Farbe des Jahres 2016: Im Malstrom der Zeiten
Rosa und Blassblau sind die Farben des Jahres 2016. Eine Trotzreaktion auf Krieg und Terror soll das sein. Wie man solche Trends aufspürt – und warum bald überall Klamotten und Möbel in diesen Pastelltönen verkauft werden.
Abrutschende Eisberge, Tränengas, marschierende Soldaten, dazu Trommeln, flackernde Handys, schubsende Jugendliche, mehr Trommeln, Facebook-Daumen, Geldscheine, noch mehr Trommeln … immer schneller, immer hektischer, bis einen das alles auslöschende Rauschen des flirrenden Testbildes von der Bilderflut erlöst. Diagnose: Kollaps durch Reizüberflutung.
So war das Jahr 2015 – wenn man der US-amerikanischen Firma Pantone glaubt, die den kurzen Clip gedreht hat. Das Heilmittel liefert sie allerdings gleich mit: Farbtherapie.
Der Lärm und das Chaos von Ukrainekrise und Alltagsstress, von Klassenkampf und Gruppendruck wird in dem Film abgelöst von New-Age-Meditationsmusik und in Zartrosa und Babyblau zerfließende Bilderwelten ... genau den zwei Farben, die Pantone als Farben des Jahres 2016 ausgerufen hat.
Seit 2000 veranstaltet der Vermarkter von Farben und Hersteller der gleichnamigen Fächer, die als der weltweite Standard für die Identifikation von Farbschattierungen dienen, diese Kür. Angefangen hat es mit Hellblau („Cerulean“), 2013 war ein Jahr in Blassgrün („Emerald“), 2014 in Lila („Radiant Orchid“).
Blasse Farben als Gegenmittel
Diesmal sind es erstmals zwei Farben: Pantone 13-1520 „Rose Quartz“ (Rosenquarz) und Pantone 15-3919 „Serenity“ (Klarheit/Gleichmut). Vulgo: Blassrosa und Sanftblau.
„Da die Verbraucher Achtsamkeit und Wohlbefinden als Gegenmittel gegen die modernen Belastungen suchen, stehen einladende Farben, die psychologisch unsere Sehnsucht nach Beruhigung und Sicherheit erfüllen, immer mehr im Vordergrund“, begründet die in New Jersey beheimatete Firma ihre Wahl.
„Serenity und Rose Quartz zeigen zusammen eine inhärente Ausgewogenheit zwischen einem wärmeren umfassenden Rosé-Farbton und dem kühleren ruhigen Blau. Sie spiegeln sowohl Beziehung und Wohlbefinden als auch ein beruhigendes Gefühl von Ordnung und Frieden wider.“
Das mag sich lesen wie der Klappentext eines Rosamunde-Pilcher-Romans, aber an der Erklärung ist tatsächlich etwas dran.
Die Wirkung von Farben
Wer in Deutschland etwas über Farben wissen will, ruft am besten bei Axel Buether an. Buether lehrt an der Uni Wuppertal das Fach Visuelle Kommunikation und leitet das deutsche Farbenzentrum. Er erforscht unter anderem, welche Wirkungen Farben auf den Menschen haben und warum.
Manches dabei scheint erlernt, wenn Farben Entsprechungen in der Natur haben. „Blau ist ja nicht einfach irgendwas, sondern repräsentierte schon früh Meer und Himmel und damit Kühle und Weite“, erklärt er. Bei anderen Farben scheint die Reaktion eher evolutionär begründet.
„Rot ist beispielsweise eine Farbe, die unser Nervensystem aktiviert, der Puls beschleunigt sich, die Aufmerksamkeit wird geschärft.“ Das liegt wohl daran, dass Menschen früh gelernt haben, die Farbe mit Blut und Feuer oder auch Sex und Essen zu assoziieren. Alles wichtige Dinge, wenn es ums Überleben der Art geht. Über die Jahrtausende hat sich das in die Gene eingeschliffen.
Unbewusste Wahrnehmung
„Die Bewertung von Farben geschieht deshalb häufig außerhalb der bewussten Wahrnehmung“, erklärt Buether. Bevor die Farbinformationen im Großhirn angekommen sind, wir also „Farben sehen“, hat unser Kleinhirn schon diverse Analysen vorgenommen und Körperreaktionen veranlasst. „Das ist ähnlich wie mit einer lauten Hupe“, sagt Buether. „Man kann sich nicht weigern, sie wahrzunehmen.“
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Nun also „Serenity“ und „Rose Quartz“. Die Tendenz, sich in unsicheren Zeiten in eine heile Welt zu flüchten, sei ein oft zu beobachtender Vorgang, sagt der Experte. „In Kriegszeiten leben Komödien auf. Und wenn es bedrohlich wird, streben alle nach Familie, Ruhe und Frieden.“
Das gilt auch für Farben, denn für genau diese heile Welt stünden auch die von Pantone ausgewählten Töne, wobei der Name „Rosenquarz“ zusätzlich noch eine edle Komponente einschmuggle. Kein Wunder also, dass viele Engelkalender und Werbespots mit einer ähnlichen Palette arbeiten. Von Yogurette über Lenor bis Dove – Wattewelten in Pastell.
Wie Säuglinge
Was einem bei Blau und Rosa auch schnell in den Sinn kommt, ist natürlich Babykleidung. Ob das gesund ist, wenn sich erwachsene Menschen kleiden wie sie ihre Säuglinge anziehen? Pantone selbst interpretiert die stereotypen Mädchen/Jungs-Farben jedenfalls recht optimistisch als Kommentar zur beobachtbaren Aufhebung von Geschlechterdifferenzen in der Mode und damit als Beitrag zur Gleichberechtigung.
Das kann man glauben oder nicht, auf die Trends, die Pantone ausruft, kann man sich jedoch gewöhnlich verlassen. Doch so hellseherisch wie es den Anschein haben mag, ist das nicht. „Die Firma agiert eher als Detektor“, sagt Buether. Der Wahl zur Farbe des Jahres geht nämlich einiges an Marktforschung voraus. „Die wollen sich ja auch nicht blamieren.“
Anonymes Gremium
Bestimmt wird die Farbe von einem zehnköpfigen Team, dessen Mitglieder aber anonym bleiben sollen. Von der Pantone-Pressesprecherin ist lediglich zu erfahren, dass es sich unter anderem um Profis aus der Modebranche handelt, die sich überall auf der Welt auf Filmsets, auf Kunstmessen, auf den Schauen der Haute Couture oder auch einfach in Innenstädten umschauen, welche Farben gerade angesagt sind.
Ihre Erkenntnisse halten sie in sogenannten „mood boards“ fest, Paletten, die aus Stofffetzen, Schnappschüssen, ausgerissenen Anzeigen aus Modemagazinen bestehen können. Daraus wird unter der Aufsicht von Pantones Vorsitzender Direktorin Leatrice Eiseman eine Auswahl erstellt, aus der dann wiederum die Farbe des Jahres gewählt wird.
Damit hat die Kür der Farbe des Jahres etwas von einer sich bereits erfüllt habenden Prophezeiung, denn viele prägenden Entscheidungen für die kommende Mode-Saison sind ja längst gefallen, wenn Pantone seine Wahl kund tut.
Ähnlicher Ton
Das erklärt auch, warum J. D. Flügger, die Tochterfirma des Wandfarbenherstellers Brillux, am Ende ihrer Recherchen mit „Poudre“ ebenfalls einen Rosaton zu einer der Trendfarben des Jahres 2016 kührte.
Bleibt die Frage, warum die Pantone-Wahl die Welt bewegt und es J. D. Függer kaum zu einem Blogeintrag schafft? Das hat mit der Marktmacht der US-Firma zu tun, sagt Buether. Um diese zu verstehen, ist ein kleiner Exkurs in die Farbenlehre nötig: Das menschliche Auge hat Rezeptoren für drei Farben: Rot, Grün und Blau.
Zusammen mit den Informationen über die Beschaffenheit des Untergrundes oder die Beleuchtung können wir damit ein paar hundert Millionen Farbschattierungen sehen.
In der Praxis nicht zu machen
In der Praxis lassen sich aus den drei Grundfarben Magenta, Cyan und Gelb aber – anders, als im Kunstunterricht gerne gelehrt wird –, nicht all diese Töne mischen. Auch mit dem für den Vierfarb-Druck verwendeten CMYK-System geht das nicht.
1963 nun erfand der Pantone-Gründer Lawrence Herbert ein System zur Identifizierung und zum Vergleich von Farben – quasi eine große Farbdatenbank, die zu den berühmten Pantone-Fächern führte.
Nach der Firmengründung im selben Jahr machte Pantone allerdings noch zwei weitere kluge Dinge: Zum einen kreierte und katalogisierte die Firma eigene Töne, die sich nicht mit den Grundfarben mischen lassen, was weltweit die Designer aufhorchen ließ, die stets auf der Suche nach Schattierungen abseits des Standards sind.
300 Farben für ein Sofa
Was wiederum daran liegt, dass die Sensibilität der Menschen für Farben stetig zugenommen hat. „Vielen reicht es heute eben nicht mehr, dass ein Pullover blau ist, es muss auch genau das richtige Blau sein“, sagt Buether. Deshalb wachse die Palette der verfügbaren Farben ständig. „Und darum kann man, wenn man heute ein Sofa kauft, gerne mal aus 300 Farben wählen. Das war vor ein paar Jahren noch ganz anders.“
Zum anderen garantierte Pantone über ein weltweites Netz an Partnern, dass die eigenen Farben überall von Koblenz bis Kuala Lumpur identisch gedruckt werden können. „Andere große Farbsysteme wie RAL oder HKS können das nicht“, sagt Buether.
Teure Farben
Diesen Service lässt sich Pantone natürlich bezahlen. Wer „Serenity“ oder eine der anderen inzwischen 1745 patentierten Sonderfarben drucken will, muss die Rezeptur, sprich die benötigten Tinten beziehungsweise die Lizenz, kaufen.
Was das kostet, darüber hält man sich bei der Firma wie allgemein mit Zahlen bedeckt – offen einsehbar sind nur die gepfefferten Preise für das reichlich vorhandene Merchandising, das sich vom Design recht erfolgreich an den minimalistischen Chic von Apple anlehnt. Die Kaffeebecher mit aufgedruckter Farbkachel beispielsweise kosten je 14,90 Euro.
Es scheint genug Leute zu geben, die sie kaufen. Vor einigen Wochen verriet eine Sprecherin der Agentur Bloomberg, dass die Firma 2014 so stark gewachsen sei wie noch nie in ihrer Geschichte. Das im Hinterkopf, kann man die Entscheidung, in diesem Jahr gleich zwei Töne zur Farbe des Jahres zu bestimmen, auch als geschickten Schachzug zur Verdopplung des Geschäfts verstehen.
Kritik im letzten Jahr
Der Status, den Pantone in der Designwelt inne hat, bedeutet aber nicht, dass die Farbwahl jedes Jahr vorbehaltlos auf Zustimmung stößt. Als im Dezember 2014 „Marsala“ als Farbe des Jahres 2015 vorgestellt wurde, hagelte es harsche Kritik. Diverse Kommentatoren auf Designblogs posteten Hundehaufen-Icons, und auch das renommierte US-Magazin „The Atlantic“ zeigte sich wenig angetan.
Ein Artikel verglich die Farbe mit „Rost“, und zwar von jener „schmierigen würgereizhervorrufenden Art, die in den Ecken von Gemeinschafts-Badezimmern in Burschenschaftshäusern zu finden ist“.
Statt der Gourmet-Assoziationen von Marsala-Wein oder Granatapfel, wie von den Trendforschern besungen, beschwor das Magazin Visionen von roher Leber oder Hackbraten zweifelhafter Herkunft herauf. Ganz davon abgesehen, dass die Farbe in der Autoindustrie schon fast wieder durch war, nachdem es 2009 mal einen kleinen Boom gegeben hatte.
In der Mode schon angekommen
Recht behielt Pantone trotzdem. „Die Brauntöne waren 2015 fraglos sichtbar“, sagt Buether. Nicht nur in den Modekollektionen von Acne oder John Galliano, sondern auch im Bereich der Innenausstatter. Der britische Farbenhersteller Farrow and Ball beispielsweise stockte 2015 sein Angebot an Brauntönen nochmal deutlich auf, wie man aus den Fachgeschäften hört.
Für 2016 haben Labels wie J. W. Anderson, Saint Laurent oder Bottega Veneta die neu ausgerufenen Trendfarben bereits in ihren Kollektionen implementiert. Dass also auch bei H&M, Zara und Ikea schon bald die Rosa-Blaue Periode ausbrechen wird, dürfte folglich kaum noch zu verhindern sein.
Wer keine Lust auf den Einheits-Weichspül-Look hat, dem bleibt nur, Zuflucht bei kleineren Labels zu suchen, die sich bewusst dem Trend verweigern.
Oder er setzt seine Hoffnung darauf, dass Pantone dieses Jahr doch mal danebenliegt. Die niederländische Firma Akzo Nobel, in Deutschland wohl am besten durch ihre Marke Dulux bekannt, hat kürzlich nämlich auch eine Farbe des Jahres bestimmt. Ihr „Colour Futures“-Katalog, der seit 2004 regelmäßig herausgegeben wird, sieht 2016 in einem Ton, der nicht weiter entfernt von „Serenity“ und „Rose Quartz“ sein könnte: Goldocker.
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