Wie sich die Profiküche verändert hat: Hitzefrei!
Sterneküche stand für Intuition, Handwerk und glühende Herde. Heute geht es nicht ohne wissenschaftliches Know-how und moderne Technik. Ein kulinarisches Update.
Nichts, so behauptet ein altes Sprichwort, wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Rein technisch mag das zutreffen – aber wird in unseren guten Restaurants überhaupt noch heiß gekocht? Gibt es noch das Zungenverbrennen an einem Löffel brodelnder Suppe, gibt es noch die glühend heiße Deckschicht, die nur unter dem „Salamander“ entstehen kann, dem Profigrill für die letzte Sekunde?
Es hat sich viel geändert an den professionellen Herden in den letzten Jahrzehnten – Zeittakt und Temperatur allem voran. Das hat natürlich mit der Küchenstilistik einerseits zu tun und mit den unzähligen neuen Geräten andererseits, zwei Faktoren, die eine innige Henne-Ei-Beziehung führen, wie wir sehen werden. Manche Köche, die heute am kühlen Induktionsherd der Rente entgegen arbeiten, haben in ihrer Lehre noch das Gegenteil erlebt: Den von keinerlei Arbeitsvorschriften getrübten Einsatz am offenen Feuer, der speziell in Frankreich ein wichtiger Teil der kulinarischen Tradition war, zusammen mit den Ohrfeigen für begriffsstutzige Lehrlinge.
Achtung: Sehr heiß!
Aber auch dort, wo Gas und dicke, gegossene Elektroplatten das Feuer abgelöst hatten, gab es sie ständig, die brüllende Hitze. Denn zum Kochstil des 20. Jahrhunderts gehörte es eben auch, dass diese Hitze ständig verfügbar war – gestandene Profis hatten nie Zeit, darauf zu warten, dass irgendwas erst langsam hochheizt. Töpfeschmeißen, Fingerverbrennen, brodelndes Fett, ordinäres Gefluche, die notorische Hektik, oui, Chef! Am Pass, dort, wo die fertigen Teller für den Service hingestellt werden, gaben Rotlichtlampen noch einmal richtig Hitze, damit nichts auch nur lauwarm nach draußen ging, Achtung, sagten die Kellner dann zum Gast, der Teller ist sehr heiß! So war das damals, nur merkte es draußen kaum jemand, weil die Küche ein sorgsam abgeschotteter Raum war, aus dem nichts nach außen drang.
Das ist alles Geschichte, wo heute modern gekocht wird. Wer selten in ein modernes Restaurant mit offener Küche gerät, der staunt noch darüber: Die Köche bewegen sich ruhig und gemessen, hantieren kaum noch über Herdplatten, reden oft auch kaum – es geht zu wie im Operationssaal bei einem Routineeingriff. Dann kommt ein kaum hörbares Signal, die Köche bewegen sich aufeinander zu wie Fische, wenn Futter ins Aquarium fällt, und basteln komplizierte, vom Küchenchef in jedem Detail festgelegte Tellergemälde zusammen, zu denen jeder einen Teil beiträgt. Einer platziert die Hauptzutat, einer drückt aus einer Plastikflasche farbige Gelpunkte auf den Teller, einer flüchtige Schäume aus dem Siphon, einer kommt mit Gemüsewürfelchen, die er vorher, folienverpackt, aus einer Kühlschublade geholt und rasch in etwas Butter angeschwenkt hat, einer zupft Wildkräuter – und so weiter. Wo es früher um Sekundenpräzision beim Garen, Anrichten und Schicken ging, arbeitet heute ein durchchoreographiertes Ballett, nicht weniger genau, aber ganz anders.
Der Paco-Jet zerfetzt tiefgekühlte Massen
Lärm gibt es in der modernen Küche nur noch, wenn er von Geräten gemacht wird, dann aber richtig. Der heulende Thermomix ersetzt das alte Wasserbad, wenn es um empfindliche Emulsionen geht, der Paco-Jet zerfetzt tiefgekühlte Grundmassen in Sekunden zu geschmeidigem Eis. Was da sonst noch so an Geräten läuft, tut das zeitlich meist Stunden vor dem Finish. Wenn die Köche morgens beginnen, putzen sie Gemüse, filetieren Fische, setzen Saucenfonds an, schweißen viele Zutaten in dicke Folie ein, um sie dann „sous vide“, also im Vakuum, bei niedriger Temperatur vorzugaren – viel Kleinarbeit, die darauf zielt, dass am Ende alles ganz schnell gehen kann, und das Gegenteil der typischen Hobbykoch-Hektik, die immer daher kommt, dass die einzelnen Zubereitungsschritte nicht gänzlich durchdacht und nicht rechtzeitig so weit ausgeführt werden, wie es möglich ist. Den Profi erkennt man immer noch an der „Mise en place“, der exakten Organisation und Vorbereitung des Arbeitsplatzes. Aber dieser Vorgang hat sich eben total verändert.
Jedes Detail wird langfristig festgelegt
Wann ist das passiert? Die großen Starköche im Bocuse-Boom des 20. Jahrhunderts hatten zwar die althergebrachte französische Küche revolutioniert durch neue Kombinationen, verschlankte Rezepte und handwerkliche Genauigkeit, aber ihr Werkzeug blieb traditionell: Es waren Pfannen, Sauteusen, Töpfe auf dem heißen Herd. Die Gerichte selbst entstanden à la minute, und das nicht nur im technischen Sinn.
Der große Schweizer Küchenchef Fredy Girardet machte aus seiner „Cuisine spontanée“ geradezu ein Markenzeichen – es ging darum, mit den frisch und nicht immer vorhersehbar eintreffenden Lebensmitteln blitzschnell etwas Geniales zu zaubern. Über Eckart Witzigmann, den Vater des deutschen Küchenwunders, erzählten seine Leute stöhnend, er sei manchmal mit irgendeinem Produkt, einer Kalbsbrust oder einem unbekannten Wassertier, nachmittags in die Küche marschiert und habe dann Order gegeben, das irgendwie bis abends ins Menü einzubauen, dreisternemäßig selbstredend. Der Witzigmann-Schüler Kurt Jäger, lange Tagesspiegel-Ratgeber, beherrschte diese Disziplin perfekt.
Köche kooperieren mit Wissenschaftlern
Der aktuelle Gegenentwurf sieht so aus, dass jedes Detail eines langen Menüs langfristig festgelegt und in Skizzen oder Fotos festgehalten wird, damit es jederzeit reproduzierbar bleibt. Drei-Sterne- Chefs wie Kevin Fehling in Hamburg treiben diesen Perfektionismus so weit, dass sie pro Jahr nur noch zwei oder drei verschiedene Menüs schreiben. Das ist seltsam, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass das Mantra der „Nouvelle Cuisine“ um 1975 ja die (am liebsten täglich) wechselnde Speisekarte war – jene Revolution, die sämtliche Rezeptklassiker, das Filet Wellington, den Hummer Thermidor, die Daube provencale hinwegfegte und den kreativen Koch überhaupt erst erfand. Heute werden Gerichte so serviert, dass sie jederzeit sofort fürs Kochbuch fotografiert werden könnten. Was dann zumindest fürs Internet und private Zwecke ja auch an jedem zweiten Tisch geschieht.
Entscheidend für diesen Wandel waren Köche, die zusammen mit spezialisierten Wissenschaftlern jeden Kochprozess durchleuchteten und dabei meist herausfanden, dass die Tradition falsch lag. Die alten Gartemperaturen waren viel zu hoch, die Rolle der Zeit war unbekannt, vieles wurde nur so gemacht, weil es immer so gemacht worden war. Zu den ersten neuen Entdeckungen gehörten Erkenntnisse wie die, dass es einen riesigen Unterschied macht, ob man eine Entenbrust schnell von beiden Seiten rosa brät und dann auf den Teller klatscht, ob man sie nach dem Braten wenigstens ruhen lässt – oder nach ganz knappem Anbraten bei nur 120 Grad im Ofen gart.
60 Stunden gart die Rinderbrust
Ein Klassiker der neuen Welle war die in 60 Stunden bei 60 Grad gegarte Rinderbrust, die dann butterweich, aber auch etwas konturlos im Mund zerschmilzt. Taubenbrust, per Niedertemperatur auf makellose Rosigkeit gebracht, ist erst recht ein fades, schwer verdauliches Missverständnis. Nicht umsonst wissen wir aus dem Schlaraffenland, dass die Tauben dort gebraten herumflogen und nicht sous-vide gegart. Steaks werden heute gern „verkehrtherum“ gegart, erst in Folie bei maximal 60 Grad auf perfekte Rosigkeit getrimmt und dann zum Schluss für die Röstaromen in Sekunden angebraten oder angegrillt. Zuhause ganz leicht nachzumachen: Ganze Enten garen im verschlossenen Bräter mit 140 Grad Ofentemperatur in zwei bis drei Stunden wunderbar zart. Und lassen sich auch noch ein oder zwei Tage später per Backofengrill knusprig auf den Punkt bringen.
Bei 40 Grad wird der Lachs marzipanzart
Beim Fisch liegt die Grenze, an der das Eiweiß denaturiert, also „gart“, noch viel niedriger. Kabeljaufilet kann man nach alter Sitte braten, bis es in unansehnliche Teile zerfällt, man kann es aber auch bei 80 Grad in Olivenöl oder auch nur im Ofen unter Folie langsam ziehen lassen, damit es Saft und Form behält. Witzbolde wie Stefan Marquardt, der erste „junge Wilde“, schweißten ein Lachsfilet in Folie und legten es in die Geschirrspülmaschine, wo es dann bei 50 Grad zusammen mit den Tellern fertig wurde. „Mi-cuit“, also halb gegart, lautet der Fachbegriff; schon gut 40 Grad reichen aus, um ein geeignetes Filet, typischerweise Lachs, auf zarte, marzipanähnliche Konsistenz zu bringen. Diese Methode konkurriert mit dem archaischen Tataki-Prinzip der Japaner, die rohes Thunfischfilet außen ganz knapp sehr heiß angrillen. Auch das natürlich viel besser als die alte Methode, alles in der Pfanne so lange zu braten, bis es durch und tot ist.
Schroff wird das Gemüse angeröstet
Daraus folgt allerdings: Ein Filet, das bei 40 Grad gegart wird, kann nicht heiß serviert werden. Zumal dann nicht, wenn es in eine Tellerkomposition eingefügt wird, die überwiegend aus kalten Zutaten besteht oder aus lauwarmen. Laue Temperatur, seit Generationen als Fehler der Küche verrufen, hat beim geeigneten Objekt hohe sensorische Qualität, die sich im Kontrast zu heißen und sehr kalten Elementen gut entfaltet. Aber es liegt auf der Hand, dass ein solcher Teller von einer traditionellen Wärmelampe rasch zerstört würde. Und der vorgewärmte Teller, an dem unsere Vorfahren die Sorgfalt einer Küche prüften, verbietet sich sowieso, wenn das supersensibel gegarte Rotbarbenfilet zum Beispiel mit Tomaten-Olivenöl-Eis serviert wird. Hitze wird nur noch punktuell eingesetzt, speziell beim schroffen Anrösten von Gemüsen auf dem Mini-Grill.
Die Gegenbewegung ist natürlich längst unterwegs, hat den Strebertellern der lange global dominierenden Etepetete-Küche den Kampf angesagt. Schon die etwa ab 2005 einsetzende neue skandinavische Küche mit ihrem Credo der absoluten Regionalität, die zunächst viele Elemente der vorbereitungsintensiven „Molekularküche“ à la Ferran Adrià übernahm, schwenkte nach und nach zum neo-archaischen Ansatz um. Im Kopenhagener „Relae“ lässt Chef Christian Puglisi einfach Kohlblätter in eine brüllheiße Pfanne werfen und gibt auf dem Teller ein Stück geschmortes Lamm dazu. Und kürzlich war in der Küchen-Show „Kitchen Impossible“ zu sehen, wie der erfahrene Modernist Alexander Herrmann im Stockholmer „Ekstedt“ fassungslos auf den Herd starrte: Patron Niklas Ekstedt arbeitet wie seine Vorfahren vor Jahrhunderten ausschließlich mit Holzfeuer. Die Berliner Pioniere gehen – bislang – nicht so weit: die puristische Regionalküche von Micha Schäfer im Nobelhart & Schmutzig oder von Andreas Rieger im „Einsunternull“ wird auf modernem Gerät gekocht. Allerdings gibt es hier ab und zu schon mal wieder was richtig Heißes.
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