Fernsehen: „Ich wackle nicht so gern an der Oberfläche rum“
Nur 21 Drehtage für einen 90-minütigen-Film – das kann ja nichts werden, sagt Nina Kunzendorf. Die Schauspielerin über den Verlust der Sorgfalt in Zeiten des Geldmangels und ihren inneren Mülleimer.
Frau Kunzendorf, in Ihrem aktuellen Fernsehfilm wirft sich Anke Engelke nach einem Streit auf offener Straße in Südafrika in den Staub und bittet Sie um Verzeihung …
… das war eine sehr laute Ecke. Wir drehten mit Steadycam, es gab keine Absperrungen, der normale Verkehr lief einfach weiter. Wir brüllten uns an, da hielt ein Auto neben uns, der Fahrer ließ die Scheibe herunter und rief: „Don’t fight, Ladies!“
Das hat es nicht in den Film geschafft.
Leider nein, wir mussten wiederholen, weil irgendwas nicht geklappt hatte. Anderes echtes Leben ist dafür dringeblieben: Gleich am ersten Tag haben wir in Kapstadt auf einem Markt gedreht. Plötzlich fingen die Leute an, ihre Stände abzubauen, das dengelte, schepperte und krachte – ein irrer Lärm. Die Regisseurin Sherry Horman wollte die Atmosphäre rough, lebendig. Wir drehten an Autobahnen, in lausigen Hostels …
Der ARD-Zuschauer wird enttäuscht sein, weil er weder sepiafarbene Ansichten vom Tafelberg noch glückliche Kinderhorden auf dem Dorf zu sehen bekommt.
Wer weiß, vielleicht freut er sich ja auch? Ich war zum ersten Mal in dem Land und fand es sehr irritierend, wie nah Arm und Reich parallel existieren. Da steht eine herrliche Villa, daneben verläuft ein Mords-Stacheldraht, und 200 Meter weiter leben die Menschen in Hütten ohne fließend Wasser. Man spürt, wie es unter der Oberfläche gärt.
Sie wollten das Elend nicht ausblenden?
Natürlich kann man nach Südafrika fahren und es sich gut gehen lassen. Dann muss man nur sehr vieles verdrängen. Es gibt sicher Leute, die gut darin sind. Ich bin es nicht.
Im Film geht es um die Agrarindustrie, einen Pharmakonzern, Lobbyisten. Sie spielen eine Journalistin, die auf der Suche nach ihrem Informanten immer tiefer in einen Strudel aus Filz und Korruption gerät. Wer gut und wer böse ist, bleibt lange unklar.
Wenn ich ehrlich bin, geht mir das bei der Betrachtung vieler politischer Zusammenhänge so: Manches ist irrsinnig komplex. Es erfordert einen genauen Blick und viel Zeit, da durchzusteigen.
Sind Sie generell misstrauisch gegenüber schnellen Meinungen?
Es gibt Situationen, da sitze ich verwundert da, weil Menschen sich in Sekundenschnelle positionieren können. Ich werde immer vorsichtiger, langsamer – was nicht heißt, dass ich finde, dass man auf eine Meinung verzichten sollte.
Sie waren auf einer Anti-TTIP-Demo.
Da habe ich mich bemüht, mir im Vorfeld aus vielen Quellen Informationen zu beschaffen und eine klare Haltung zu entwickeln. Und so bin ich dann mit Überzeugung demonstrieren gegangen.
Nennen Sie Ihre Lieblingsquelle, bitte.
Deutschlandfunk! Wenn ich zu Hause bin, läuft der Sender fast immer. Früh morgens geht es los, mit den Politikerinterviews. Da sind hellwache Journalisten am Werk, die nicht lockerlassen und versuchen, schwadronierende Politiker auf den Topf zu setzen. Ich schätze es sehr, wenn ein Widerspruch transparent wird. Und dann, ach!, die Features.
Mal sehen, was Sie gerade verpassen … „Hitze, Ozon und Stickoxide – Stadtklima im Wandel“. Ein Interview mit einem Berliner Klimaforscher.
Interessant. Mir ist aktuell ein Beitrag über Medikamentengabe an behinderte Menschen in Heimunterbringung in Erinnerung.
Wie hören Sie Radio?
Wir haben eine offene Küche, mein Küchenradio beschallt den ganzen Raum.
Erinnern Sie sich, wann Ihre Leidenschaft fürs Radio begann?
Prägend war eher der fehlende Fernseher in meinem Elternhaus. Ich war immer scharf darauf, zu den Nachbarskindern gehen zu dürfen, um dort „Bonanza“ zu gucken. Später dann, als ein Fernseher im Haus war, das war so in der fünften Klasse, redeten alle über „Dallas“ und „Denver Clan“ – nur ich nicht, weil das bei uns nicht lief. Wie hieß die Sendung, bei der alte Herren rauchend das politische Tagesgeschehen besprachen?
„Der Internationale Frühschoppen“.
Genau. Unter anderem mit dem „Frühschoppen“ verbinde ich ein Sonntagsgefühl. Ich sehe meinen Vater, der im Sessel vor dem Fernseher sitzt. Eine feste Institution. So hab ich das abgespeichert.
"Im Moment ist dieses Seriending ein Knaller"
Ihr Sonntagsgefühl war also kein schönes?
Eher ein taubes Gefühl. Nix los. Wobei die Eltern entspannt waren, das mögen Kinder eigentlich gerne. Ansonsten wurde nicht viel ferngesehen.
Im Film „Hilfe, wir sind offline!“ schließen Sie als Mutter den WLAN-Router im Keller ein. Mangels Alternative liest Ihr Filmsohn die Sender vor: „Arrrd und Zdddff, was ist das?“
Äh ja, da wusste ich auch nicht, ist das jetzt witzig oder …
… peinlich?
Hm.
Haben Sie heute einen Netflix-Account, um das wenige Fernsehen Ihrer Kindheit ausgleichen zu können?
Ach, ich habe gar nicht das Gefühl, was ausgleichen zu müssen. Das war schon in Ordnung so. Im Moment ist ja dieses Seriending ein Knaller. Alle Welt erfindet die Serie neu. Das interessiert mich, aber man kann auch darüber reden: Wie konsumiert man das? Schaut man sich wirklich – gesetzt den Fall, man hat die Zeit – 24 Folgen hintereinander an? Ich denke da an „Sommer in Lesmona“ …
… ein achtteiliges Fernsehspiel, das die dritten Programme 1987 ausgestrahlt haben.
Da habe ich Katja Riemann, mit der ich ja jetzt in „Tödliche Geheimnisse“ spiele, zum ersten Mal gesehen und fand sie herrlich! Sie stand zwischen zwei Männern, und ich dachte: Mensch, nimm’ doch den Verrückten, den Lebemann! Dann kam der Abspann, und ich musste eine Woche bis zur nächsten Folge warten.
Konnten Sie das gut aushalten?
Ich mochte das sehr gerne und finde es schade, dass man sich heute Staffel um Staffel hintereinander reinzieht. Das Wartenmüssen auf die nächste Folge „Der Fahnder“ oder „Silas“ hatte eben seinen Reiz.
Der Fahnder, also Klaus Wennemann aus Oer-Erkenschwick, war Ihr Posterboy?
Nein! Das Fan-Sein ging mir schon immer ab.
Welcher Film hat Sie zum ersten Mal die Kraft der Fiktion begreifen lassen?
„Unten am Fluss“. Ein britischer Zeichentrickfilm, der in der Welt der Tiere spielt und die Mechanismen des Faschismus deutlich macht. Und später eine Doku: Mit elf habe ich zusammen mit meinem Vater einen Film über Fleischproduktion und Massentierhaltung gesehen. Der Beginn meiner Laufbahn als Vegetarierin.
Und heute setzen Sie sich mit der „Hörzu“ um 20.15 Uhr in den Fernsehsessel und suchen sich was Schönes raus?
Nein. Außer, es kommt ein Film eines guten Regisseurs, oder es spielen bewunderte Kollegen mit.
Sie schauen Ihr eigenes Genre nicht. Macht Sie das stutzig?
Ja, es macht mich sehr stutzig, dass man in einem Bereich tätig ist, den man selber so gut wie gar nicht konsumiert. Das finde ich schon manchmal befremdlich.
Woran liegt es?
An der Qualität. Es werden viele gute Filme gedreht, aber es sind noch zu wenige, für die es sich lohnen würde, abends vor dem Fernseher zu sitzen. Kennen Sie einen 18-Jährigen, der sich fürs Fernsehen interessiert?
Nein. Sie verkleiden sich, mal abgesehen von Ihrer Rolle im „Tatort“, nie so richtig. Helfen Ihnen Kostüm oder Maske nicht, in eine Rolle zu finden?
Meine aktuelle Frisur lässt keinen großen Variantenreichtum zu. Aber schauen Sie sich die Hebamme an, die ich gespielt habe, so laufe ich privat nicht rum: mit Birkenstocks und selbstgestrickten Dingern. Ich nähere mich einer Rolle in der Regel nicht über ein Außen. Da gehe ich lieber in ein Geburtshaus und schaue mir das Treiben dort an. Am Ende dachte ich, hoffentlich bekommt die Frau im Bus eine Sturzgeburt, ich könnte sie entbinden. Das ist natürlich Kokolores.
Hybris!
Ja, total. Ach kommt, Freunde, Steißlage, Zwillingsgeburt … mach’ ich! Das Kostüm ist wichtig für mich, aber nicht im Sinne einer Verkleidung. Die suche ich auch im Spielen nie.
Wie meinen Sie das?
Ich suche immer eine Glaubwürdigkeit, finde es das Tollste, wenn man nicht merkt, dass gespielt wird. Es ist für einen Kostümbildner das tollste Kompliment, wenn der Zuschauer das Kostüm gar nicht bemerkt, weil es so schlüssig ist. Ich nähere mich den Figuren über das Innen. Damit meine ich nicht so sehr eine Befindlichkeit oder eine Biografie, sondern immer die konkrete Situation, in der sich der Mensch eben genau so verhält und nicht anders.
"Für einen guten Film brauchst du Zeit und Geld"
In „Tödliche Geheimnisse“ brüllen Sie in einer ausweglosen Situation einen krassen Urschrei. Wie haben Sie sich darauf vorbereitet?
Über Verständnis. Stand der Schrei im Drehbuch? Zumindest etwas Ähnliches. Es ist nicht so, dass ich mir zu Hause überlege, welches Gefühl ich triggere. Ich mach’s einfach. Und es ging, weil ich begriffen habe, wie sich diese Frau gerade fühlt. Aufgeschmissen beim Dreh bin ich immer, wenn ich nicht verstehe, was der Konflikt ist.
Passiert das oft?
Ja! Für ein gutes Drehbuch und einen guten Film brauchst du Zeit und Geld. Ein Autor muss sorgfältig arbeiten, verwerfen, eine weitere Fassung erstellen können. Dasselbe gilt fürs Drehen. Es ist ein großer Unterschied, ob ein Regisseur 25 Tage Zeit hat, einen 90-Minüter zu drehen, oder nur 21.
Wie viel Zeit hatten Sie jetzt?
Ich meine, es waren letztlich 22. Oder 23?
Also Ihrer Rechnung nach drei zu wenig.
Absolut! Lassen Sie mich das lieber an einem positiven Beispiel festmachen. Bei den Dreharbeiten zu „Phoenix“ hatte ich am ersten Tag die Dispo in der Hand und dachte, die hätten vergessen, mir den zweiten Teil auszuhändigen, weil da nur eine Szene stand. Was für ein Genuss, wenn du Zeit hast, eine Szene auch mal auszuprobieren, du deinen Parcours, der schon aufgebaut ist, verlassen darfst. Definitiv ein Geschenk. Als Schauspielerin bin ich extrem privilegiert, aber du spürst das bei allen Gewerken: Eine Kameraabteilung, die einen Film in 21 Tagen rocken muss, sieht danach anders aus, als wenn sie 25 Tage Zeit gehabt hätte.
Gibt es am Set Frustration, so nach dem Motto: Mir doch egal, ich lass’ das jetzt so?
Auch. Klar. Oft ist der Zeitdruck so groß, dass gar nichts anderes übrig bleibt. Dem gegenüber steht immer die Energie und Freude, etwas gut machen zu wollen. Ich würde nicht sagen, dass sich da ein Schleier drüber legt à la „Ja gut, wir machen das jetzt eben auf halber Arschbacke“. Es ist eher so, dass ich denke, Mensch, hier gibt es so viele kreative, energiegeladene Köpfe, aber die Bedingungen stimmen nicht. Da könnte viel Tolleres herauskommen! Ganz andere Filme als die, die dem Zuschauer vermeintlich gefallen.
Was gefällt denn dem Zuschauer vermeintlich?
Dass er gut gelaunt ins Wochenende geschickt wird. Ich fühle mich häufig nicht repräsentiert von „dem Zuschauer“. Ich langweile mich zu Tode, wenn ich nach zehn Minuten weiß, wie der Hase läuft. Und ich ärgere mich, wenn ich beim Drehen aufgefordert bin, ein Kleid zu tragen, weil „der Zuschauer es schon schön findet, dass die Figur am Ende ein Kleid trägt“. Was für ein Quatsch.
Sie wünschen sich …
… ganz kleine Geschichten, die ja ganz groß sein können. Familienkonflikte, die nicht TV-Event-moviemäßig daherkommen und im besten Sinne unspektakulär sind.
Woher kommt eigentlich Ihr besonderes Faible für Bullen, Personenschützerinnen und Investigativreporterinnen?
Spielst du einmal eine Kommissarin, bist du schnell auf dem entsprechenden Zettel. Vielleicht liegt mir das aber auch. Ich wackle nicht so gerne an den Oberflächen rum. Insofern ist das vielleicht auch etwas, das mir im Spiel Freude macht: den Dingen auf den Grund zu gehen oder eine Lösung zu finden. Eine meiner Lieblingsproduktionen ist „In aller Stille“ von Rainer Kaufmann. Da spiele ich zwar auch eine Kommissarin, aber eigentlich eine Mutter, die auf den Felgen läuft.
Haben Sie einen Schredder für Drehbücher, die Ihnen nicht gefallen?
Ach, ich hab’ innerlich einen großen Mülleimer für Drehbücher. Ich merke auch langsam: Jetzt habe ich doch schon einiges gespielt – nun klinge ich wie eine Oma! –, sodass manchmal eine Warnleuchte angeht. Ich fange an, mich zu wiederholen. Es existieren immer noch viel interessantere Rollen für Frauen zwischen 25 und 35. Natürlich gibt es auch bestimmte Figuren, für die ich einfach nicht prädestiniert bin. Ich bin keine Laut-Spielerin, kein Knallbonbon.