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Als Erna Scheffler im ersten Senat beginnt, ist sie bereits 57 Jahre alt.
© Simon Müller/Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Verfassungsrichterin Erna Scheffler: Hymne auf eine unterschätzte Figur der Bundesrepublik

Die US-Richterin Ruth Bader Ginsburg ist eine Legende – gerade laufen Filme über sie in den Kinos. Auch in Deutschland gab es eine Frau wie sie: Erna Scheffler.

Ihren letzten Hammerschlag verpasst die kleine Frau dem Patriarchat mit einem Lächeln. Es ist der 29. Juli 1959, als Bundesverfassungsrichterin Erna Scheffler im Karlsruher Prinz-Max-Palais vor die Presse tritt, um der Öffentlichkeit ein Urteil zu verkünden. Ihr Urteil. Ein Leben lang hat sie darauf hingewirkt. Pausbäckig ist die Frau, nur 1,58 Meter groß, großmütterlich wirken ihre Züge. Sie hebt die Stimme. „Die Bestimmungen aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch zum sogenannten ,Väterlichen Stichentscheid‘ sind verfassungswidrig“, sagt Scheffler.

Ihr Lächeln beendet einen Kampf.

Es sind die 50er Jahre. Adenauer regiert, die traditionelle Familie ist ihm Keimzelle und Kraftwerk der Gesellschaft. Männer arbeiten, Frauen stehen am Herd. Männer führen ein Konto, Frauen dürfen das nicht. Arbeiten sie doch, darf der Mann den Vertrag eigenhändig kündigen. Das Bürgerliche Gesetzbuch zementiert die Ungleichheit. Paragraf 1628 zum Beispiel bestimmt, dass in Erziehungsfragen der Vater das letzte Wort zu sprechen habe. Väterlicher Stichentscheid.

Seit ein paar Wochen läuft in deutschen Kinos „Die Berufung“. Die Hollywood-Verfilmung des Lebens der liberalen Verfassungsrichterin Ruth Bader Ginsburg am Supreme Court in den USA. Außerdem gibt es die Dokumentation „RBG“. Ihr Leben widmete Bader Ginsburg dem Kampf für Frauenrechte. Sie wurde zur Ikone, heute gibt es RBG-Merchandise, in der „Late Night Show“ von Stephen Colbert durfte die 85-Jährige neulich ihr Fitnessprogramm vorführen. Die Lebensläufe von Bader Ginsburg und Erna Scheffler ähneln sich. Doch während die eine zum Star wurde, erinnern sich an die andere heute nur noch Experten.

Die Staatsexamina darf sie als Frau nicht ablegen

Eine, die das Leben Schefflers studiert hat, ist Doris König, Richterin am Bundesverfassungsgericht. „Mich inspiriert, wie sie gegen alle Widerstände, mit unheimlicher Beharrlichkeit und Weitsicht in einer Männerwelt für die Rechte der Frauen gekämpft hat“, sagt sie. „Für mich ist sie eine der unterschätztesten Persönlichkeiten in der Geschichte der Bundesrepublik.“

Geboren wird Erna Scheffler 1893 in Breslau, als Tochter einer protestantischen Mutter und eines jüdischen Vaters. Sie singt für ihr Leben gern – gibt ihr Hobby aber auf, als der Vater früh stirbt. Um den Nachlass darf sich die Mutter nicht eigenhändig kümmern, sie ist per Gesetz verpflichtet, einen Vormund einzusetzen. Für Scheffler ein Erweckungserlebnis.

Als sie auf einer Schule für höhere Töchter ihr Abitur machen will, erfährt sie, dass das nicht vorgesehen ist. Sie besteht die Prüfung an einem Knabengymnasium. Als sie in Breslau Jura zu studieren beginnt, ist sie die einzige Frau im Vorlesungssaal. „Ich bin von Kommilitonen und Professoren schlicht ignoriert worden“, sagt sie später. Die Staatsexamina darf sie als Frau nicht ablegen, das bleibt Privileg ihrer männlichen Kollegen. Promovieren darf sie – magna cum laude – , aber ohne Examen bleibt ihr ein Anwalts- oder Richteramt verwehrt. Unterfordert beginnt sie als Hilfskraft in einer Kanzlei.

Sie will in die Justiz und wartet auf ihre Chance

Es sind diese Erfahrungen, die Erna Scheffler antreiben. Sie heiratet, bekommt eine Tochter, ein Leben am Herd strebt sie nie an. Sie will in die Justiz und wartet auf ihre Chance.

Die kommt, als Philipp Scheidemann in Berlin die Weimarer Republik ausruft. Frauen dürfen nun ihr Studium abschließen. Scheffler legt 1922 und 1925 ihre Staatsexamina ab und lässt sich während des Referendariats von ihrem Mann scheiden. In die Justiz darf sie danach noch immer nicht: Zwar ist sie jetzt unverheiratet – eine Grundvoraussetzung für arbeitende Frauen – das Mindestalter hat sie aber noch nicht erreicht, das liegt bei 35. Scheffler muss drei weitere Jahre verstreichen lassen, ehe sie ab 1930 in Berlin als eine der ersten Richterinnen Deutschlands zu arbeiten beginnt.

Doch nach drei Jahren ist schon wieder Schluss. Die Nationalsozialisten kommen an die Macht und verwehren Scheffler als Halbjüdin das Richteramt. Ihre Tochter darf als Vierteljüdin nicht in Deutschland Medizin studieren und wandert nach England aus. Auch die Hochzeit mit ihrem zweiten Mann, Georg Scheffler, dessen Namen sie schließlich annehmen wird, verhindern die Nazis im Jahr 1934. Erna Scheffler erhält ein geringes Ruhegehalt und verteilt während des Krieges Lebensmittelkarten. Das Kriegsende erlebt sie versteckt in einer Gartenlaube in Berlin. Wenige Tage nach der Kapitulation heiratet sie ihren Georg, ebenfalls Richter.

„Männer und Frauen sind gleichberechtigt“

Unter Männern. Nach der Eröffnung des Verfassungsgerichts 1951 präsentieren sich die Mitglieder den Fotografen. Mit dabei auch Erna Scheffler.
Unter Männern. Nach der Eröffnung des Verfassungsgerichts 1951 präsentieren sich die Mitglieder den Fotografen. Mit dabei auch Erna Scheffler.
© SZ Photo/ap/dpa/pa

Die Geschichte von Erna Scheffler wäre nicht denkbar ohne die Geschichte einer anderen Frau, Elisabeth Selbert. Sie saß, von der SPD berufen, nach Kriegsende im Parlamentarischen Rat und debattierte mit den ihr zahlenmäßig überlegenen Männern ein zukünftiges deutsches Grundgesetz. „Ich hatte geglaubt, dass die Festschreibung der Gleichberechtigung in der Verfassung ganz selbstverständlich sei, nachdem die Frauen soviel geleistet hatten in zwei Weltkriegen“, sagte sie später. Ihre männlichen Kollegen wussten das zunächst zu verhindern. Da reiste Selbert durchs Land und forderte Frauen auf, Briefe an den Parlamentarischen Rat zu schreiben. Waschkörbeweise trafen die dort ein. Am Ende triumphierte Selbert und schrieb fünf Wörter ins Grundgesetz: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“

Was das jetzt aber für ein Widerspruch war! Hier die antiquierten Rechtsvorschriften aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch, dort die moderne Verfassung. Es brauchte jemanden, der die Dinge gerade rücken würde. Es brauchte Erna Scheffler. Die musste jedoch erst mal auf die große Bühne.

Es geschieht in Frankfurt, 1950, beim Deutschen Juristentag. Scheffler hält einen Vortrag zur Gleichberechtigung. Sie greift an, was sie rechtspolitisch für überholt hält. Die Zölibatsklausel zum Beispiel, die besagt, dass Beamtinnen gekündigt werden kann, wenn sie heiraten. Oder das ungleiche Steuerrecht. Sie fordert gleiche Hinterbliebenenversorgung für Mann und Frau, streitet für die Freiheit der Namenswahl bei der Hochzeit, gleichberechtigtes Elternrecht und das identische Mindestalter beim Berufseinstieg.

Scheffler zählt eigentlich nur auf, was ihr selbst widerfahren ist. Sie beeindruckt so sehr, dass sie danach in Karlsruhe vorgeschlagen und gewählt wird. Aus der Frau, die damals die einzige Jurastudentin in Breslau war, wird nun die erste Verfassungsrichterin der Bundesrepublik.

Die Männer machen ihr weiter zu schaffen

Als Scheffler im ersten Senat beginnt, ist sie bereits 57 Jahre alt. Elisabeth Selberts Satz aus dem Grundgesetz versteht sie als Imperativ: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“. Nur die Männer machen ihr weiter zu schaffen.

Elf Richter stehen ihr im ersten Senat skeptisch gegenüber. Im April 1954 geht es um die Grundsatzfrage: Sollen die fünf Wörter aus der Verfassung gelten – oder das widersprechende BGB?

Wie genau Erna Scheffler ihre Kollegen überzeugt, ist unklar. Vieles unterliegt dem Beratungsgeheimnis im Senat, manche Akten hat Thomas Darnstädt, langjähriger Spiegel-Reporter, eingesehen und für sein Buch „Verschlussakte Karlsruhe“ ausgewertet. Scheffler konnte knallhart sein, verglich die Situation der Frauen mit der der Sklaven und griff die Kirche an, wo sie konnte. Bei allzu kühnen Vorschlägen Schefflers, berichtet Darnstädt, hätten die Kollegen schon mal an den Rand notiert: „Langsam durch die rabiaten Frauenverbände ausgehöhlt.“ Ein anderer Kollege bezeichnet ein Argument Schefflers als „Geschoss“.

Verfassungsrichterin Doris König weiß von Erna Scheffler, dass sie brillant argumentieren konnte. Außerdem sei sie unerschrocken gewesen. Es wird erzählt, dass sie einem Kollegen einmal im Streit Akten vor die Füße geknallt haben soll.

Am Ende einer ewigen Debatte beschließt das Gericht jedenfalls: Das Grundgesetz zählt, das BGB ist anzupassen.

Das Urteil war die Krönung ihres Werks

Zwölf Jahre bleibt Scheffler in Karlsruhe. Ihr Mann folgt ihr, wird Richter am Bundesgerichtshof. Er unterstützt sie. Was Scheffler am Gericht fordert, lebt sie daheim. Eine glückliche Ehe, gleichberechtigt. Gemeinsam baut das Paar einen Hof außerhalb von Karlsruhe zu ihrem Zuhause um, gern laden sie Freunde zum Abendessen ein. Abends sitzen die Schefflers an ihrem Doppelschreibtisch und arbeiten bis spät in die Nacht an Urteilen.

Das für sie selbst bedeutendste fällt sie 1959. Auf ihr Urteil von 1954 hin hat der Gesetzgeber ein neues Gleichstellungsgesetz verabschiedet, das BGB angepasst. Nicht geändert hat die Regierung aber die Bestimmung zum Väterlichen Stichentscheid. Unvorstellbar, den Vater so in seinen Rechten zu beschneiden. Scheffler nennt das Gesetz „tragisch, wenn nicht lächerlich“. Auf 100 Seiten argumentiert sie, am Ende entscheidet der Senat in ihrem Sinne. Als „Krönung meines Werks“ bezeichnet sie das Urteil.

Und weil Senatspräsident Gebhard Müller krank im Bett liegt, darf Scheffler es selbst verkünden.

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