte Hautareale, die über Nerven mit inneren Organen verbunden sind und deswegen schmerzen, wenn das Organ erkrankt, wie etwa Schmerzen im linken Arm auf eine Erkrankung des Herzens hinweisen.
„Ich habe mich noch nie so großartig gefühlt“
Der beherzte Nobelpreisträger: Werner Forßmann (1904 – 1979)
Eigentlich hat der junge Berliner ja Kaufmann werden wollen, entscheidet sich auf Rat seines Lehrers aber doch für das Medizinstudium. Werner Forßmann arbeitet 1929 als Assistenzarzt in einem Klinikum in Eberswalde, da entwickelt er die Idee, mit einem Katheter zum schlagenden Herzen vorzudringen, um es so untersuchen und operieren zu können. Denn bisher gibt es wenige Möglichkeiten, Krankheiten am Herzen zu erkennen. Der französische Tierarzt Auguste Chauveau hat die Methode bereits an Pferden getestet. Doch sein Chef untersagt ihm, solch einen Eingriff vorzunehmen. Viel zu gefährlich, heißt es. Kurzerhand entschließt sich Forßmann, den Versuch an sich selbst durchzuführen und schiebt sich mithilfe einer OP-Schwester einen 60 Zentimeter langen Plastikschlauch in die Armvene; den Erfolg dokumentiert er mit einem Röntgenbild. Damit kann er beweisen, dass ein Herzkatheter vollkommen ungefährlich ist, doch sein Mut kostet ihn den Job. So bahnbrechend seine Entdeckung ist, so wenig Beachtung findet sie in der Fachwelt. Nur die Boulevardpresse zeigt sich interessiert. 1932 tritt Forßmann in die NSDAP ein, im Zweiten Weltkrieg dient er als Sanitätsoffizier, bekommt nach Kriegsende ein dreijähriges Berufsverbot, weil er Parteimitglied war. In Bad Kreuznach, in der Nähe von Mainz, erhält er dann am 18. Oktober 1956 den Anruf aus Stockholm, der ihm endlich den lang ersehnten Ruhm einbringen wird. Für seine Forschung zum Herzkatheter erhält Forßmann den Nobelpreis für Medizin, gemeinsam mit den Amerikanern André Frédéric Cournand und Dickinson Woodruff Richards. Trotz dieser höchsten Auszeichnung sehen Mediziner den Versuch heute noch kritisch. Sie werfen Forßmann mangelnde Vorbereitung vor.
Der zugedröhnte Drogenberater: Alexander Shulgin (1925 – 2014)
Ein Student weist Alexander Shulgin 1976 auf die Substanz hin, die ihn später berühmt machen wird. Der Chemiker unterrichtet an der San Francisco State University und arbeitet als Berater für die „Drug Enforcement Administration“, kurz DEA, die sich um die Strafverfolgung von Leuten kümmert, die verbotene Substanzen herstellen. Seine Aufgabe: Er testet die meist psychedelischen Substanzen – an sich selbst. Schon, als er noch Forschungschemiker bei dem amerikanischen Konzern Dow Chemicals ist, betreibt er die Selbstversuche – damals bloß nebenbei. Doch als er ein recht profitables Insektizid entdeckt, räumt die Firma ihm Freiheiten ein.
Shulgin probiert mehr und mehr Substanzen. Für ihn sind diese Stoffe Fremde, die er kennenlernen möchte. Seine Selbstversuche laufen nach klaren Regeln ab. Er startet mit einer winzigen Dosis und arbeitet sich langsam nach oben, bis er die Wirkung spürt. Irgendwann wird es Dow Chemicals zu wild. Und Shulgin macht in seinem privaten Labor weiter. So kommt er als Berater zur DEA und als Dozent an die Universitäten von San Francisco. Der Stoff, den sein Student vorschlägt, ist nicht neu. 1913 hat ihn die Firma Merck bereits in Deutschland entdeckt. Doch bisher ist er kaum in der Chemiewelt aufgetaucht. 3,4-Methylendioxy-N-methylamphetamin heißt die Substanz, die Shulgin daraufhin in einem eigenen Verfahren synthetisiert und an sich testet – besser bekannt als MDMA. „Ich fühle mich in meinem Innern absolut rein. Da ist nichts außer pure Euphorie; ich habe mich noch nie so großartig gefühlt“, schreibt Shulgin in sein Notizbuch.
Er berichtet befreundeten Psychotherapeuten von der Wirkung, die setzen den Stoff in ihren Therapien ein – mit guten Erfolgen. Und dann passiert das, was auch der Entdecker von LSD, Albert Hofmann, erlebte. Die Substanz wird nicht nur in Sitzungen mit Therapeuten konsumiert. Denn die Rave-Bewegung entdeckt die Wirkung von MDMA und beginnt es, gemischt mit anderen Substanzen, unter dem Namen Ecstasy zu konsumieren. Wie bei Hofmanns LSD wird die Droge verboten, 1985 in den USA, ein Jahr später zieht Deutschland nach. Alexander Shulgin nennt MDMA ein „Fenster zur Psyche“. Während seiner Arbeit mit Therapeuten lernt der Wissenschaftler seine spätere Frau Ann kennen. Sie macht bei den Forschungen mit. Wenn er die Wirkung, die er erlebt, interessant findet, testet sie die Stoffe. Gemeinsam entdecken die beiden mehr als 300 psychedelische Substanzen.
Der Trinkfreudige Arzt: Barry Marshall (*1951)
Es glaubt ihnen einfach keiner. Der australische Arzt Barry Marshall und sein Kollege Robin Warren haben alles genau in Studien dokumentiert, die Bakterien, den Befall. Und trotzdem belächeln die Ärzte auf Fachkongressen die beiden, wenn sie behaupten, dass eine Magenschleimhautentzündung von dem Bakterium „Helicobacter pylori“ ausgelöst wird. Im Magen überlebt kein Bakterium, heißt es, und damit ist Warrens und Marshalls Idee vom Tisch. Das kann es nicht gewesen sein, beschließen die beiden und entscheiden sich für ein besonderes Experiment. Im Juli 1984 lässt sich Marshall eine Gewebeprobe aus seinem Magen entnehmen. Er will überprüfen, ob sein Magen bereits von den Bakterien befallen ist. Nur dann könnte der Selbstversuch Sinn ergeben. Sein Magen ist sauber. An einem Julimorgen geht Marshall ins Labor, wäscht „Heliobacter pylori“ von einer Kulturschale ab, löst sie auf und verdünnt die Brühe. Etwa 1000 Millionen Keime schluckt er. Dabei muss er sich die Nase zuhalten, das Gemisch riecht eklig. Dann heißt es warten. Wenn ihre Forschungsergebnisse stimmen, müsste Marshall innerhalb weniger Tage krank werden. Fünf Tage später ist es so weit: Schweißausbrüche, Übelkeit, Erbrechen. Diagnose: Gastritis. Marshall bekommt Antibiotika, nach 14 Tagen ist er wieder gesund. Und die Kollegen sind überzeugt. Es ist eine Revolution bei der Behandlung von Magenschleimhautentzündungen, viele Ärzte haben zuvor Stress, falsche Ernährung und die Psyche für die Leiden ihrer Patienten verantwortlich gemacht. 19 Jahre später ist Marshalls und Warrens Triumph vollkommen. Im Jahr 2005 werden sie mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet.
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