Interview mit Michael Barenboim: „Ich habe nichts gegen Gassenhauer“
Eine Wespe in der Waldbühne brachte den Geiger aus dem Takt. Michael Barenboim über den langen Nachhall seiner Kindheit und einen strengen Philosophielehrer.
Herr Barenboim, kürzlich sahen wir einen Cartoon: Ein Mann und sein Sohn, mit dem Geigenkasten in der Hand, stehen vor einem Wegweiser, der links Richtung „Geige“ zeigt und rechts zum „Glück“. Wären Sie als Sohn von Daniel Barenboim ohne Geige ein glücklicherer Mensch geworden?
Überhaupt nicht. Die Freude, die man auf der Bühne erlebt, ist so einzigartig und toll wie sonst nichts. Aber es stimmt schon, der Weg dahin macht nicht nur Spaß.
Was zum Beispiel?
Tonleitern, Etüden, langsam spielen, jeden Tag. Meine Studenten glauben mir das manchmal nicht, dass ich wirklich jeden Tag Tonleitern übe, eine halbe bis ganze Stunde. Erst Tonleitern, dann Dreiklänge, gebrochene Terzen und zuletzt chromatische Tonleitern. Zunächst auf einer Saite, dann auf allen vier. Und danach Doppelgriffe: Terzen, Sexten, Oktaven …
Klingt wahnsinnig eintönig und ermüdend.
Deswegen ja der Abzweig auf dem Cartoon.
Sie mögen Snooker. Hilft das beim Geigenspiel?
Die Bewegung ist nicht unähnlich, ich denke immer, dass es was bringt. Ich bin vor Jahren auf Snooker gestoßen, bei Eurosport. Ich dachte, das ist ja toll! Man macht den Sportsender an, und da stehen Leute mit Fliege und Weste. Was ist jetzt los? Dann habe ich mir das Spiel angeschaut und fand es klasse. Allerdings muss man auch da, um wirklich gut zu sein, sehr viel Zeit investieren.
Im Sommer haben Sie in der Waldbühne Beethovens Violinkonzert gegeben. Auf der großen Leinwand konnte man Sie hervorragend beobachten. Besonders ausgelassen wirkten Sie da nicht.
Das Stück ist schwer!
Die Freude kommt, wenn der Stress vorbei ist?
Nun ja, Freude heißt ja nicht, dass man komplett entspannt. Das Glück, eine Phrase zu gestalten, einen Übergang zu meistern – das muss nicht heißen, dass man die ganze Zeit lächelt.
Das Orchester im Hintergrund fing beim Rondo fast an zu tanzen.
Viele aus meiner Generation bewegen die Geige sehr viel, springen hin und her. Das soll jeder machen, wie er will, aber wenn Sie an die großen Geiger der Vergangenheit denken, wie Jascha Heifetz: Das Einzige, was Sie bei ihm erleben werden, ist, dass die Augenbraue hochgeht. Boulez hat sich beim Dirigieren auch nicht viel bewegt, aber wenn er dann Schwung genommen hat, ist das Orchester förmlich explodiert.
Und die anderen machen Show?
Nein, ich denke, jeder empfindet das anders. Aber wenn ich mich beim Spiel zu viel bewege, verhindert das eine gute Klanggebung.
Zweimal haben Sie doch gelacht. Als eine Fliege um Sie herumflog, und als Sie sich deswegen verspielten.
Das war eine Wespe, bei einer Fliege hätte ich mich nicht bewegt. Die ist beim Spielen auf meinem Finger gelandet. Es ist nicht rational, aber wenn ich eine Wespe sehe, bekomme ich etwas Angst. In jedem Zeitungsartikel stand, dass ich mich verspielt habe.
Möchte man dann im Boden versinken?
Ich habe das nicht als so schlimm empfunden. Das war eher ganz witzig. Die Kollegen haben ja auch gelächelt.
In der Rockmusik gilt ein Fehler oft als Ausdruck von Authentizität. Wünschen Sie sich manchmal etwas mehr Nachsicht in der Klassik?
Vor 20, 30 Jahren hätte ich Ihnen recht gegeben. Da wurde darauf geachtet, dass jeder Ton perfekt klingt. In den vergangenen Jahren ist durch die Zunahme von Live-Aufnahmen ein größerer Raum entstanden, wo etwas mehr „Dreck und Staub“ erlaubt ist. Da hören Sie mal ein Husten oder einen Geigenton, der nicht 100 Prozent ist. Und was die Popmusik angeht: Mangel an Perfektion ist hier vielleicht auch Teil der Show. Ich glaube, wir haben schon akzeptiert, dass die perfekte Aufnahme vielleicht nicht die beste ist. Denken Sie an die beliebten alten Aufnahmen zum Beispiel von Fritz Kreisler. Zu seinen Zeiten wurde alles in einem Take runtergespielt, da ist auch mal was falsch, das stört keinen. Also zumindest mich nicht.
Ihr Vater gilt als Perfektionist. Was hat der gesagt?
Der hat gedacht, die Saite wäre gerissen. Aber das ist alles kein Drama. Wir spielen jedes Jahr in der Waldbühne und kennen die Herausforderungen. Vergangenes Jahr war es noch etwas verheerender. Da konnte ein Kollege, der wie ich auch Angst vor Wespen hat, kaum spielen.
Wir haben ein Foto von Ihnen gesehen, darauf raucht Ihr Vater Zigarre, Ihr Bruder Zigarette und Sie Pfeife. Ist das symbolisch zu verstehen?
Stimmt, das ist ganz lustig, drei Leute – drei Arten des ungesunden Tabakkonsums.
Das heißt, Sie sind der Gemütlichste?
Kann schon sein. Das Image des Pfeiferauchens erfüllt das Bild eines gemütlichen Abends zum Beispiel am Kamin. Den habe ich zwar nicht, aber die Entspannung gibt mir das Pfeiferauchen auch immer unterwegs.
Ihr Vater war ständig unterwegs. Hätten Sie sich als Kind manchmal mehr Normalität gewünscht?
Ich habe nicht das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Natürlich ist mein Leben nicht so gewesen wie das vieler anderer Kinder. Aber auch der Alltag meiner Freunde war ganz unterschiedlich. Das Normale, das gibt’s gar nicht, nur in den Köpfen.
Seine Schulferien im Opernhaus Bayreuth zu verbringen, ist aber wohl doch etwas Besonderes. Ihr Bruder fand Mord und Totschlag auf der Bühne spannend. Was hat Sie gereizt?
Als Vierjähriger saß ich schon im Orchestergraben. Ich fand es toll, die Orchestermusiker zu sehen. Der Klang im Graben ist einzigartig. Selbst in einem perfekten Konzertsaal ist das Hörerlebnis nicht so überwältigend.
Versuchen Sie heute anders zu leben, als Sie es in Ihrer Kindheit kennengelernt haben?
Ich möchte so viel wie möglich mit den Kindern zu Hause sein. Meine Tochter ist gerade drei geworden, mein Sohn wird im November fünf, sie gehen jetzt auf die französische Vorschule. Wir organisieren uns. Meine Schwiegermutter reist manchmal aus Russland nach Berlin an. Und glücklicherweise leben ja auch meine Eltern in Berlin. Aber ich mag es nicht, zu lange von meiner Familie weg zu sein.
Spielen die beiden Kleinen schon ein Instrument?
Sie kriegen täglich mit, wie wir üben: meine Frau am Klavier und ich auf der Geige. Sie sehen die Instrumente und hören gelegentlich eine Probe oder ein Konzert.
Sie selbst haben sehr spät mit der Geige angefangen, mit sieben. In dem Alter ist Ihr Vater schon aufgetreten. Wird es nicht langsam Zeit?
Das Wichtigste ist, dass der Zugang zum Instrument auf sehr natürlichem Wege und behutsam geschieht.
Hat der späte Start mehr Vor- oder Nachteile?
Ich musste mit Mitte 20 massiv aufholen gegenüber meinen Kollegen, noch mehr üben.
War Ihr Philosophiestudium in Paris also ein Fehler?
Auf keinen Fall. Dort habe ich richtig arbeiten gelernt. Im ersten Jahr war ich im Vorbereitungskurs für die Grande École. Das war irre, absolut irre. Ein Lehrer, und der war noch charmant, hat gesagt: Wenn Sie alles richtig machen, haben Sie von nun an einmal die Woche Zeit, ins Kino zu gehen, für sonst nichts. Aber durch das Philosophiestudium haben sich mir Perspektiven eröffnet, die mich auch in der Musik bereichern.
Was denn?
Allein schon, einen Text zu analysieren. Diese Art des Denkens wendet man ja genauso auf eine Partitur an. Ich konnte die Musik viel besser, tiefgründiger verstehen als vorher. David Hume zum Beispiel lehrt uns, dass das, was wir glauben zu wissen, gar kein richtiges Wissen sein muss, sondern eine Gewohnheit aus unserer Erfahrung.
Aha.
Ein gutes Beispiel: Von der Gravitation wissen wir nur, weil wir so oft gesehen haben, dass etwas herunterfällt. Hume lehrt einen Demut, häufiges Nachfragen. Irgendwann kommt man immer an den Punkt: Ist das wirklich so – oder nicht? Das hilft einem auch im alltäglichen Leben. Es dreht sich ja nicht immer nur alles ums Geigespielen.
Sie sind in Paris geboren, in Berlin zur Schule gegangen, zu Hause sprachen Sie drei Sprachen. „Woher ich komme, weiß ich eigentlich nicht“, haben Sie mal gesagt. Ist das beängstigend oder befreiend?
Wenn mich jemand fragt, wo ich herkomme, sage ich immer: Berlin. Und dann heißt es: „Ja, wo kommst du denn wirklich her?“ Das finde ich irritierend, ich denke: Warum darf ich jetzt nicht aus Berlin kommen?
Weshalb fragen die Leute das?
Vielleicht weil sie etwas einordnen wollen. Mütterlicherseits stamme ich aus Russland, mein Vater kommt aus Argentinien, ist dann mit neun Jahren nach Israel gezogen. Dadurch hat man eine Mehrzahl an Identitäten. Jemand, der sein Leben lang in einem Ort in Deutschland gelebt hat, könnte mich vielleicht nicht als Deutschen sehen. Weil ich hier nicht wirklich von Geburt an verankert bin. Ich habe zwar die deutsche Staatsbürgerschaft, bin aber zugezogen. Das kann ich nicht ändern.
Manche Künstler versuchen genau das. Sie sind mit Maxim von der Rüpelrapband K.I.Z. zur Schule gegangen. Neiden Sie den Rappern manchmal, dass sie neben der Musik mit der Sprache noch eine zusätzliche, durchaus politische Kommunikationsebene haben, die Symphonien fehlt?
K.I.Z. sind in der Lage, sehr komplex zu denken, sie können sich zwei- oder sogar „dreideutig“ ausdrücken. Aber die Klassik kann das doch auch. Die Eroica und die Fünfte von Beethoven, das sind hochpolitische Stücke. Auch wenn sie rein instrumental sind, die Botschaft ist da.
Wie ist die in Beethovens Fünfte eingeschrieben?
Nicht in dem Sinne, dass man an den Motiven erkennen könnte: Ah, Französische Revolution! Aber in der ganzen Geste und dem Weg, den man vom ersten in den letzten Satz geht, finde ich das schon deutlich.
Das erschließt sich aber doch nur über Vorwissen.
Man kann das Erlebnis der Fünften von Beethoven auch verspüren, ohne den Hintergrund zu wissen. Man kennt dann vielleicht nicht den Kontext, aber dieses: vom Dunkeln ins Licht, das ist deutlich zu hören.
Konkret werden Sie in einer Einrichtung wie dem West-Eastern-Divan-Orchestra, in dem arabische mit jüdischen Musikern zusammenspielen.
Wir haben keine politische Botschaft an sich.
Es geht doch um Völkerverständigung.
Das ist keine politische Botschaft.
Wie bitte?
Es ist eine generelle. Das Orchester drückt einfach eine Form des Denkens aus, die in der Region fehlt. Aber wir haben keine Message à la: Israel muss das tun, Palästina muss das tun, Libanon muss das tun. Es gab auch Momente, als der militärische Konflikt eskaliert ist, in dem es zum Streit im Orchester kam. Wir haben keine einheitliche Linie, akzeptieren, dass die Musiker verschiedene Meinungen zu bestimmten Aspekten der politischen Welt haben. Das Prinzip ist nicht, dass wir uns verschließen, sondern, dass wir uns öffnen.
Spielen Sie deshalb auch so viel neue Musik?
Ich habe nichts gegen Gassenhauer. Mozart und Beethoven sind großartig, ich höre aber auch viel neue Musik, nur nicht zu Hause: Wenn Musik läuft, muss ich immer genau hinhören, das ist nicht entspannend. Aber ich finde es in der Tat wichtig, meinem Publikum neue Stücke vorzustellen. Und ich wünsche mir, dass die dabei vielleicht etwas entdecken.
Kommt da der Pädagoge durch?
Nicht unbedingt. Allerdings muss man dabei schon manches deutlicher machen. Wenn ich die Fünfte von Beethoven höre, habe ich Hunderte Referenzen. Bei einem neuen Stück nicht. Man muss darauf achten, dass es verständlich ist, was man spielt, aber man muss es den Leuten nicht erklären. Sie gehen nicht ins Konzert, um etwas beigebracht zu bekommen.
Sondern?
Um ein künstlerisches Erlebnis zu haben.
Freuen Sie sich also, wenn das Publikum mitgerissen ist und spontan applaudiert, wie nach dem ersten langen Satz in der Waldbühne, oder stört das die Konzentration?
Ich empfinde das nicht als störend. Dieser erste Satz, das ist ja auch ein fast in sich vollendetes Werk. Zu Beethovens Lebzeiten hat das Publikum immer geklatscht. Es wurde erst im Laufe der vergangenen 100 Jahre Usus, nur am Ende zu applaudieren. Das Klatschen ist ein Ausdruck von Freude, auch von Respekt gegenüber der künstlerischen Leistung. Und den Menschen irgendwas vorzuschreiben oder zu verbieten, wenn sie ins Konzert gehen, würde sie nur vergraulen.
Moritz Honert, Susanne Kippenberger
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