Judith Holofernes ist zurück: „Ich bin auf eine fast perverse Art loyal“
Fünf Jahre hat sie an ihrer Band festgehalten, dann ging es nicht mehr. Judith Holofernes über Fluchtfantasien, Riesen unterm Bett und Dealer im Park.
Frau Holofernes, mit 18 hat man noch Träume. Sie wollten in dem Alter Popstar werden.
Das war eine humoristische Zuspitzung. Ich habe übertrieben, aber der Wunsch war echt.
In den frühen 90er Jahren prägte Madonna mit Bustier die Popmusik. Sah so die Versuchung aus?
Im Leben nicht. Ich schätze Madonna, weil sie gnadenlos das Pop-Genre beherrscht. Dass ich gesagt habe „Ich werde Popstar“, war hauptsächlich als Provokation für mein bodenständiges Freiburger Umfeld gedacht. Ich habe damals nichts gehört, was in den Charts war. Ich wollte wie Patti Smith sein, beinahe androgyn, aber kraftvoll auf der Bühne. Meine Mitschüler und Lehrer dachten, dass ich mit meinem Abi etwas anderes anstellen sollte, als ausgerechnet Musikerin zu werden.
Wie stellten Sie sich das Dasein als Popstar vor?
Sehr ähnlich dem, wie es sich genau jetzt anfühlt. Ich habe mich mit Gleichgesinnten in Schwarz- Weiß-Dokumentationen gesehen, wie in der „Factory“ von Warhol. Im Grunde habe ich damals meine Bezugsgruppe gesucht. Ich hatte keine Freunde, die so begeistert wie ich Musik gehört haben. Neulich habe ich ein Lied gehört, was mir damals viel bedeutet hat, „Let Me Stand Next To Your Fire“ von Jimi Hendrix. Um nah am Feuer zu stehen, nah am Ort, wo für mich alles passierte, der Musik, deshalb wollte ich Popstar werden.
Mit der Band „Wir sind Helden“ haben Sie vor zehn Jahren deutschsprachige Popmusik mit konsumkritischen Texten gemacht und Millionen Platten verkauft. Hat sich da der Traum erfüllt?
Ich habe nicht davon geträumt, vor 70 000 Leuten zu stehen und zu singen – so wie es mit den Helden bei Rock am Ring vorgekommen ist. Ich habe nicht davon geträumt, im Fernsehen zu sein, Autogramme zu geben oder auf Partys erkannt zu werden. Natürlich habe ich von dem Teil geträumt, der mit Sex zu tun hatte. Dass der aufregend, wild und gefährlich ist.
Dabei waren Wir sind Helden immer so verdammt normal.
Wir wollten nicht den Affen machen, um fremden Klischees zu entsprechen. Als normal habe ich mich nie empfunden, nur verstehe ich nicht, warum man als Rockstar arrogant, selbstgefällig und schwierig sein muss.
Gehört das nicht dazu, sich mal alles zu erlauben?
Das hatte bei uns keinen Platz. Vielleicht sind wir da unserem eigenen Klischee aufgesessen.
Welchem?
Dass wir so nahbar sind, so real. Mir ist der Energieaufwand zu hoch, eine Kunstfigur darzustellen und eine Fassade aufrechtzuerhalten. Aufrichtigkeit bedeutet mir viel, Nahbarkeit nicht. Ich will nicht ständig für jeden verfügbar sein.
Wir sind Helden haben stark darauf geachtet, Sie als Frontfrau nicht zum Aushängeschild zu machen.
Nach einer gewissen Zeit habe ich mich gedämpft. Weil ich das Bedürfnis verspürte, in dieser Band zu verschwinden. Das war ein wertvoller Schutz, den ich brauchte. Ich habe das befürwortet, nicht aus der Band herauszustechen.
Klingt anstrengend.
Mit diesem Popstar-Ding habe ich meine Leute gesucht, meine Band, ich wollte einer von den Jungs sein. Das ist nur teilweise gesund. Wir haben viel Energie darauf verwandt, dass ich auf Fotos nicht vorne stehe, dass wir Interviews paritätisch geben. Unser Gitarrist Jean hat irgendwann zu mir gesagt: „Ich fühle mich total bescheuert, wenn ich über deine Texte reden muss.“
Vor zwei Jahren trennten Sie sich. „Pause ist ein zu mildes Wort“, haben Sie kürzlich gesagt.
Weil wir keine bessere Sprachregelung gefunden haben. Wir wollten uns nicht auflösen und nach drei Jahren wiedervereinigen. Es gab keinen Streit, und total ausgebrannt fühlten wir uns auch nicht. Ich hatte eine Seelenkrise.
Sie hatten „die Angst des Rennfahrers im Nacken, das Steuer zu verreißen und an die Wand zu klatschen“, erzählten Sie dem „Spiegel“.
Ich wollte nicht mehr irgendetwas für andere sein, Sängerin, Sprachrohr einer Generation, Bio-Eltern. Keine Identifikation mehr mit irgendwem.
Auf Tour hat sie vor und nach den Konzerten gestillt
Wie haben Sie das Ihrer Band mitgeteilt?
Ich habe die anderen angerufen. Für die war mein Entschluss, etwas Abstand zu gewinnen, keine Überraschung. Ich hätte schon nach meinem ersten Kind vor fünf Jahren aussteigen können. Niemand hätte mir das übel genommen. Auf Touren habe ich manchmal vor und nach Konzerten gestillt, wir haben die Kinder mit in den Tourbus genommen. Das war mein Wunsch, meine Verantwortung, aber natürlich wirken in meinem Beruf auch starke Kräfte auf mich ein.
Plattenfirma, Management, Medien ...
... und Fans. Da sind Gewalten am Werk. Wie man mit denen umgeht, ist am Ende selbst gewählt. Es war komplett meine Entscheidung, mit zwei kleinen Kindern in der Band zu bleiben.
Warum haben Sie sich das angetan?
Ich bin auf eine fast perverse Art loyal. Mir war klar, dass die Band von mir abhängt. Und Wir sind Helden war eine Band, an der es sich lohnte festzuhalten. Das habe ich fünf Jahre mit Klauen und Zähnen getan. Im September 2011 gaben wir ein Konzert in Hamburg, bei dem nur wir wussten, dass es das letzte war. Die Crew ist vor die Bühne gegangen, hat sich zum Schluss mit Kerzen davorgesetzt, und danach haben wir wild gefeiert, ordentlich geheult und getanzt.
Zu eigenen Liedern?
Man tanzt nicht zu eigenen Liedern.
Hatten Sie zu dem Zeitpunkt bereits eine Solokarriere ins Auge gefasst?
Nein, ich hatte nach einem halben Jahr sieben Songs zusammen und stellte fest, dass ich eigentlich eine Platte machte.
Daraus entstand das Solo-Debüt. Hat Sie das nicht erschreckt: Oh Gott, schon wieder ein Album?
Im Gegenteil, das hat mich erleichtert. Obwohl ich in diese Pause mit großer Erschöpfung gegangen bin. Mir wurde bewusst, dass das Bedürfnis, Musik zu machen, bleibt, und zwar mit Wucht.
Bei Ihrem Abschied klang es zunächst so, als würden Sie sich von der Musik zurückziehen.
Zuerst musste ich mir ein paar Flausen aus den Ohren schütteln. Ich dachte, ich setze mich fünf Jahre in mein Arbeitszimmer und schreibe einen Roman. Weil ich eine Sehnsucht nach der Schriftstellerei hatte. Das war ein kleines Bedürfnis, das lange ungehört blieb und sich deshalb zu etwas Großem aufblähte. Über meinen Blog hat sich das erstaunlich schnell, hm …
... erledigt?
Nein, es hat sein Zuhause gefunden. Das Romanschreiben war meine Fluchtfantasie. Oder ich hab das so getarnt. Es ging dabei um die Frage: Wie möchte ich leben: selbstbestimmt oder von anderen abhängig? Gar nicht so sehr: Was will ich tun?
Wie haben Sie Ihren Kindern beigebracht, dass ihre Mutter jetzt Abstand zum Arbeiten braucht?
Zuerst habe ich mir in unserer Wohnung ein Zimmer eingerichtet, mit Klavier und Sessel, wunderbar, bis ich gemerkt habe, dass das Quatsch ist. Ich brauchte ein Arbeitszimmer außerhalb der eigenen vier Wände. Den Kindern musste ich nicht extra sagen, worum es ging. In Wirklichkeit bin ich aus dem Studio nur später nach Hause gekommen, und teilweise bin ich abends, wenn die Kinder schliefen, noch mal hin. Das war nicht sehr viel anders als davor.
Die Obsessionen der Judith Holofernes
Stellen Sie im Studio das Handy aus?
Auf jeden Fall. Ich bin sogar versucht, mir ein Schriftsteller-Schutzprogramm runterzuladen. Das sperrt das Internet, während man schreibt. Das Netz ist der größte Feind der Kunst.
Ganz schön diszipliniert.
Disziplin brauche ich nicht, weil ich mich schnell begeistern und in eine Idee vertiefen kann. Während der ganzen Jahre konnte mir beim Schreiben der Songs niemand etwas anhaben. Ich schaffe mir eine Blase, in der das keine Rolle spielt. Das ist auf dieselbe Weise obsessiv, wie ich als Kind gelesen habe.
Ihre Mutter arbeitet als Übersetzerin, Sie sind mit Büchern aufgewachsen.
Ich war ein literarischer Vielfraß. Habe mir Stapel aus der Bücherei ausgeliehen und gelesen, gelesen. Bushaltestellen verpasst, Spaghettigabeln zur Stirn geführt. Zuerst alle Bücher von Michael Ende, als früher Teenager hatte ich dann eine Stephen-King-Phase, um mir Ängste auszutreiben.
Hat es geklappt?
Nee, nachts um eine Ecke oder auf Klo gehen, das fiel mir alles schwer. Ich musste abends entscheiden, ob ich an der Wand schlief oder an der Bettkante, je nachdem wo die schlimmeren Monster herkamen. Da half Stephen King nicht wirklich.
Woher kam diese Angst?
Fantasiebegabte Kinder haben größere Ängste. Je farbenfroher sie sich die Welt ausmalen können, desto gruseliger sind die Riesen, die unterm Bett oder in der Wand wohnen. Ich kann nach wie vor sehr überzeugendes Kopfkino abrufen. Nur hatte ich als Kind keine Gegenstrategien.
Wenn die Ängste Sie so lange begleiten, haben Sie da den richtigen Beruf als freie Künstlerin gewählt?
In vielen Bereichen, in denen andere ängstlich sind, bin ich ziemlich mutig. Existenzängste kenne ich nicht. Ich habe nie angenommen, dass ich einen sicheren Lebensweg einschlagen würde, obwohl wir nie viel Geld hatten. Natürlich hatte ich Schiss, als ich mit 24 auf die Bühne von „Rock am Ring“ sollte, um als Ersatz für die Rockband Limp Bizkit zu spielen. So viel Angst, dass ich auf dem Weg im Bus bittere Tränen vergossen habe.
Kann man vor tausenden Menschen versagen? Die sind sich doch selbst genug.
Die Menschen kamen ja nicht unseretwegen. Vor dem Limp-Bizkit-Gig haben deren Fans unser Online-Gästebuch vollgeschrieben. Sie wollten Tomaten und Flaschen nach uns werfen. Das will keiner abbekommen. Ich finde es komisch genug, wenn in Österreich Fans ein paar Schlammbeutel schmeißen – als Zeichen der Zuneigung.
Durch diese Auftritte und die Albenverkäufe brauchen Sie sich keine finanziellen Sorgen machen.
Glücklicherweise nicht. Haben Sie aber meine Jacke gesehen? Die ist geflickt. Lange bin ich mit einem abgeranzten Rucksack rumgelaufen, ist mir voll peinlich. Viele Sachen, für die ich viel Geld ausgeben könnte, vergesse ich einfach. Das ist keine Absicht, sondern Desinteresse. Mein Impuls ist, Geld in Freiheit zu übersetzen.
Warum sie "The Voice of Germany" guckt
Und wie frei sind Sie?
Sehr, allerdings merke ich, dass ich empfindlicher reagiere, wenn ich mich eingeschränkt fühle. Zum Beispiel bei Fernsehauftritten. Acht Stunden Zugfahrt, eine Stunde Vorgespräch, eine Stunde in der Maske, drei Minuten vor der Kamera und danach wieder nach Hause. Ist das mein Beruf?
Sind Sie fernsehmüde?
Ich bin weit davon entfernt, kein Medienjunkie zu sein. Zu Hause gucke ich mir alle möglichen Fernsehserien auf DVD an. Live schaue ich mir jedoch nur eine Show an: „The Voice of Germany“.
Ausgerechnet Sie lieben eine Castingshow?
Ich bin viel mehr Sängerin, als anderen Menschen klar ist, und gucke gern fremden Leuten beim schönen Singen zu. Mein Mann Pola, der Schlagzeuger der Helden, guckt sich lieber Drummer-Pornos an, endlose Schlagzeugsoli von Supertechnikern wie Steve Gadd. Ich fühle sehr mit den Menschen, die bei „The Voice“ auftreten.
Möchten Sie sich gerade als Juror bewerben?
Nein, ich kenne ja Fernsehen und weiß, wie viel Mühe ein Auftritt von drei Minuten macht. Daher ahne ich, wie viel Lebenszeit ein Künstler in so eine Sendung steckt. Das merkt man, wenn Nena zu einem der Sänger sagt: „Die Proben waren ja heute schon lang, dafür hast du das echt toll gemacht.“
Im Video zum Titelsong Ihres Albums „Ein leichtes Schwert“ reiten Sie wie ein Ritter durch die Stadt, der einen Kampf gegen Windmühlen führt …
… die Idee kam mir auf der letzten Helden-Tour. Da bin ich mit meinem recycelten Militärmantel über ein Festivalgelände gelaufen, mit breitem Gang wie ein Warlord. War das mein Körpergefühl, in dem ich mein Leben verbringen wollte? Ich habe zu Pola gesagt: Ich muss wieder ein leichteres Schwert führen. Leichtfüßig, tänzerisch.
Mit Schild gewappnet durch Kreuzberg ist nicht so leichtfüßig. Müssen Sie da gut gerüstet sein?
Der Görlitzer Park war der einzige Ort, wo es für das Filmteam und mich mittelwitzig war. Im Wrangelkiez kippt gerade viel durch die Drogenszene. Daran ist nichts schick und alternativ. Gestern habe ich einen Dealer gesehen, der seinen Subdealer auf offener Kreuzung mit einem Gürtel ausgepeitscht hat. Vor aller Augen! Da dachte ich wieder, das muss ich nicht haben.
Kein gutes Pflaster für Familien mit Kindern.
Die Frage stellen sich alle Eltern. Wir sind mit sechs weggezogen, weil ich ganz kränklich war. So ein typisches Kreuzberger Mehlwurmkind mit Augenringen. Meine Mutter dachte, ich müsste raus aufs Land, nach Freiburg. Irgendwann hat man festgestellt, dass Freiburg ein Allergiekessel ist, in dem alle Kinder noch kränker werden.
Mit Ihren Kindern bleiben Sie aber hier. Warum?
In Kreuzberg sind die Menschen der inneren und äußeren Wursteligkeit zugetan, das schätze ich. Man kann auf die Straße gehen, wie man will.
Haben Sie schon Ihren Tour-Rider geschrieben, mit dem Sie Veranstaltern Hinweise geben, was Sie für ihr leibliches Wohl brauchen?
Noch nicht, eine neue Laktose-Intoleranz muss rein, der Rest bleibt wie auf der Helden-Tour.
Noch immer keine „Bild“ hinter der Bühne …
… auf gar keinen Fall …
... obwohl Chefredakteur Kai Diekmann inzwischen einen Bart trägt. Darauf stehen Sie doch.
Sexy ist er deshalb nicht geworden. Auf meine Ablehnung des Werbeangebots für die „Bild“ sprechen mich übrigens nach wie vor sympathische Menschen auf der Straße an.
Daraus stammt der Kultsatz „Ich glaub, es hackt“.
Lieber bin ich für so etwas bekannt als für irgendeine lahme Scheiße.
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