Kunst: Andy Warhols Ruhm-Service
In seiner New Yorker „Factory“ filmte Andy Warhol hunderte Zeitgenossen und nahm vorweg, was heute bei Castingshows und im Internet Alltag ist. Vor 25 Jahren starb der visionäre Künstler.
Dennis Hoppers Stirn wirft Falten. Erst schließt er die Augen, dann blickt er prüfend in die Kamera, als verfolge er sorgenvoll das Bild, das gerade von ihm auf Zelluloid entsteht. Bob Dylan schaut dicht am Objektiv unter den Locken hervor und senkt sanft die Augenlider wie ein gescholtener Junge. Oder Nico, die Sängerin von Velvet Underground. Sie setzt sich lasziv-verträumt in Pose. Man spürt die Zudringlichkeit des Objektivs: Sie weicht den Blicken aus. Sie nimmt eine Zeitschrift in die Hand, legt sie weg. Noch drei Minuten. Sie schaut genervt, streicht sich durchs Haar. Noch zwei Minuten. Ihr Blick versteinert, sie dreht sich weg. Noch eine Minute. Sie wartet. Endlich schieben sich graue Schleier über das Bild, Flecken tanzen vorbei, das Gesicht erlischt.
Vor 25 Jahren starb Andy Warhol. Er hinterließ viele bunte Bilder. Er befreite das Kunstwerk vom individuellen Ausdruck und schenkte ihm die industrielle Serienfertigung. Vor allem aber, und das ist die größere Leistung, überwand er das Kunstwerk selbst. Er arbeitete direkt mit den Mechanismen menschlicher Aufmerksamkeit. Wer die Castinggesellschaft verstehen will, in der wir heute leben, sollte sich seine Serie „Screen Tests“ ansehen.
Über 400 Menschen hat Andy Warhol zwischen 1964 und 1966 auf Film gebannt: Schauspieler, Musiker, Drogensüchtige, Passanten von der Straße. Alle, die Warhol „faszinierend“ fand. Er setzte sie in seinem Atelier, der „Factory“, vor eine Kamera und wies sie an, drei Minuten lang, die Dauer der verwendeten 16-Millimeter-Spule, ganz sie selbst zu sein. Anschließend wurden die Aufnahmen um ein Drittel verlangsamt, was ihnen eine gespenstische, malerische Qualität verleiht.
Es sind die Vorläufer von Youtube- Clips, nur dass die Darsteller nicht reden. Wenn heute Leute vor der Webcam singen, das Weltgeschehen kommentieren oder im Takt die Augenbrauen tanzen lassen, bedienen sie sich unbewusst eines Verfahrens, das vor fast 50 Jahren in New York erprobt wurde.
Die Originalaufnahmen aus der Factory dürfen hier nicht gezeigt werden, kein einziges Standbild. Einige der Screen Tests lassen sich heute auf Youtube ansehen, illegal hochgeladen, teils gefärbt, geschnitten oder mit Musik unterlegt. Dabei stellt jede Hinzufügung ein grobes Missverständnis dar, denn ihre ganze Wirkung entfalten die Clips nur als Stummfilm, als nüchternes Dokument eines mechanischen Aufzeichnungsprozesses.
Freddy Herko, Balletttänzer auf Amphetaminen, zappelt viel, zieht an seiner Zigarette, zeigt den ausgezehrten Bizeps. Die Screen Tests sind auch ein Gesichtskatalog all jener New Yorker Freaks, mit denen sich der eher introvertierte Warhol zu umgeben pflegte. „Die Leute, die ich schätzte, waren solche wie Freddy“, schreibt er in „Popism. Meine sechziger Jahre“, „der Ausschuss des Showbusiness, der in der ganzen Stadt durch die Castings fiel. Sie konnten keine Sache öfter tun als einmal, aber dieses eine Mal waren sie besser als alle anderen.“
Sein krönendes eines Mal hatte Balletttänzer Freddy Herko schon bald nach seinem Screen Test, als er, nachdem er allen Besitz verschenkt hatte, nackt zu Mozarts Krönungsmesse aus dem Fenster tanzte, vier Stockwerke tief.
Die wenigen Minuten Ruhm, die Warhol jedem versprach, haben auch eine dunkle Seite: Erst bist du sichtbar, dann nicht mehr. Die Factory war ein Vorläufer informeller Arbeitsbeziehungen. Bezahlt wurde weniger mit Geld als mit Aufmerksamkeit, und wer sich nicht bemühte, verlor das Interesse des Chefs. Als seine Muse Edie Sedgwick von Selbstmord sprach, kommentierte Warhol kühl: „Ich hoffe, ich bin dabei und habe eine Kamera, wenn sie es tut.“
Die Modelle sitzen mit dem Rücken zur Wand, sie warten ab wie früher neben der Staffelei des Malers. Doch werden sie nicht auf feste Leinwand gebannt, sondern auf bewegte, und das nicht durch einen empfindsamen Künstler, sondern einen Apparat mit gleichgültig vor sich hin ratternden Zahnrädern. Die Screen Tests zeigen, wie stumpf Andy Warhols Kunst war. Und wie offen und großartig. Und wie gefährlich.
Ann Buchanan, Mitbewohnerin von Beatpoet Allen Ginsberg, fließen nach zwei Minuten Tränen über die Wangen. Trotzdem starrt sie weiter in die Kamera. Sie scheint gerührt, getroffen von der Intensität in der Begegnung mit ihrem Bild, das länger bleiben wird als sie selbst. Der Blick ins Objektiv: der Blick in den eigenen Tod.
„Man sah die Personen mit ihrem Bild kämpfen“, schreibt Schauspielerin Mary Woronow in ihren Factory-Erinnerungen, „im Versuch, es zu schützen. Du kannst dein Bild für ein paar Sekunden schützen, aber danach entgleitet es, und dein wahres Selbst scheint hindurch.“ Buchanans Tränen rühren aber wohl auch daher, dass sie auf Warhols Bitte drei Minuten lang aufs Blinzeln verzichtet.
Die Macht, die Warhol mit seiner Factory erlangte, war kurz zuvor nicht abzusehen gewesen. Im Buch „Die Philosophie des Andy Warhol von A bis B und zurück“ erzählt er von der Einsamkeit, in der er als Gebrauchsgrafiker in den 50er Jahren lebte. Die New Yorker Kunstszene war damals von den Abstrakten Expressionisten bestimmt, Machos wie Jackson Pollock und Barnett Newman, die tags in nacktem Oberkörper Farbe auf die Leinwand schütteten und abends in der „Cedar Tavern“ Sprüche klopften. Über deren Künstlerpathos konnte sich Warhol nur amüsieren. Dass er Kunst machen wollte, war klar, es fehlten nur Ideen. Bis ihm eines Tages jemand riet: „Mal’ doch einfach, was du am liebsten magst.“ Warhol malte Dollarscheine, viele Dollarscheine, Serien von Dollarscheinen. 1962 zeigte er dann erstmals in einer Galerie seine Siebdrucke von „Campbell’s“-Suppendosen.
Seinen ersten Film „Sleep“ drehte Warhol mit einer geliehenen Kamera: Beat- poet John Giorno beim Schlafen, fünf Stunden lang. 1963 kaufte er sich seine eigene Bolex und begann alles aufzuzeichnen, was ihm vor die Linse kam. Ein Jahr später pikierte das Magazin „Film Culture“ die New Yorker Undergroundfilmszene, als es seine jährliche Auszeichnung an Warhol vergab – einen Mann, der eigentlich nur die Kamera an- und ausschalten konnte. Wenn überhaupt. Die Screen Tests waren wie die meisten Arbeiten Warhols eine Kollektivproduktion: Assistent Gerard Malanga bediente die Kamera, Fotograf Billy Name das Licht. Von Name stammt auch die Idee, die Atelierwände mit Silberfolie auszukleiden.
Schon als Kind übte Warhol, Sohn armer ungarischer Einwander, die Posen Shirley Temples vor dem Spiegel. Der Einzelgänger verehrte sein Leben lang die Traumfabrik. „Ich liebe Los Angeles“, sagte er. „Ich liebe Hollywood. Sie sind wunderbar. Jeder ist Plastik. Aber ich liebe Plastik. Ich möchte Plastik sein.“
In der Factory war es jeder wert, mit einem Screen Test zum „Superstar“ gekürt zu werden. Die Kamera dokumentierte nicht nur das Leben im Atelier, sie stimulierte es auch. Warhol selbst blieb nach eigener Auskunft nüchtern und nach Auskunft anderer gar zölibatär. Er freute sich an den von ihm organisierten Exzessen und behielt immer die Kontrolle: Ein Voyeur, der das Leben der anderen aufsaugt und zur Ware macht. Am Ende dienten alle Mitwirkenden der Marke Warhol. Er kontrollierte das Bild, das von ihnen zirkulierte, und verdiente daran. So wie heute Medienkonzerne die Schauplätze für Celebritys vergeben und in Castingshows entscheiden, wer auf dem Bildschirm erscheint und wer davor. „Ich wollte immer eine Maschine sein“, sagte Warhol, der ein Tonbandgerät seine Frau nannte. Tatsächlich verkörpert er die Registriermaschine, in deren Blick wir heute alle stehen, als Darsteller unserer selbst.
Schon 1965 interessierte sich Andy Warhol überhaupt nicht mehr für Kunst, sondern nur noch für „Pop“. Mit seinem weiblichen Alter Ego Edie Sedgwick zog er auf Partys, die beiden waren das Lieblingspaar der Magazine. Bei einer Eröffnung in Philadelphia war der Andrang von Fans so groß, dass zur Sicherheit Warhols Bilder von der Wand genommen werden mussten. „Es war fantastisch“, schreibt Warhol: „eine Kunstausstellung ohne Kunst!“ Warhol und Sedgwick ließen sich fotografieren und gaben Autogramme. „Wir waren nicht nur auf einer Kunstausstellung, wir waren die Kunstausstellung.“
Der Mensch selbst als Kunstwerk, das es zu gestalten gilt und das seine Sichtbarkeit sichern muss, um seinen Wert zu halten und zu steigern: Warhol beförderte einen grundlegenden Strukturwandel. Als frühes It-Girl verkörperte Edie Sedgwick die Gesetze der heutigen Celebritykultur: berühmt dafür, berühmt zu sein.
Durch Youtube, Facebook und Webcams sind heute die meisten im Besitz der Produktionsmittel zur Aufmerksamkeitserzeugung. Doch die Chance ist auch ein Zwang: Man muss sich fortwährend interessant halten. 13 500 Internetnutzer ließen sich 2010 vom deutschen Rapper Thomas D bewegen, über ihre Webcam einen Werbeclip für die Telekom zu singen. Abgesehen davon, dass letztlich kaum eine Einsendung erschien, ist doch bemerkenswert, dass Konsumenten heute bereit sind, nicht nur ihre Werbung selbst zu singen, sondern das auch mithilfe der Produkte zu tun, die sie erst erworben haben, um sie dann zu bewerben – aus Sorge, nicht vorzukommen?
Warhol verstand jedenfalls früh, dass Werbung für ein Produkt immer auch Werbung für einen selbst ist, und schaltete 1965 eine Anzeige in der „Village Voice“: „Als Namenspate für folgende Produkte stehe ich bereit: Kleidung, Zigaretten, Kassetten, Sound Equipment, Rock’n’Roll-Platten, alles, was mit Film zu tun hat, Essen, Helium, Peitschen, GELD! Love & Kisses, Andy Warhol.“
Am 3. Juni 1968 blickte der Künstler dann plötzlich in eine Pistolenmündung statt in eine Kamera: Die radikale Feministin Valerie Solana schoss auf ihn, weil er ein Drehbuch von ihr verschlampt hatte. Warhol überlebte und machte noch die von Solana zerschossenen Siebdrucke zu Geld. Die Firma gewinnt immer.
Später gründete Warhol seine Zeitschrift „Interview“, die ausschweifende und kompromittierende Gespräche mit Filmemachern und Popstars sammelte und Schnappschüsse, die er in der Disco „Studio 54“ mit seiner Polaroidkamera machte. Sein Tod während einer Gallenblasenoperation am 22. Februar 1987 kam überraschend. Er wurde 58 Jahre alt.
Vor kurzem erschien „Interview“ zum ersten Mal in einer deutschen Ausgabe. Zum Start flog Warhols Assistent Gerard Malanga nach Berlin, um neue Screen Tests zu drehen. Nicht auf schwerem, vergänglichem Filmmaterial, sondern auf dem Speicherchip einer Digitalkamera.
Kunstsammler Christian Boros raucht und lacht vergnügt. Iris Berben hält ach so empfindsam die Augen geschlossen. Künstler Jonathan Meese macht mal wieder den Führergruß.
Sieht man diese Versuche, wird klar, wie sich die Ökonomie der Aufmerksamkeit seit 1965 verändert hat. Die Absicht ist so schrecklich erkennbar. Diese Selbstdarsteller riskieren nichts. Sie haben das Bild, das sie produzieren, schon während der Aufnahme im Kopf. Während Warhols Modelle ins Ungewisse blickten, sind wir Heutigen daran gewöhnt, erst im Auge der Kamera zu existieren.
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