Ingo Schulze im Interview: „Ich war ein ziemlich fauler Strick“
Urlaub? Braucht der Schriftsteller nicht. Seine Erholung sei das Gelingen. Ein Gespräch über Thüringen und Intellektuelle, die Kriege vorbereiten.
Ingo Schulze, 57, ist mit seinem neuen Roman „Die rechtschaffenen Mörder“ (S.Fischer) für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Den hatte er 2007 bereits für „Handy“ gewonnen. Bekannt wurde er 1995 mit dem Erzählband „33 Augenblicke des Glücks“, den er nach einem längeren Aufenthalt in Sankt Petersburg schrieb, sowie mit „Simple Storys“. Die spielen im thüringischen Altenburg, wo Schulze am Theater arbeitete und nach der Wende eine Zeitung herausgab.
Schulze, Sohn eines Physikers und einer Ärztin, wuchs bei seiner Mutter in Dresden auf. Heute lebt er mit seiner Frau und den beiden Töchtern in Berlin.
Das Gespräch findet in seiner Charlottenburger Wohnung statt.
Herr Schulze, Hanau und Thüringen, Coronavirus und Syrien – die Welt ist in einem schlimmen Zustand. Kann die Literatur sie retten?
Das kann ich nur als Leser beantworten: Mich rettet sie unentwegt. Es gibt Bücher, ohne die ich nicht leben möchte. Aus der Gegenwart, aber auch Euripides, Grimmelshausen, Ingeborg Bachmann ... Wie ist man mit den anderen verbunden, was will man auf dieser Erde? Dazu braucht es eine Geschichte. Aber mich als Autor hinzusetzen und zu denken, ich rette die Welt, das wäre lächerlich.
Was machen Geschichten mit Ihnen?
Es gibt diesen Aphorismus, dass die Leute sich nichts sagen lassen, aber alles erzählen. Solange man mir als Kind was erzählt hat, konnte man alles mit mir anstellen: Da war kein Spaziergang zu lang, ich ging sogar mit ins Museum. Meine Mutter hat Abenteuergeschichten erfunden, in denen jemand, der mir ähnelte, eine gute Rolle spielte. Ich liebe es, wenn jemand erzählt. Im Gespräch muss man sich oft für ein Argument, eine Position entscheiden, bei einer Story existiert das Widersprüchliche nebeneinander, gehört das Paradoxe dazu.
Ihre Mutter soll Ihnen bis 17 vorgelesen haben.
So schlimm war es nicht: immerhin bis 13. Ich war ein ziemlich fauler Strick, mir war es zu anstrengend, selbst zu lesen. Als ich damit begann, war es eine große Entdeckung: dass man sich nicht mehr langweilen muss. Man hat etwas, in das man eintaucht, und die Figuren treten in die eigene Welt ein. Meine kopernikanische Wende.
Ihr neuer Roman, „Die rechtschaffenen Mörder“, nominiert für den Leipziger Buchpreis, spielt in einem Antiquariat. Gehen Sie selber in welche?
Vor ein paar Tagen erst und ich fand es wunderbar. Plötzlich etwas zu finden, was man gar nicht gesucht hat, ist sehr beglückend. Es war die Erstausgabe einer späten Erzählung von Barlach, „Der gestohlene Mond“. Ich bin ab und zu auf Lesetour mit den Briefen des Künstlers, zusammen mit Charly Hübner und dem Herausgeber, Holger Helbig.
Verbindet Sie etwas mit dem 1938 verstorbenen Bildhauer?
Er ist mir sehr vertraut – der erste Künstler, den ich bewusst als solchen wahrgenommen habe. Mit 14 habe ich mir in den Herbstferien seine große Ausstellung in Dresden angeschaut. Eine Freundin meiner Mutter hatte mich mitgenommen. Ich bin zwei oder drei Tage später wieder hin, allein, zahlte Eintritt und kam mir sehr erwachsen vor.
Was hat Ihnen daran gefallen?
Der Wirkung von Barlach kann man sich kaum entziehen: dieses Wechselspiel von klarer, reduzierter Form und wenigen ausgearbeiteten Details, der Mund zum Beispiel oder die Hände. In dieser Verknappung liegt eine große Kunst. Barlach hat sich mal in einem Brief über die Künstler lustig gemacht, die es so mit dem Geheimen hätten, als wären sie „Anschließer einer Telegraphen-Agentur im Unergründlichen“. Er dagegen meinte, „der Mensch und seine Geste sagen genug“.
Es war auch eine Künstlerin, Gerda Lepke, eine Freundin Ihrer Mutter, die Ihnen das beigebracht haben soll, wofür Sie bekannt wurden: Sie gelten als großer Beschreiber von Banalitäten oder Alltäglichem, in dem viel zum Vorschein kommt.
Mit 16 besuchte ich sie in Mecklenburg, wo sie im Freien malte. Ich hatte gerade Kafka für mich entdeckt, wollte im Haus bleiben und schrieb furchtbares Zeug vor mich hin. Da hat sie gesagt: Jetzt komm mit raus, beschreib mir die Wiese und die Wolken. Guck erstmal hin, bevor du dir was ausdenkst. Sie hat mir Ilja Ehrenburgs Memoiren empfohlen, die in Güstrow im Schaufenster standen. Da konnte man – in der DDR! – über den Gulag lesen. Nicht im tatsächlichen Ausmaß, aber immerhin. Kauf dir das, sagte sie, das machte ich brav.
Mit 16 ist man normalerweise nicht brav!
Das war eine Anregung, und ich war für jede dankbar. Meine Mutter hatte als Ärztin viele Nachtdienste, ich war häufig allein mit meinem schweigsamen Großvater. Gerda kam oft zu uns, als ich klein war, zeichnete meinen Großvater, kochte für uns Spaghetti, alberte mit mir herum.
Viele Ihrer Bücher sind Auseinandersetzungen mit der Erzählweise anderer Autoren. Gab es auch diesmal jemanden, den Sie im Ohr hatten?
Ja, sehr – den „Leviathan“ von Joseph Roth. Ich dachte, ach, so was möchte ich auch mal schreiben: eine Legende, bei der man das Fernrohr umdreht, um aus der Distanz auf die eigene Zeit zu blicken. Das sind Muster, die mir beim Schreiben helfen. Als Zwerg auf den Schultern der Riesen ...
Jemand hat Sie mal als Chamäleon bezeichnet.
Ich will keinen Personalstil haben, nicht den Schulze-Sound. Für mich stellt sich mit jedem Buch neu die Frage: Was ist die angemessene Farbe? Bei „Simple Storys“ waren es Hemingway und Carver. Wobei meine Verlegerin meinte, sag lieber nicht Hemingway. Kollegen mokierten sich: Du armer Ostler, bei uns war Hemingway schon Ende der 50er durch. Als ginge es darum! Für das, was ich beschreiben will, war er grandios. Die 90er im Osten hatten eine gewisse Affinität zu den 50ern im Westen. 1996 erhielt ich ein Stipendium für New York, das mochte ich. Aus der Entfernung auf die eigene Provinz schauen. Und die alten Marlon-Brando-Filme hätten auch im thüringischen Altenburg zu Beginn der 90er spielen können.
Sie haben dort als Dramaturg gearbeitet, unmittelbar nach der Wende eine Zeitung herausgegeben. Wie beobachten Sie, was in Thüringen passiert?
Es ist schon wieder eine Verschiebung. Jetzt hat es nicht geklappt und beim nächsten Mal auch nicht, doch es wird irgendwie denkbar. Ich will gar nicht über die AfD reden, sondern lieber über die, die wir als demokratisch bezeichnen, die aber so tun, als gäbe es den Warschauer Pakt noch. Das Grundübel liegt in dieser CDU-Abgrenzung zu den Linken. Dabei täte es insbesondere der Ost-CDU gut, ihre eigene Geschichte mal aufzuarbeiten – inklusive der Herkunft ihrer Immobilien.
Sie waren mal nah dran an den Leuten, haben Reportagen über Polikliniken und Kindergärten geschrieben. Vermissen Sie das?
Damals habe ich vieles aus erster Hand kennengelernt. Heute kenne ich den Alltag in den östlichen Ländern kaum mehr. Ich lebe ja nicht mehr dort. Ich bekomme viel erzählt. Mir ist es aber immer wahnsinnig schwer gefallen, Artikel zu schreiben. Ich brauchte viel zu viel Zeit dafür.
Als Schriftsteller lassen Sie sich die?
Der Anfang ist schwierig. Nach hinten hin schreiben sich die Bücher ... ich will nicht sagen, von allein, aber je mehr da ist, umso mehr schiebt’s nach vorn. Beim letzten Drittel wird man fast zum eigenen Leser, der endlich wissen will, wie es endet.
Brauchen Sie einen bestimmten Ort?
Wenn ich mal drin bin, geht’s überall. Wir haben so eine olle Datscha zur Pacht zwischen Bestensee und Storkow – ich kann nicht sagen, dass ich da in einer besonderen Stimmung bin, aber ich trödel vor mich hin, zögere die Arbeit ein bisschen hinaus – und plötzlich klappt’s. Barlach hat in einem Brief sinngemäß geschrieben: Ich brauche keinen Urlaub, das strengt mich nur an. Meine Erholung ist das Gelingen. Das stimmt. Nichts ist so entspannend wie das Gefühl, jetzt habe ich ein schönes Kapitelende gefunden. Dann Schwimmen! Oder sich zum Lesen in die Hängematte legen mit dem Gefühl, ich darf auch einnicken. Das ist der absolute Luxus.
Sie haben Altphilologie studiert. Als Sie 2007 mit einem Villa-Massimo-Stipendium in Rom waren – fühlten Sie sich da gleich zu Hause?
Das war ja das DDR-Paradox: Altphilologie zu studieren glich Schwimmenlernen in der Wüste. Rom war immer ein großer Sehnsuchtsort für mich. Nach ’89 bin ich oft nach Italien gefahren, da fällt man fast überall in eine Art Geschichtsschacht: die Zeit vor den Griechen und Römern, dann die Antike, das Frühchristliche, das Gold aus Amerika … Man hat die ganze Welthistorie zusammen und die Kunst – damit könnte ich mein Leben verbringen.
Aufgewachsen sind Sie in Dresden, wo auch der neue Roman spielt. Was empfinden Sie dort heute?
Ich habe einige gute Freunde da. Aber ich glaube nicht, dass ich je zurückziehen würde. Ich finde die Stadt doch sehr selbstbezüglich. Die gloriose Vergangenheit spielt eine Riesenrolle. Man merkt das Höfische, auch dieses: Wie kann man eigentlich aus Dresden weggehen! Ich kann ja nachvollziehen, dass man diese Wunde, die zerstörte Frauenkirche, nicht aushält. Aber da drin zu stehen, löst in mir wenig aus. Und wenn ich diese Fake-Häuser auf dem Neumarkt sehe, wird mir schlecht. Das ist der Hang, aus Dresden ein Märchen zu machen.
Ihr Sächsisch hört man nur noch sanft. Sie schreiben „gezähmt“.
Es ist schade, dass der sächsische Dialekt sich praktisch nicht literarisch verwenden lässt, das wirkt sofort kabarettistisch. Im besten Falle anheimelnd, aber ein bisschen beschränkt. Wenn in Fernsehserien gesächselt wird, weiß man sofort: Jetzt wird’s komisch, jetzt darf gelacht werden.
In Ihrem neuen Roman skizzieren Sie, wie jemand zum Rechtsextremisten wird. Zuvor bauen Sie eine große Nähe zu Ihrem Protagonisten auf, beschreiben, vor allem im ersten Teil, die Hauptfigur fast zärtlich. Ist das in Zeiten von Gruppe S, Chemnitz und Hanau nicht ein bisschen viel Verständnis, das der Leser automatisch entwickelt?
Im Roman bin aber nicht ich derjenige, der ihn so liebevoll schildert, sondern eine Figur, ein Schriftsteller namens Schultze, also mit t, der ein Interesse hat, mit diesem Paulini eine Art Mythos zu schaffen. Ich finde es gut, wenn der Leser darauf einsteigt und plötzlich merkt: Verdammt, ich hab mich literarisch einlullen lassen. Es waren auch immer Intellektuelle, die Kriege vorbereitet haben.
Sie haben den Anspruch an Literatur, dass sie auch politisch ist. Könnten Sie sich vorstellen, Politiker zu werden?
So eine Partei ist ja wirklich ein zivilisatorisches Wunderding, ein kompliziertes Gebilde. Aber ich halte mich für sehr ungeeignet dafür. Das Reden in Talkrunden zum Beispiel ist gar nicht meine Sache.
Dennoch treten Sie politisch auf, kritisieren Privatisierungen, EU-Agrarsubventionen. Unterscheiden Sie zwischen dem Schriftsteller und dem Aktivisten?
Das Erzählerische ist vielschichtiger. Bei politischen Aktionen weiß ich: Ich bin als Schriftsteller eingeladen, aber trete eigentlich als Bürger auf. Meist tu ich mich schwer damit, denke, andere wissen viel mehr.
Ihren Kollegen haben Sie vorgeworfen: Die Intellektuellen schweigen.
Wir könnten manche Dinge viel deutlicher benennen – ich auch. Sie müssen ja nur an die Flüchtlingslager in Griechenland denken, das ist doch alles so gewollt. Es geht mir aber nicht um irgendeinen utopischen Entwurf, sondern: Wie überleben wir als Zivilisation in Würde? Zu hoffen, die Technologie wird uns retten, ist Quark. Deswegen bauen wir jetzt keine Benzin-SUVs, sondern Elektro-SUVs! Wir fragen nicht, was ist notwendig, sondern nur: Wie kann man damit wieder Geld machen?
Im Buch beschäftigen Sie sich erneut mit dem Ende der DDR, dem Ost-West-Verhältnis. Bald geraten Sie endgültig in die Rolle eines Vorzeige-Ost-Autors!
Es geht ums Heute. Der Blick auf die Vergangenheit bestimmt unsere Zukunft, das erleben wir immer wieder, nicht zuletzt bei den Querelen in Erfurt. Ich hätte nichts dagegen, als ostdeutscher Schriftsteller bezeichnet zu werden – wenn andere westdeutsch genannt würden. Doch es gibt immer nur die Deutschen und die Ostdeutschen. Der Westen ist das Normale, der Osten wird in Nähe oder Distanz dazu beschrieben. Wenn man in der DDR aufgewachsen ist, wundert man sich andererseits über manche Dinge. Ich kann mich nicht daran gewöhnen, dass mein Zahnarzt, jeder Arzt, auch als Geschäftsmann denken muss.
Ihre Frau, die Literaturprofessorin Jutta Müller-Tamm, ist in der BRD aufgewachsen. Haben Sie oft Ost-West Diskussionen?
Oh ja, sehr! Unsere Beziehung ist so glücklich, wie ich mir das nie erträumt hätte, aber wir streiten. Zum Beispiel haben wir uns wahnsinnig über den Gundermann-Film in die Haare bekommen, den sie sehr gut fand. Mir hat gefehlt, was nach ’89 kam: Gundermann hat sich doch nicht nur mit seiner Stasi-Akte beschäftigt und um seine Karriere gekümmert, sondern sich auch danach politisch aufgelehnt. Das Danach kam gar nicht vor. Sie fand das nicht schlimm. Mich hat es geärgert.
Wo spüren Sie die fehlende Annäherung zwischen Ost und West?
Das Thema ist präsenter denn je, das schockiert. Das hat mit der Weichenstellung zu tun, die damals erfolgte und bis heute unsere Zukunft bestimmt: Nur 1,7 Prozent Ostdeutsche sind in Führungspositionen, dabei müssten es 17 Prozent sein, ginge es proportional zu. Die Unterschiede vererben sich im wahrsten Sinne des Wortes, ob Grund und Boden, Immobilien oder Betriebe – der Anteil Ostdeutscher ist selbst im Osten gering. Ich fände wichtig, wenn das von der Gesellschaft zur Kenntnis genommen würde.
Die Tatsache, dass Ihre Frau Literaturwissenschaftlerin ist – macht das einem Schriftsteller nicht Angst?
Im Gegenteil! Sie ist meine erste Leserin und Ermutigerin! Außerdem setze ich mich gern in ihre Vorlesungen. Nachhilfeunterricht für einen Schriftsteller. Ich liebe das, sie etwas zu fragen und Antworten zu bekommen.
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