Der tapfere Schneider von Mülheim: Helge und wie er die Welt sieht
Helge Schneider führt durch seinen Heimatort an der Ruhr. Unserem Reporter zeigt er viel Hässliches. Und trotzdem: Er fühlt sich hier wohl.
Blendendes Wetter, das könnte jetzt eine schöne gemeinsame Radtour werden – wenn man selbst auch ein Fahrrad mitgebracht hätte. So wird Helge Schneider sein Pinarello-Rennrad eben schieben, während er durch Mülheim an der Ruhr führt. Die Stadt, von der aus er sich seinen Ruf als „singende Herrentorte“ ertingelt hat, viele Jahre bevor jedes Kind „Katzeklo“ mitsingen konnte. Die Stadt, in der er bis heute seine Filme dreht. Die Stadt, in der er 1955 geboren wurde und der er seither die Treue hält – warum eigentlich?
Wer mit dem Zug in Mülheim ankommt, erblickt sofort breitschultrige Wohnhaustürme, die in den 70er-Jahren neben dem Hauptbahnhof hingesetzt wurden. 22 Stockwerke hoch, so groß wie das Europa-Center, nur gleich viermal nebeneinander, ragen sie über der 166 000-Einwohner-Stadt auf. Die Türme sind Landmarken des Reviers wie der Gasometer von Oberhausen – bloß dass bei ihrem Anblick keine Industrieromantik aufkommt. Die Innenstadt, winkt Helge Schneider ab, „das ist schon 1972, 73 kaputt gegangen.“ So vieles habe man damals rund um den Bahnhof abgerissen.
Der Stadthafen soll ja auch ganz schön sein
Mit dem Rad, mit Pilotenbrille, langem Haar und grau gewordenem Schnurrbart sieht der Stadtführer fast aus wie ein alternder Hipster. Zu den Orten, die Schneider vorstellen will – nicht unbedingt aus Begeisterung, wie sich zeigen wird –, gehört Mülheims neues Prestigeobjekt: „Ruhrbania“. Die Nachkriegsanbauten des Rathauses unweit der Ruhr, samt Stadtbibliothek, wurden in den vergangenen Jahren abgerissen. Stattdessen entstehen nun Apartmenthäuser, gehobenes Wohnen am Wasser. Einige Gebäude sind schon fertig, ein Block ist noch Baugrube.
„In Berlin, wenn ich da rumlaufe, da werde ich ständig angesprochen“, erzählt Helge Schneider. „Da steige ich um halb vier morgens aus dem Auto nach ner langen Autofahrt, dann stehen da direkt zwei: Ey Helge. Und dat is hier eben nicht so.“
Im Mai wurde Ruhrbanias Schmuckstück eingeweiht, der „Stadthafen“, eine Anlegestelle, die die Stadt ausdrücklich nicht Marina nennen möchte. Der Makler, der im alten, nun geschlossenen Stadtbad „hochwertige Eigentumswohnungen an der Marina“ anbietet, tut es sehr wohl. Helge Schneider rollt sein Rad über den leeren Bootssteg. 5,95 Euro pro Tag beträgt die Liegegebühr im Hafen, den an diesem sonnig-warmen Augusttag kein einziges Boot angelaufen hat. Es fehlt, mosern Skipper, an vernünftigen Möglichkeiten, die Schiffe zu vertäuen. Und flussaufwärts legt man umsonst an.
Und immer wieder will einer Fotos machen
Trotzdem, eigentlich ist das alles hübsch geworden. Die Öffnung zum Wasser leuchtet dem Besucher unmittelbar ein. „Stadt am Fluss“ nennt sich Mülheim. Es ist die einzige Großstadt der Gegend, deren Zentrum direkt an der Ruhr liegt. In Dortmund, Bochum, Essen fließt der Fluss nur durch beschauliche Vorortstadtteile. In Duisburg trennt der Hafen die Ruhr von der City. Warum also nicht mehr aus dem Alleinstellungsmerkmal, aus der Nähe zum Wasser machen?
Weil es da eben vorher was anderes gab, sagt Schneider: „Ich finde blöd, wenn Gebäude zerstört werden, wo Leute sich wirklich was gedacht haben, und dann wird das irgendso’n Scheiß. Da stand eine dreistämmige Blutbuche, die war, was weiß ich, 150 Jahre alt. Da wird dann vom Grünflächenamt grünes Licht gegeben, dass die weg kann, weil, es ist natürlich wichtiger, dass da ein Apartmenthaus hin kann.“ Eine sehr alte Kastanie gebe es jetzt noch, „die wollten sie auch schon wegmachen. Irgendwann schaffense’s, weisse?“
„Helge Schneider, wie geht es dir?“, brüllen die zwei Betrunkenen, die mit Bierflaschen in der Hand – es ist jetzt etwa halb eins – um die Ecke biegen.
Aus Herner oder Oberhausener Sicht war Mülheim immer etwas Gediegeneres. Noch heute ist die Arbeitslosigkeit hier niedriger. Liegt die Quote in Gelsenkirchen bei mehr als 15, so sind es in Mülheim acht Prozent – weniger als in Berlin. „Mülheim ist immer reich gewesen. Viele Bonzen haben hier gewohnt, weil es schön ist.“ Hierhin wehte der Wind nicht den Ruß des Reviers. Einst lebten in großen Villen die Stinnes, Thyssens, Grillos, Kirdorfs, der ganze Adel des „rheinisch-westfälischen Industriebezirks“, wie man das nannte. Heute wohnt der diskrete Erivan Haub in der Stadt, Besitzer von Tengelmann, wozu Kaiser's, Obi und Kik gehören. Oder Werner Müller, früherer Wirtschaftsminister, dann Evonik-Chef und heute an der Spitze der RAG-Stiftung, die den Steinkohlenbergbau abwickelt. Lange hatte Mülheim einen der höchsten Anteile an Einkommensmillionären in Nordrhein-Westfalen, auch wenn ihre Zahl in der Finanzkrise geschrumpft ist.
„Unser Wahrzeichen!“, sagt der Mann, der am Stehtisch vorm Schnellrestaurant „Bratwurstglöckel“ seine Zigarette raucht, während Helge Schneider ein paar Meter weiter für den Fotografen posiert. „Ohne Bart – sieht direkt 20 Jahre jünger aus.“
Schneider schiebt sein Rennrad jetzt die Fußgängerzone hinunter. In der Schloßstraße reihen sich Textildiscounter, Selbstbedienungsbäcker und Ein-Euro-Shops an Läden, die Juwelen und „GOLDSCMUCK“ anbieten. Viele Geschäfte stehen leer. WMF ist weg, Schuhhaus Böhmer jetzt die Targobank. Nur ein paar rätselhaft Hartnäckige unter den alteingesessenen Einzelhändlern halten durch – „Stoff Müller“ oder „Hüte – Mützen – Schirme Herkendell“. „Kumma hier, der Kaufhof. Wie beschissen“, sagt Mülheims Wahrzeichen mit einem Kopfnicken. Schon vor einem halben Jahrzehnt hat das Warenhaus dicht gemacht. Neuvermieten, abreißen, städtisch nutzen – nichts hat geklappt. Ob er eine Idee für den Kaufhof habe, hat die Lokalzeitung Helge Schneider mal gefragt. „Ja, Kaufhof“, hat er geantwortet.
Die Fußgängerzone haben sie mit schulterhohen Pflanzkübeln vollgestellt, in denen Bäume wachsen; so wirkt die Schloßstraße wenigstens nicht so leer. „Tote Hose“, murmelt Helge Schneider im Vorübergehen. Den Kaffee-Laden, in dem er in jüngeren Jahren sein „Eduscho-Studium“ betrieben hat, gibt es schon lange nicht mehr. Was man zunächst auch für Leerstand hält, ist bei genauem Hinsehen die Dependance einer Kunstgalerie – die das Licht aber heute mal aus lässt. Viele Stunden hat Schneider in diesen Räumen bei billigem Stehkaffee damit verbracht, den Mülheimer „Oppas“ beim Schwadronieren zuzuhören. Aber mit dem Kaffee für 50 Pfennig verschwand auch dieses Publikum. „Die alten Leute sterben irgendwann aus.“
„Dürfte ich auch ein Foto machen“, fragt sehr höflich die junge Frau, die sich in ihrer Mittagspause in die Sonne gesetzt hat. Darf sie. Sie sei übrigens die Schwester der Freundin seines Sohnes, sagt sie.
In seiner Jugend sei Mülheim viel urbaner gewesen, sagt Helge Schneider. Das Thema bewegt ihn. „Damals sah man auch mal irgendso eine ältere Dame im Lederanzug mit ihrem Heinkel-Roller über die Schloßstraße fahren zur Post und Briefe wegbringen. Das gibt’s heute nicht mehr. Das ist weg. Die Stadt ist weg.“ Und auf der Schloßstraße, „da fuhren dann Leute langsam hinter der Straßenbahn her, Arm raus aus ihrem offenen Mercedes.“
Aufgewachsen in der Mau-Mau-Siedlung
Jetzt saugt das „Forum“ unter den Hochhaustürmen mit H&M und Thalia und Bijou Brigitte und dem T-Punkt die Einkäuferschaft auf. Und für die Großeinkäufe gibt es das Rhein-Ruhr-Zentrum, lange das größte überdachte Einkaufszentrum der Republik. Das liegt bequem an der A 40. Die Millionäre, die fahren zum Einkaufen wohl eh lieber nach Düsseldorf, vom grünen Süden aus ist man in 20 Minuten über die Autobahn dort.
Helge Schneider ist im kleinbürgerlichen Dümpten, im Norden der Stadt, aufgewachsen, in einer „Mau-Mau-Siedlung“, Nachkriegssozialwohnungen der Mülheimer Wohnungsbau: „Das war in so kleinen Häuschen. Die sind dann auch teilweise wegsaniert worden.“ Wenn Schneider sich an seine Zeit als angehender Musiker erinnert, fallen ihm die Jazz-Sessions „inner Pizzeria“ ein. „Man hat öfter Live-Musik gehabt. Und dann war mal Modenschau bei Café Sander oder in irgendso’ner Boutique“, sagt er. Im Ruhrgebiet bedeuteten Ortsschilder nie viel: „Ich bin als Jugendlicher immer nach Duisburg gelaufen, oder nach Essen. Weil es hier in Mülheim eben etwas kleiner war. Hier war nur ein so’n Club. Und in Essen gab’s zwei.“
Ebenfalls in Dümpten, in einer Doppelhaushälfte, wohnt Hannelore Kraft, das heute prominenteste Kind der Stadt. Die Ministerpräsidentin ist noch so eine, die außer zum Studium nie aus Mülheim weggekommen ist. Nach Berlin ziehe es die so wenig wie ihn, glaubt Schneider. „Die Hannelore Kraft ist schlau gewesen, hat sich nicht als Kandidatin aufstellen lassen. Das ist so meine Generation. Und da passt man auch ein bisschen auf sich selbst auf. Denn, jetzt frage ich dich mal, möchtest du Kanzler sein? Also ich nicht.“
Wer wohnte im Dorf der Mächtigen?
Ein „Dorf der Mächtigen und Klugen“ hat die WAZ, die es schließlich wissen muss, Mülheim mal genannt. „Wegen mir und Wim Thoelke“, vermutet Helge Schneider. Für Klugheit, und sei sie noch so verdreht, hat Mülheim in seiner Durchschnittlichkeit immer viel Raum gelassen. Auch Schneiders Freund Christoph Schlingensief hat lange hier hier gelebt. Die beiden haben die Stadt zu einem der meist gefilmten Orte des deutschen Independent-Films gemacht. Mülheim, hat Schneider immer wieder gesagt, ist so wie alle Städte: Wer im Mülheim seiner Filme Tristesse erblickt, der finde es wohl bei sich zu Hause auch trist.
Helge Schneider schlendert nun vom Stadthafen einige hundert Meter am Fluss entlang nach Süden, zur Ruhrschleuse. Hier halten die Schiffe der Weißen Flotte („kann ich nicht leiden“), mit denen Tagesbesucher den Fluss hinaufschippern. Hier steht der Wasserbahnhof, ein revierweit seit Menschengedenken beliebtes Ausflugslokal („konnten wir uns früher gar nicht leisten“), und davor seit den 50er-Jahren die große Blumenuhr. Noch so ein Mülheimer Wahrzeichen. Seit ebenfalls 60 Jahren scheint sie hartnäckig falsch zu gehen. Helge Schneider klettert in die Rabatten. Die Uhr zeigt 14.10 Uhr an, dabei ist es 13.30 Uhr.
„Können wir mal ein Bild mit den Kindern machen?“, fragt die Familie aus dem Sauerland, die eine Radtour die Ruhr entlang macht. „Ja sicher, mach ich“, sagt Schneider.
Vor kurzem ist Helge Schneider wieder umgezogen, wieder nur innerhalb Mülheims. Er deutet hinüber auf die vom Wasserbahnhof gesehen andere Ruhrseite, wo der Schornstein eines alten Fabrikgeländes aufragt. „Ich bin jetzt da, wo ich eigentlich auch vor 30 Jahren schon gewesen bin. Und da fühle ich mich eigentlich auch wohl. Merkwürdig, also das ist ein Zuhausegefühl.“ Er schiebt jetzt das Fahrrad auf die Fußgängerbrücke, die ihn über einen Seitenarm der Ruhr in Richtung Zuhause führt. Ein Reiher steht unbeweglich am Ufer, ein Schwarm Wildgänse flattert auf. Idyllisch ist das, mitten im Zentrum einer Großstadt, man kann es gar nicht anders sagen. Und Mülheim ist ja voller schöner Orte wie diesem. Am Kloster Saarn, an den Ruhrauen, in Mintard, wo sich die hochaufgestelzte Autobahnbrücke über den Fluss spannt, im städtischen Kunstmuseum mit der wichtigsten Zille-Sammlung außerhalb Berlins.
Ein Lichtblick: In Almeria erkennt ihn keiner
Dass man stattdessen an leeren Kaufhäusern und leeren Marinas vorbeigelaufen ist, das hat sich Helge Schneider so ausgesucht. Man wird es als Liebesbeweis für Mülheim verstehen müssen. Er mag’s eben nicht, wenn Sachen zerstört werden, wenn es keinen Respekt gibt für die Kaffeebuden, die Eislokale und Eckkneipen, die die Urbanität der kleinen Leute ausmachen. „Manche machen das so, indem sie sogar in die Politik gehen, um ihre Heimatstadt ins rechte Licht zu rücken. Manche haben das nur so gefühlsmäßig eben in sich. Und das bin ich. Das ist meine Heimatstadt.“
Kurz zögert ein Radfahrer, ob er dem Fotografen durchs Bild rollen soll. „Kannz ruhig durchfahren“, ruft Helge Schneider. „Helge!“, ruft der Radfahrer.
Er ist jetzt aber auch öfter in Almería, in Andalusien. Da erkennt ihn keiner.
Niklas Hofmann
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