Russisch-Japanischer Krieg: Ein Krieg, den keiner mehr gebrauchen kann
Nicht aller Kriege wird gedacht: ein Besuch in der Mandschurei, wo sich einst 600 000 Russen und Japaner bekämpften.
Im Frühjahr 1904 begibt sich Elisabeth von Oettingen, Operationsschwester in Berlin-Steglitz, auf die längste Reise ihres Lebens. Sieben Wochen lang ruckelt sie mit der transsibirischen Eisenbahn bis in den Fernen Osten, wo Japan und Russland im Krieg miteinander liegen. Dessen blutigen Höhepunkt sie am Ende in einem Frontlazarett miterlebt: Bei Mukden, dem heutigen Shenyang, kommt es Anfang 1905 zur bis dahin größten Schlacht der Geschichte. Über 600 000 Soldaten gehen im eisigen mandschurischen Winter aufeinander los, mit Krupp’schen Kanonen auf beiden Seiten. Die deutschen Zeitungen sind voll von Berichten aus diesem unerhörten Krieg – Asien wagt es, Europa herauszufordern. Selbst kleine Blätter wie die Heilbronner „Neckar-Zeitung“ bringen Neuigkeiten vom Kriegsschauplatz.
Die Vergangenheit, verschwunden und vergessen
Besucht man diesen jedoch heute, so erinnert nicht das Geringste mehr daran. Es gibt keine Friedhöfe, kein Museum, keine Denkmäler, keinen Diskurs. Als hätte dieser Krieg nie stattgefunden. Es werden weder Studienreisen noch Symposien noch Geschichtswerkstätten für die Oberstufe veranstaltet. Kein Trauermarsch und kein Salut, kein Händeschütteln über Gräbern, kein Fahnenschmuck und keine Beinhäuser, kein Kirschblütenhain, kein son et lumière.
Für einen Besucher aus Deutschland ein irritierender Befund. Das glatte Gegenteil unserer ebenso inbrünstigen wie automatisierten Erinnerungskultur, die sich derzeit wieder in einer Reihe von Gedenktagen manifestiert. Kaum ist der Beginn des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren absolviert, steht nun der 70. Jahrestag für das Ende des Zweiten Weltkriegs bevor. Wieder wird es eine Fülle von Publikationen und Ausstellungen geben, von Gedenkveranstaltungen und Ehrfurchtsbezeugungen.
Einst tobte hier die Schlacht, heut' tobt nur noch die Stadt
Nichts dergleichen in Shenyang. Es lebt ganz im Hier und Jetzt, lieber noch im Hier und Morgen. In weitgezogenen Sinuskurven kriecht der Hun-Fluss durch den Süden der Stadt, für die zu jener Zeit noch der mandschurische Name Mukden gebräuchlich war. Von hier stammte die regierende Qing-Dynastie. Damals tobte an den Ufern des Hun die Schlacht, heute aber tobt die Stadt, die größte im Nordosten Chinas, ein wichtiger Produktionsstandort auch für die deutsche Automobilindustrie. Auf dem einstigen Schlachtfeld ragen ganze Batterien schicker Wohntürme auf, dazwischen pompöse Hotels und futuristische Arenen.
Man blickt nach vorn und nicht zurück; hier ist kein rechter Platz für tote Seelen. Zumal der Konflikt für China demütigend war. Zwei ausländische Mächte befehdeten einander auf seinem Gebiet, aber es war zu schwach, um sie in die Schranken weisen zu können. Allein die Zahl der bei Mukden eingesetzten Soldaten entspricht dem Fassungsvermögen der zehn größten deutschen Fußballstadien, zum Bersten voll mit wilden Männern. Rund 50 000 blieben auf dem Schlachtfeld. Mit seinen erbitterten Grabenkämpfen, seinen dröhnenden Artilleriegefechten und den rauschhaften MG-Salven geriet der Russisch-Japanische Krieg zur Generalprobe des Ersten Weltkriegs. Doch anders als dieser scheint er heute wie von der Zeit verschluckt. Wo verlief die Front? Wo setzten die Japaner über den Fluss? Wo lagen die Erdbaracken, in denen die internationale Rotkreuzmission, zu der Elisabeth von Oettingen gehörte, Schutz vor dem Frost gesucht hatte?
Die Geschichte ist offiziell vergessen
Weder die Stadtverwaltung noch das japanische Generalkonsulat wissen etwas darüber. In China muss man sich durchfragen; im Zweifelsfall bewahrt die mündliche Überlieferung mehr als die offizielle Geschichtsschreibung. Der Freund eines Freundes ruft schließlich einen Freund in Su Jia Tun an. Bis vor Kurzem ein x-beliebiges Dorf südlich der Stadt, umgeben von Weizenfeldern und Birkenwäldchen – Chinesisch-Sibirien. Doch rasch mutiert es nun zu einem Satellitenvorort.
Dort, wo die japanische Offensive einst begann, finden sich dann doch noch zwei Granitstelen, die wenige Jahre nach dem Krieg von den Kontrahenten errichtet wurden. Die russische in Form eines Patriarchenkreuzes, die japanische in Form eines kleinen Obelisken. Vor einigen Jahren fügte dann auch Su Jia Tun ein symbolträchtiges Monument hinzu: Es baute eine Pagode aus der Ming-Dynastie wieder auf, welche die Japaner zerstört hatten, damit die Russen sie nicht als Ausguck nutzen konnten.
Verwundete Japaner und Russen in bunter Reihenfolge
Als die Stelen errichtet wurden, besuchte ein damals vierzehnjähriger Schüler aus Shenyang einen Klassenkameraden in Su Jia Tun. Er sah die Verwüstungen, er lauschte den dramatischen Berichten der Dorfbewohner. Und er schwor sich, dass China nie wieder zum Spielball fremder Mächte werden sollte. Sein Name war Zhou En-lai. Die meisten chinesischen Intellektuellen aber, darunter auch Sun Yat-sen, identifizierten sich damals noch mit Japan als Exponenten eines starken Asien. Ihre Kollegen in Indien und Vietnam taten es ihnen gleich.
Europa dagegen verfolgte den Krieg mit stillem Schaudern; Japans Sieg war, auf dem Höhepunkt der Kolonialzeit, ein Schock. Überraschend viele westliche Augenzeugen gaben sich damals mitten in der Mandschurei ein Stelldichein: „eingebettete“ Reporter, Militärbeobachter, Missionare, Ärzte und barmherzige Schwestern. Zurück in Steglitz, schrieb Elisabeth von Oettingen ein Buch über ihre Abenteuer. Der Bericht aus dem Lazarett von Mukden klingt gespenstisch. In immer größeren Massen treffen Verwundete ein, „Japaner und Russen in bunter Reihenfolge“. Wegen des gefrorenen Bodens können sie die Toten nicht bestatten, sondern müssen sie in Zelten stapeln. Als die Stadt nicht zu halten ist, muss auch das Lazarett evakuiert werden. „Trage folgte auf Trage.“ Zum Abschied stimmt die Kapelle eines karelischen Regiments „Muss i denn“ an.
Ein Krieg, den keiner mehr gebrauchen kann
Das zentrale Axiom historischer Sinngebung ist es, dass die Schrecken der Vergangenheit zur Läuterung der Gegenwart dienen mögen. Die Inschrift eines Mahnmals im nordfranzösischen Beauvais hält diesen frommen Wunsch exemplarisch fest: „Gedenkt der Toten – verwandelt Euch.“ Der Toten von Mukden aber gedenkt niemand. Weil es ein Krieg war, den keiner mehr gebrauchen kann. China will nicht an seine Schwäche erinnern, Russland nicht an seine Niederlage, Japan, nach allem, was dann noch folgte, nicht an den Beginn seiner imperialen Herrschaft in Ostasien.
Ganz anders verhält es sich etwa im Fall der „Befreiung des Schanghaier Ghettos“, deren 70. Jahrestag im September feierlich begangen werden wird. Dabei tut es wenig zur Sache, dass diese „Befreiung“ in einem geordneten Rückzug der Japaner bestand, der nicht in China erzwungen wurde, sondern in Hiroshima und Nagasaki. Doch sowohl die Länder, aus denen die rund 18 000 Flüchtlinge stammten, vor allem Deutschland und Österreich, wie auch die Länder, in die sie nach dem Krieg übersiedelten, vor allem die USA und Israel, haben ein Interesse an guten Beziehungen zu China, und umgekehrt. Ob eines Krieges öffentlich gedacht wird, darüber entscheiden nicht die Opfer der Vergangenheit, sondern deren Brauchbarkeit für die politischen Akteure der Gegenwart.
Stefan Schomann
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