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Caroline Criado-Perez, 36.
© Rachel Louise Brown

Warum die Welt für Männer ,gemacht' ist: „Frauen werden einfach vergessen“

Der durchschnittliche Mann gilt als der durchschnittliche Mensch, sagt die Autorin Caroline Criado-Perez. Ein Gespräch über Hass, Hormone und Handys.

Caroline Criado-Perez, 36, stammt aus Brasilien und wollte eigentlich Opernsängerin werden, studierte dann aber Englisch in Oxford. Sie lebt in London und arbeitet als Journalistin. Jetzt erschien ihr neues Buch "Unsichtbare Frauen – Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert" (btb Verlag, 15 Euro) auf Deutsch.

Frau Criado-Perez, in Ihrem Buch „Unsichtbare Frauen“ beschreiben Sie die permanente Benachteiligung von Frauen. Dabei sind wir Kanzlerinnen, Ingenieurinnen und Professorinnen – und formal längst gleichberechtigt, oder?
In vielen Ländern der Welt sind Männer und Frauen natürlich theoretisch gleichberechtigt. Doch die Welt, in der wir leben, ist nicht neutral, sondern für Männer gemacht.

Weil sie von Männern gemacht ist?
Nehmen wir zum Beispiel das Auto, eigentlich ein geschlechtsneutrales Fortbewegungsmittel. Wenn die Industrie prüfen will, wie sicher ein Auto ist, arbeitet sie mit Crashtest-Dummies, die gebaut sind wie ein Durchschnittsmann. Frauen sind meist kleiner, leichter und haben weniger Muskelmasse. Wollen sie Gas und Bremse im Auto erreichen, müssen sie ihren Sitz nach vorne schieben. Kommt es zu einem Unfall, ist die Verletzungsgefahr daher für Frauen höher. Die Kopfstütze fängt den Aufprallschock von Frauenkörpern schlechter ab, beim Gurt werden Brüste und Schwangerschaftsbäuche nicht mitbedacht.

Unbedachtheit, oder Ignoranz?
Natürlich herrscht da kein finsteres Männergremium, das Frauen heimtückisch dezimieren will. Wir werden nicht aktiv ausgeschlossen – wir werden einfach vergessen. Unsere Idee von einem sicheren Auto baut auf der Annahme auf, dass der durchschnittliche Mann gleichzeitig auch der durchschnittliche Mensch ist. Dabei gibt es fundamentale Unterschiede zwischen Frauen und Männern, sowohl biologisch als auch sozial. Und diesen Differenzen wird nicht Rechnung getragen.

Wie kommt das?
Jahrtausendelang durften Frauen bestimmte Berufe nicht ausüben und waren vom öffentlichen Leben weitestgehend ausgeschlossen. Männer haben die Entscheidungen getroffen und nur ihre Perspektive eingebracht. Dadurch wurde ihre Weltsicht als Maßstab zementiert, ihre Körper als Norm behandelt. Und das zeigt sich nicht nur bei Smartphones, die zu groß für Frauenhände sind oder Unisex-Polizeiuniformen, in die keine Brüste passen. Das zeigt sich auch daran, dass medizinische Studien mit Männern durchgeführt werden und dann davon ausgegangen wird, dass die getesteten Medikamente bei Frauen gleich wirken. Es gibt eine riesige Datenlücke, was das Leben und den Körper einer Frau angeht.

Sie haben 2017 in Großbritannien eine Kampagne gestartet: Sie wollten, dass neben der Queen eine weitere Frau einen Geldschein ziert. Jetzt gibt es einen Zehn-Pfund-Schein mit dem Bild von Jane Austen. Daraufhin wurde Ihnen mit Mord und Vergewaltigung gedroht. Sie mussten für einige Zeit London verlassen.
Diesen Hass zu erfahren, war schrecklich. Die Menschen waren so unglaublich wütend. Wegen eines Geldscheins! Diese Erfahrung war so grundlegend für mich, dass ich sie teilen wollte. Denn ich bin selbst das beste Beispiel dafür: Man kann seine Meinung ändern! Ich war lange keine Feministin, dachte, das sei alles Schwachsinn. Dann las ich in einem Buch darüber, dass wir selbst bei geschlechtsneutralen Bezeichnungen an Männer denken und nie an Frauen. Wenn wir Fußball sagen, meinen wir Männerfußball. Das ließ mich straucheln. Ohne dass ich es wusste oder wollte, hatte ich in meinem eigenen Kopf Männer zur Norm gemacht – dabei bin ich selbst eine Frau!. Als ich anfing, darauf zu achten, sah ich dieses Vorurteil überall.

Nachdem sie sich für einen Zehn-Pfund-Schein mit dem Bild von Jane Austen eingesetzt hatte, wurde Criado-Perez mit Mord und Vergewaltigung gedroht.
Nachdem sie sich für einen Zehn-Pfund-Schein mit dem Bild von Jane Austen eingesetzt hatte, wurde Criado-Perez mit Mord und Vergewaltigung gedroht.
© Reuters

Erhoffen Sie sich diesen Effekt auch bei Ihren Lesern?
Klar. Einem Bekannten von mir, der medizinische Studien betreut, fiel zum ersten Mal auf, dass in seiner Alzheimerstudie immer Männer als Referenzpunkt ausgewählt wurden. Dabei kommt Alzheimer bei Frauen öfter vor.

Ertappen Sie sich manchmal selbst noch bei der alten Denkweise?
Natürlich! In Großbritannien gibt es eine Initiative, die Frauen für technische Berufe begeistern will. Fraglos eine gute Idee. Bis jemand vor ein paar Tagen zu mir sagte: Wir brauchen nicht nur mehr Frauen in der Wissenschaft – wir brauchen auch mehr Männer, die im Kindergarten arbeiten. Das hat mich kalt erwischt. Hier steht wieder der gleiche Fehler dahinter: Gibt es ein Ungleichgewicht, gehen wir davon aus, dass Frauen sich verändern und anpassen müssen.

Frauen in Führungspositionen besuchen Kurse für mehr Selbstbewusstsein und Durchsetzungskraft. Warum glauben so viele, dass ein männliches Level an Selbstbewusstsein zum Erfolg führt?
Studien zeigen, dass Frauen ihre Intelligenz und Fähigkeiten zutreffender einschätzen können als Männer. Die männlichen Verhaltensweisen werden also als geschlechtsneutraler Standard für den Arbeitsplatz gehandelt. Dabei kommt die Frage zu kurz, ob wir ein Büro voller Menschen haben wollen, die sich selbst überschätzen.

Die „Financial Times“ lobte Ihre „kühle, faktenbasierte“ Argumentation. Wie finden Sie das?
Das trifft mein Ziel ganz gut. Nicht, weil ich Feminismus per se für emotional halte. Aber wenn wir versuchen, auf systemische Ungerechtigkeiten hinzuweisen, greifen wir oft auf unsere individuellen Erfahrungen zurück. Vor Kurzem bin ich nachts mit meinem Freund von der U-Bahn nach Hause gelaufen, als uns zwei betrunkene Männer entgegenkamen. Auf einmal war ich total angespannt. Haben die mich schon gesehen? Wie weiche ich ihnen am besten aus? Kann ich mich zur Not mit meinem Schlüssel verteidigen? Mein Freund hat einfach weiter von seinem Tag erzählt und Witze gerissen. Während die Typen für ihn unsichtbar waren, lösten sie bei mir eine Kettenreaktion aus. Ich dachte plötzlich an Geschichten von Freundinnen, Bekannten und Kolleginnen, wo zwei harmlose Männer plötzlich gefährlich geworden sind. In solchen Momenten wird mir schlagartig klar, dass wir in verschiedenen Welten leben. Einfach nachts durch die Straßen laufen, ohne mir die geringsten Gedanken zu machen …

Für viele Frauen schwer vorstellbar.
Ja. Und diese Erlebnisse zu vermitteln, ist sehr schwer. Sie werden als ein Einzelfall gesehen, nicht im Kontext. Mit dem Buch wollte ich mich davon entfernen: Statt aus der Perspektive einzelner Frauen zu erzählen, zeige ich anhand von Beispielen den roten Faden: Studentinnen bekommen weltweit seltener Stipendien oder Mentoring. Weibliche Putzkräfte arbeiten mit Chemikalien, die nur an Männern getestet wurden und werden krank. Nach dem Tsunami in Sri Lanka 2004 wurden Frauen nicht in das Wiederaufbauprogramm einbezogen, und in den neuen Wohnungen fehlten Küchen. Wird eine Gesetzesvorlage in den USA hauptsächlich von Frauen unterstützt, geben die Bundesstaaten weniger Geld dafür aus. Das sind keine Zufälle. Das ist ein Muster.

Welchem Geschlecht wir angehören, ist nicht der einzige Faktor, der unser Leben beeinflusst. Es macht auch einen Unterschied, ob man als weiße oder schwarze Frau durchs Leben geht. Wie hat das ihre Recherchen beeinflusst?
Sehr wenig. Nicht, weil diese Faktoren keine Rolle spielen, sondern weil dazu noch viel weniger Daten bekannt sind. Auch gilt wieder: Standard ist ein weißer Mann. Sollen die Datensätze aufgeschlüsselt werden, kann man sie mit etwas Glück in Männer und Frauen unterteilen. Aber feiner wird da nicht sortiert. Ich kann herausfinden, wie viele Professorinnen es in den USA gibt. Ich kann herausfinden, wie viele schwarze Professoren und Professorinnen es gibt. Aber nicht, wie viele schwarze Professorinnen. Entweder du bist schwarz oder eine Frau. Und das führt dazu, dass hier noch eine größere Datenlücke entsteht.

Und die Lösung? Noch mehr Daten sammeln?
Ja und nein. Wir müssen nicht nur mehr Daten und Informationen sammeln, wir müssen sie auch vernünftig aufschlüsseln. Werden Frauen und Männer einfach in eine Gruppe gepackt und untersucht, gehen wichtige Erkenntnisse unter. Daten sind grundsätzlich nicht neutral. Sie sind kein unveränderlicher Stoff, den wir einfach in der Natur finden und verarbeiten. Hinter jedem Datensatz und jeder Statistik steht eine Reihe an Fragen: Welche Daten sammele ich? Welche Fragen will ich damit beantworten? Wen befrage ich zu einem Thema? Das sind bewusste Entscheidungen, die jemand trifft. Und dabei vielleicht Frauen vergisst.

Mit dem Gebrauch von Apps, Smartphones und immer mächtigeren Algorithmen spielen Daten eine immer größere Rolle.
Das muss man differenziert betrachten. Wenn Daten über unsere Präferenzen beim Schuheinkauf gesammelt werden, können uns zwar vielleicht schönere Schuhe empfohlen werden. Hier ist die Motivation klar: Uns soll etwas verkauft werden. Aber was ist mit medizinischen Daten? Wir wissen einfach nicht genug über den weiblichen Körper. Ärzte diagnostizieren Frauen reihenweise falsch, weil sie an männlichen Körpern gelernt haben. In den USA sind öffentlich geförderte medizinische Studien erst seit Kurzem dazu verpflichtet, auch Frauen zu berücksichtigen. Für private Studien gilt das nicht – und 80 Prozent der Studien werden nur mit Männern durchgeführt. Aber unsere Körper sind verschieden – andere Hormone, andere Knochenstruktur und andere Verteilung der Muskelmasse. Also wirken Medikamente anders, und Krankheiten verlaufen anders.

Welche Folgen hat es, wenn wir einen Algorithmus ohne Frauendaten trainieren?
Forscher an der University of Washington haben einen Algorithmus mit einem Bilderset gefüttert, in dem Frauen 33 Prozent häufiger am Herd standen als Männer. In einem neuen Bilderset erkannte der Algorithmus in 68 Prozent der Fälle eine Frau am Herd, selbst wenn dort ein glatzköpfiger Mann stand. Der Versuch sollte zeigen, dass Algorithmen keine neutralen Entscheidungen treffen, sondern dass sie unsere eigenen Vorurteile verstärken. Wenn ein Algorithmus nur Bilder für Instagram sortiert, ist das ein bisschen nervig, aber nicht weiter schlimm. Aber wenn ein Algorithmus nur mit Männerdaten trainiert wird und deswegen Brustkrebs nicht erkennt, ist das tödlich.

Wie kann das verhindert werden?
Indem Frauen überall dabei sind. Diversität ist nicht nur dazu da, um eine schön bebilderte Werbekampagne zu starten und sich dann zufrieden auf die Schultern zu klopfen. Diversität entscheidet, ob ein Produkt für alle Menschen funktioniert. Apple zum Beispiel hat für das iPhone eine Gesundheitsapp entwickelt – und dabei vergessen, dass rund die Hälfte der Bevölkerung einmal im Monat ihre Periode bekommt. Natürlich ist das keine Absicht. Aber einer Frau wäre dieser Konstruktionsfehler aufgefallen.

"Jede Studie dazu zeigt, dass Quoten nicht etwa unterqualifizierte Frauen bevorzugen", argumentiert Criado-Perez.
"Jede Studie dazu zeigt, dass Quoten nicht etwa unterqualifizierte Frauen bevorzugen", argumentiert Criado-Perez.
© dpa

Brauchen wir eine Frauenquote?
Absolut und überall. Jede Studie dazu zeigt, dass Quoten nicht etwa unterqualifizierte Frauen bevorzugen. Sie verhindern lediglich, dass unterqualifizierte Männer bevorzugt werden. Eine Quote zwingt uns die Beobachtung auf, dass Männer überrepräsentiert sind. Aber sie allein bringt uns nicht weiter. Wenn es eine Frauenquote in der Politik gibt – wer ist in der Lage sie zu füllen? Eine Frau aus der Arbeiterklasse, die zusätzlich zu ihrem Job noch einen Haufen unbezahlte Arbeit leistet? Oder eine wohlhabende Frau, die sich eine Haushaltshilfe leisten kann?

Wie kann hier der Zugang verbessert werden?
Indem wir sozialen Rollen Rechnung tragen. Wenn wir Bürgerversammlungen oder politische Events veranstalten, müssen wir uns ganz genau anschauen, wer kommt. Frauen leisten weltweit 75 Prozent der sogenannten „Care-Arbeit“, also Waschen, Putzen, Kochen, Kinder und ältere Verwandte betreuen. Und das, während sie oft noch einer bezahlten Arbeit nachgehen. Dadurch haben sie weniger Freizeit als Männer. Wenn sich also hauptsächlich Männer engagieren, liegt das nicht daran, dass Frauen Politik egal ist. Sie sind wahrscheinlich mit einer anderen Aufgabe beschäftigt. Hier müssen wir uns aktiv bemühen, herauszufinden, was Frauen daran hindert, bestimmte Ämter, Jobs und Rollen zu füllen. Und dann korrigieren.

Ein Handy extra für Frauen zu entwickeln ist eine Sache – aber wie weit können diese Spezialdesigns gehen? Was, wenn die Autos für Männer unsicher werden?
Was, wenn wir die Pedale verstellbar machen, sodass Frauen nicht mehr nach vorne in die Gefahrenzone rücken müssen? Oder einen Gurt entwickeln, der für Schwangerschaftsbäuche und Brüste angepasst werden kann? Damit hätten wir ein Auto, das sicher für Männer und Frauen ist. Bei anderen Produkten brauchen wir dann einfach zwei Versionen, statt Frauen irgendwie in die „Unisex“-Version zu quetschen. Das gleiche müssen wir für unsere politischen Systeme, unsere Stadtplanung und unsere Arbeitsplätze leisten: Viele verschiedene Frauen aktiv dazu befragen, was sie brauchen. Das wird schwierig, weil alle so daran gewöhnt sind, Männer in den Mittelpunkt zu rücken. Jedes Zugeständnis wird sich wie eine Benachteiligung anfühlen. Aber Frauen machen seit Jahrtausenden Zugeständnisse an eine Welt, die nicht an sie denkt. Es ist echt nicht so schwer, auch mal an andere Menschen zu denken.

Viola Heeger

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