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Der Atompilz am 9. August 1945 über Nagasaki.
© Mauritius

Japan 1945: Führte die Atombombe auf Nagasaki zur Kapitulation?

Drei Tage nach Hiroshima wird auch Nagasaki zerstört – im Geschichtsbild der Alliierten folgte daraus die Kapitulation Japans. Dabei lässt sich das Kriegsende auch anders deuten. Ein Vorabdruck.

Mit dem Gespür eines Kriminalisten geht der US-Friedensforscher Ward Wilson seit Jahren der viel zitierten These auf den Grund, wonach die Atombomben im Allgemeinen und die Nagasaki-Bombe im Besonderen der Auslöser von Japans Kapitulation gewesen seien. Mag sein, dass der Kaiser selbst in seiner berühmten Rede an sein Volk auf die neue Waffe und die Macht der Wissenschaft verwies, sagt er. Auch sei verständlich, dass schon die zeitliche Abfolge des Kriegsendes die Bombe als wichtigsten Faktor erscheinen lasse. Allein, die These sei falsch. Sie führe ihr erfolgreiches Eigenleben, weil sie dem Westen, wenn nicht der ganzen Welt, bis heute gelegen komme. Und weil die Geschichte des Kriegsendes, vor allem in Amerika, immer zuerst als Geschichte der Bombe erzählt worden sei.

Wilson leitet einen britisch-amerikanischen Thinktank, der sich zum Ziel gesetzt hat, für atomare Abrüstung zu werben. Auch fasste er seine Erkenntnisse in englischsprachigen Büchern und Essays zusammen, wie zuletzt in der US-Zeitschrift „Foreign Policy“ unter dem Titel „Was Japan besiegte, war nicht die Bombe“. Wilson ist ein viel reisender Referent mit dichtem Kalender. Mehrfach befragte ich ihn schriftlich.

Bis Mitte der sechziger Jahre sei US-Präsident Trumans Entscheidung, die Atombomben zu werfen, kaum hinterfragt worden, bilanziert er die Nachkriegsdebatte. Erst danach sei unter Historikern die Kritik aufgekommen, dass Japan bis zur geplanten Invasion im November 1945 ohnehin kapituliert hätte. Selbst wenn die Bombe kurzfristig den Kapitulationsbeschluss Tokios womöglich beeinflusst habe, sei sie mithin nicht notwendig gewesen. „Wenn die Bomben aber nicht notwendig waren“, folgert auch Wilson, „dann war es falsch, sie zu werfen.“ Die Befürworter hätten jedoch weiter darauf beharrt, die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki seien nicht nur nötig, sondern auch moralisch gerechtfertigt und im Ergebnis für viele lebensrettend gewesen. „Beide Seiten einte dabei zumindest der Eindruck, die erschütternde neue Bombentechnologie habe wesentlich dazu beigetragen, dass Japan kapitulierte.“ Genau das aber bestreitet auch Wilson systematisch.

Das erste Problem der traditionellen Interpretation sei der zeitliche Ablauf der Ereignisse. „Das ist ein simpler Befund“, konstatiert er. „Üblicherweise wird festgestellt, dass das US-Militär am 6. August Hiroshima mit einer Atombombe attackierte, dann drei Tage später Nagasaki mit der zweiten und dass tags darauf Japan seine Bereitschaft signalisierte zu kapitulieren.“ Tatsächlich könne man der US-Presse nachträglich kaum vorwerfen, dass sie Schlagzeilen verfasste wie: „Frieden im Pazifik: Unsere Bombe hat es geschafft!“

Wann immer Amerikaner vom Kriegsende erzählten, sei der Bombenabwurf der Höhepunkt der Geschichte. Sie beginne mit der Entscheidung, die Bombe zu bauen, führe über das Geheimlabor von Los Alamos und den ersten Test bis zu Hiroshima und Nagasaki. „Wir erzählen die Geschichte des Kriegsendes also in Wahrheit als die Geschichte der Bombe“, erklärt Wilson. „Man kann aber Japans Entscheidung zu kapitulieren nicht angemessen analysieren, wenn man sie stets im Kontext der Bombe sieht, der ihr von vornherein die zentrale Rolle zuteilt.“

Als die Bombe fiel, tagte der Kriegsrat bereits

Aus japanischer Sicht gelte denn auch eher der Moment als entscheidende Wendung, da der Oberste Kriegsrat erstmals die bedingungslose Kapitulation diskutierte. Dies war am Morgen des 9. August. Obwohl Japans Lage ernst gewesen sei, habe der Kriegsrat bis dahin nie ernsthaft erwogen, die Niederlage anzuerkennen, Japans Glauben und Traditionen aufzugeben und womöglich gar den als Heiligen verehrten Kaiser einem Kriegsverbrecherprozess auszusetzen. „Was also hat die Führer des Landes dazu gebracht, dies an jenem Datum zu tun?“, fragt Wilson. „Nagasaki kann es nicht gewesen sein. Die Bombe fiel erst am späten Vormittag, als der Kriegsrat bereits tagte. Zudem erhielt er die Nachricht vom Abwurf erst etliche Stunden später. Schon aus Zeitgründen kann also Nagasaki nicht der Auslöser ihrer Debatte gewesen sein.“ Hiroshima tauge aber ebenso wenig als Grund, denn diese Bombe sei ganze drei Tage zuvor gefallen. „Wie hätte Japans Führung Hiroshima als Auslöser einer schweren Krise empfinden und dann tagelang nicht darüber beraten können?“

Eine mögliche Antwort, so Wilson: Man habe die Dramatik der Atombombe nur langsam begriffen oder zunächst gar nicht gewusst, dass es sich um eine Atombombe handelte. Die Tatsachen sprächen aber leider dagegen. „Hiroshimas Gouverneur meldete noch am Abwurftag, dass zwei Drittel der Stadt von der Bombe ausgelöscht worden seien. Ein Drittel der Einwohner sei tot. Die Angaben änderten sich in den nächsten Tagen nicht mehr. Also wurde das Ausmaß bereits am ersten Tag in Tokio bekannt.“ Der detaillierte Bericht der Armee, die auf Anamis Empfehlung hin die Bombardierung untersuchte, sei erst am 10. August eingetroffen, mithin nach Einberufung der Konferenz. Also habe weder der erste mündliche noch der spätere schriftliche Bericht über den Horror von Hiroshima die politische Krise in Tokios Führung auslösen können.

Das US-Militär bombadierte seit Wochen

Ein Nachbau der Bombe, genannt "Fat Man".
Ein Nachbau der Bombe, genannt "Fat Man".
© getty

Auch einer zweiten verbreiteten Auffassung widerspricht Wilson. Der Abwurf der Atombombe, hält er fest, gelte zu Unrecht als das wichtigste Einzelereignis des Pazifikkrieges. Auch hier nimmt er zunächst die Perspektive der Japaner ein und findet, auf sie müsse der Bombenabwurf eher wie „ein Regentropfen inmitten eines Hurrikans“ gewirkt haben. Denn schon in den Wochen zuvor habe das US-Militär Japans Städte mit den heftigsten Bombardements der Kriegsgeschichte überzogen. Ganze 68 Städte seien attackiert worden. Eine jede davon sei dadurch teilweise oder völlig zerstört worden. Japan habe 300 000 Tote und 750 000 Verwundete beklagt. 1,7 Millionen Menschen hätten ihre Häuser verloren. „Nacht für Nacht gingen so den ganzen Sommer über Städte in Flammen auf“, betont Wilson. „66 der Angriffe wurden mit konventionellen Bomben geflogen, zwei mit Atombomben.

Auch der Schaden, den die Atombomben anrichteten, sei bereits nahezu üblich gewesen. Einen typischen Luftangriff hätten 500 Bomber geflogen, ein jeder beladen mit bis zu 10 Tonnen Last. Das seien 5 Kilotonnen pro Angriffsziel. Die Hiroshimabombe habe eine Sprengkraft von 16, die über Nagasaki von 20 Kilotonnen erreicht. „Da die Bombenteppiche die Städte noch gleichmäßiger zerstörten als eine einzelne Bombe, die am stärksten in ihrem Explosionszentrum wirkt“, rechnet uns Wilson vor, „könnten manche der konventionellen Angriffe sogar weit größere Ausmaße als die Atombomben erreicht haben.“ Insbesondere die nächtliche Attacke auf Tokio im März 1945, mit der das Städtebombardement begann und die 120 000 Menschenleben forderte, sei bis heute der verheerendste Luftangriff der Geschichte geblieben. All dies vorausgesetzt, sei der Bombenabwurf auf Hiroshima erst an 17. Stelle zu nennen, wenn man den Anteil der zerstörten Stadtfläche als Maß nehme. Das Ereignis habe also durchaus innerhalb des üblichen Rahmens jener Kriegswochen gelegen.

Klaus Scherer.
Klaus Scherer.
© Marie Mayumi

„Uns erscheint Hiroshima einzigartig“, folgert Wilson. „Wer sich aber in die Lage von Japans politischen Führern versetzt, nimmt die damaligen Nachrichten anders wahr.“ Sie hätten schon am 17. Juli als Lagebericht erhalten, dass die vier Städte Oita, Hiratsuka, Numazu und Kuwana zu jeweils zwischen 50 und 90 Prozent zerstört seien. Drei Tage später hätten sie von vernichtenden Angriffen auf drei weitere Städte erfahren, darunter die Großstadt Fukui. Danach seien es sechs Städte gewesen, am 2. August noch einmal vier Städte, darunter das völlig verwüstete Toyama. Am 6. August schließlich kam als Opfer Hiroshima hinzu, mit der Nachricht von schweren Zerstörungen durch einen neuen Bombentyp. „Wenn diese Führer tatsächlich wegen zerstörter Städte kapitulierten“, fragt Wilson auch hier, „warum taten sie es nicht bereits, als die 66 Städte zuvor fielen?“

Würden sich die Bewohner an die Bomben gewöhnen?

Tatsächlich scheinen unter Japans Militärs viele von den zivilen Opfern nicht wirklich erschüttert gewesen zu sein. Selbst nach dem beispiellosen Feuersturm auf die Hauptstadt gaben ihre Wortführer zu Protokoll, die Bewohner würden sich an Bombardements gewöhnen, ja mit der Zeit machten die Angriffe sie sogar stärker. Und während sowohl der Oberste Kriegsrat als auch die Militärführung wiederholt darauf verwiesen, wie wichtig es für Japan sei, dass die Sowjetunion neutral bleibe, schenkten sie dem Ausmaß der Bombardements nie eine ähnliche Aufmerksamkeit. Stattdessen bekräftigte Armeeminister Anami Wilson zufolge noch am 13. August ausdrücklich, die Atombomben seien nicht bedrohlicher als die Brandbomben, denen Japan über Monate hin standgehalten habe.

Auch wenn sich der Hardliner Anami ohnehin bis zuletzt gegen die Kapitulation sträubte, bleibt Wilsons Detailanalyse erstaunlich schlüssig. Das Ereignis, das Japans Führungszirkel wirklich habe umdenken lassen, folgert er, sei Stalins Kriegserklärung gewesen. Zwar habe sich die Armee mit vier Millionen Soldaten noch immer kampfbereit gezeigt. Nur gut ein Viertel davon sei jedoch zur Verteidigung der Kerninseln verfügbar gewesen. Japan näherte sich dem Ende eines Krieges, so Wilson, der verloren war. Jedem sei klar gewesen, dass er nicht mehr lange geführt werden konnte. Die Frage, ob er wirklich noch zu gewinnen war, habe sich nicht mehr gestellt. Das Ziel sei nur noch gewesen, ihn unter bestmöglichen Bedingungen zu beenden.

„Dafür hatte Japan zwei strategische Optionen. Die erste war der diplomatische Weg“, beschreibt der Forscher und verweist auf die Bestrebungen vor allem Außenminister Togos, Moskau als Vermittler eines Waffenstillstands zu gewinnen. „Auch wenn der Plan weit hergeholt scheint, machte er strategisch Sinn. Denn es lag durchaus in Moskaus Interesse, dass die Kapitulationsbedingungen nicht allzu sehr zu Amerikas Vorteil ausfielen. Schließlich bedeutete ein wachsender US-Einfluss in Asien, dass die Sowjetunion dort eher das Nachsehen haben würde.“

Stalin sollte vermitteln

Die Stadt nach dem Angriff.
Die Stadt nach dem Angriff.
© Mauritius

Die zweite Option sei die militärische gewesen. Diese hätten bekanntermaßen vor allem die Hardliner um Anami vorgezogen – mit dem Ziel, den Blutzoll bei Amerikas Invasionstruppen derart hochzutreiben, dass Washington am Ende einvernehmlichen Kapitulationsbedingungen zustimmen würde. „Wenngleich US-Präsident Truman auf bedingungsloser Kapitulation beharrte“, glaubt Wilson, „waren ihm die voraussichtlichen Opferzahlen einer Invasion hinreichend bewusst. Auch diese Option der Japaner war also durchaus schlüssig.“ Damit wäre aber umgekehrt auch Trumans Argument nachvollziehbar, statt einer verlustreichen Invasion die Atombomben einzusetzen, wende ich ein.

„Nur wenn tatsächlich die Atombombe das war, was Japans Strategien durchkreuzte“, antwortet Wilson. „Lassen Sie uns also vergleichen, was sich eher auf Japans Optionen auswirkte. Die Atombomben oder Moskaus Kriegserklärung.“

Nach Hiroshima seien Japan noch beide Optionen möglich erschienen. Man habe nach wie vor auf Stalin als Vermittler gehofft, hätte aber auch den Krieg gegen die Alliierten bis zu einer letzten blutigen Schlacht um das Kernland weiterführen können. „Hiroshimas Zerstörung hatte daran nichts geändert, es hatte die Truppen nicht entscheidend geschwächt, noch ihre Bereitschaft, das Kernland um jeden Preis zu verteidigen“, so der Wissenschaftler.

Keine diplomatische Option mehr

Ganz anders habe sich hingegen Stalins Kriegseintritt am 8. August ausgewirkt. „Auch die Sowjetunion war nun Kriegsgegner und schied als Vermittler aus. Die diplomatische Option war damit nicht mehr verfügbar“, erklärt uns Wilson. „Zugleich veränderte die neue Lage aber auch die Voraussetzungen des erwogenen Endkampfs.“

Japans Truppen konzentrierten sich dafür auf die Südinsel Kyushu, wo die Amerikaner angelandet wären. Nun brachen russische Einheiten in der Mandschurei und auf Sachalin durch, von wo aus die Rote Armee Japans nördliche Hauptinsel Hokkaido besetzen sollte. Man habe kein militärisches Genie sein müssen, sagt Wilson, um zu erkennen, dass es vielleicht noch möglich war, an einer Front gegen eine Großmacht zu kämpfen, aber nicht gegen zwei Großmächte, die aus verschiedenen Richtungen vordrangen. „Ein einziger Umstand hatte beide verbliebenen Optionen Japans zunichtegemacht“, so sein Fazit. „Moskaus Kriegseintritt war strategisch entscheidend. Die Atombombe war es nicht.“

Wilsons Befund deckt sich mit Hasegawas Recherchen, wonach Japans Militärs schon zuvor mehrfach gedrängt hatten, die Sowjetunion unbedingt aus dem Krieg herauszuhalten. Auch der Oberste Kriegsrat hatte bereits im Juni 1945 festgehalten, dass ein Seitenwechsel Moskaus das Schicksal Japans besiegeln würde. Ein Armeevertreter nannte friedliche Beziehungen zu den Sowjets „unabdingbar“, um den Krieg gegen die Alliierten fortzusetzen.

Stalin hatte sich da längst anders entschieden. Tokios Botschafter wies in seinen Telegrammen aus Moskau früh darauf hin, wie wenig die Hoffnung seines Außenministers, des Obersten Kriegsrats und der Armee auf das Wohlwollen der Sowjets von der Wirklichkeit gedeckt war. Doch es war nicht allein das Wunschdenken in Tokio, das den Krieg unnötig verlängerte. Auch Amerikas wohlkalkuliertes Schweigen, obwohl von seinen Abhördiensten voll über Japans Bemühungen informiert, trug dazu bei. Vor allem jedoch war es Stalin selbst, der die Japaner so lange wie möglich in ihrem falschen Glauben wiegte, er stünde als Helfer bereit.

Der Text ist ein Vorabdruck aus Klaus Scherers neuem Buch „Nagasaki. Der Mythos der entscheidenden Bombe“ (Hanser Berlin, 256 Seiten, 19,90 Euro), das am 27. Juli erscheint. Am Montag, 3. August, zeigt die ARD Scherers TV-Dokumentation „Nagasaki: Warum fiel die zweite Bombe?“.

Klaus Scherer

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