zum Hauptinhalt
Cybergroomer nähern sich ihren Opfern oft über Onlinespiele.
© Thomas Zajda/Fotolia

Cybergroomer: Missbrauch im Internet: Falsche Freunde im Netz

In Chats verbergen sich Pädophile hinter Pseudonymen und geben vor, selber Kind zu sein. Wie die Polizei dagegen kämpft und was Eltern tun können.

Es ist 18 Uhr an einem Abend im März und Kyra Martin* spielt bei sich zu Hause in einer Kleinstadt in Thüringen „Quizduell“ auf ihrem Smartphone. Man kann gegen seine Facebook-Freunde oder gegen einen zufälligen Spielpartner antreten. Die App hat Kyra „Flori17“ zugelost. Während die beiden um die Wette Fragen beantworten, unterhalten sich Kyra und „Flori17“ über die Chatfunktion des Spiels.

„Hi wie alt bist du?“, fragt „Flori17“.

„Zehn“, antwortet Kyra.

"Was willst jetzt?"

„Hast Whatsapp?“, fragt „Flori17“.

Kyra schickt „Flori17“ ihre Handynummer, damit er sie über die Chat-App kontaktieren kann. Dort unterhalten sie sich nun zu dritt, Kyra, „Flori17“ und eine gleichaltrige Freundin von Kyra, die ebenfalls gerade online ist.

18.10, Flori17: „Was willst jetzt?“

18.10, Kyra: „Nichts. Warum?“

18.12, Flori17: „Aha moch mal a geilers bild“

18.31, Kyra: „???“

18.31, Flori17: „So in BH war geil bitte bitte“

Dazu schickt „Flori17“ drei Herzchen. „Ne“, schreibt Kyra zurück. Dann löscht sie den Chatverlauf. Kyras Freundin erhält ähnliche Aufforderungen. Am nächsten Tag erzählen beide Mädchen ihren Eltern von dem Erlebnis.

Sie erschleichen sich das Vertrauen

Typisch klinge der Fall, sagt der Kriminologe Thomas-Gabriel Rüdiger und seufzt – „typisch“ für den Annäherungsversuch eines „Cybergroomers“. Rüdiger klickt auf seinem Notebook durch eine Präsentation, die er schon oft gehalten hat, vor Eltern, Lehrern, Polizisten und im Bundestag. Der Blick durch das Wohnzimmerfenster geht auf märkische Felder. Rüdiger ist Lehrbeauftragter an der Fachhochschule der Polizei in Brandenburg und schreibt gerade an seiner Doktorarbeit zum Thema „Cybergrooming“.

Das englische Wort „grooming“ heißt im kriminologischen Kontext so viel wie „sich das Vertrauen eines Opfers erschleichen“. Beim „Cybergrooming“, erklärt Rüdiger, nutzen Sexualtäter die Möglichkeiten anonymisierter Kommunikation im Netz, um mit Kindern und Minderjährigen Kontakt aufzunehmen. Sie versuchen es in sozialen Netzwerken oder Chatforen, besonders häufig aber über Onlinespiele. Über die Hälfte aller Sechs- bis Siebenjährigen spielt Studien zufolge online und die Täter sind ihnen dorthin gefolgt, auf Kinderchatplattformen wie „Knuddels“ oder „ICQ-Teen-Chat“, in Spielwelten wie „Habbo Hotel“ oder „Minecraft“ und in Apps wie „Quizduell“. Fast allen Spielen ist gemeinsam, dass eine Überprüfung des Alters oder der Identität bei der Anmeldung nicht stattfindet. Heißt „Flori17“ tatsächlich Florian? Ist er 17 – oder schon 50?

Der Vater erstattet Anzeige

Cybergroomer nähern sich ihren Opfern oft über Onlinespiele.
Cybergroomer nähern sich ihren Opfern oft über Onlinespiele.
© Thomas Zajda/Fotolia

Rüdiger unterscheidet grundsätzlich zwei Tätertypen. Die einen sind, wie „Flori17“, sehr direkt und kommen schnell zur Sache. Sie bieten den Kindern teilweise Geld, Spielgeld oder käufliche Gegenstände aus der jeweiligen Spielewelt an. Der zweite Tätertyp geht bedächtiger vor und strebt oft an, das Kind langfristig zu einem Treffen in der realen Welt zu bewegen. „Beide Tätertypen haben allerdings das gleiche Ziel: den sexuellen Missbrauch. Ob er nun physisch stattfindet oder virtuell, zum Beispiel über eine Tonverbindung oder die Kamera.“

Nachdem Kyra ihren Eltern vom Chat mit „Flori17“ erzählt hat, erstattet ihr Vater Helge Anzeige bei der Polizei. Die Eltern von Kyras Freundin verzichten darauf, doch über ihr Handy lässt sich der gelöschte Chatverlauf rekonstruieren. Auch die Nummer des Handys, das der Täter benutzt hat, liegt vor. Helge Martin übergibt alles der Polizei.

„Ich zeige Ihnen mal was“, sagt Rüdiger und führt in sein Büro. Auf einem PC ruft er „Habbo Hotel“ auf und loggt sich unter dem Namen „Pinky11“ ein. In der Spielwelt von „Habbo Hotel“ kann man mit den „Avataren“ der anderen Spieler interagieren. „Pinky11“ steht in einem Raum, der aussieht wie eine Kinder-Disco, überall blinkt es. Ein männlicher Avatar mit roten Haaren bewegt sich auf sie zu: „Hi wie alt?“

„hi 12 und du?“

„15 hast du skype?“ Am linken Bildschirmrand kann man in einem Fenster die Chats der anderen mitlesen. „bobba mich“, schreibt da gerade jemand. Das ist ein Codewort, um die Filter der Betreiber zu umgehen. Es steht für „Fick mich“.

Rüdiger öffnet parallel „ICQ Teen Chat“. Hier ist Rüdiger „Mara13“. „Hallo bist du dick?“, will Bodo1001 von Mara wissen. „Hast du lust dir viel Geld zu verdienen.“ Auch „Rich-Leggy“ bietet Mara Geld an: „Du lässt dich richtig schön einreiten. Von mehreren älteren Ausländern.“ Und „Der Eddie“ schreibt einfach nur: „Bist du feucht?“

Die Eltern sollten den Kindern in die Online-Welt folgen

Cybergroomer nähern sich ihren Opfern oft über Onlinespiele.
Cybergroomer nähern sich ihren Opfern oft über Onlinespiele.
© Thomas Zajda/Fotolia

Wie verbreitet „Cybergrooming“ ist, lässt sich nicht sicher in Zahlen fassen. Die Polizeistatistik weist diese spezielle Form des Missbrauchs nicht gesondert aus. Ohnehin ist das Dunkelfeld bei Sexualdelikten hoch. Rüdiger geht davon aus, dass beinahe jedes Kind, das heute im digitalen Raum aufwächst, irgendwann einmal Kontakt mit einem „Cybergroomer“ hat. Bei der Operation „Hardes“, einer Aktion der Internet-Spezialeinheit der Generalstaatsanwaltschaft Hessen gegen „Cybergroomer“, hatten zwei verdeckte Ermittlerinnen innerhalb von zehn Tagen Kontakt mit 395 Tätern. 39 wurden verurteilt. Nach Angaben von FEO Media, dem schwedischen Unternehmen, das „Quizduell“ entwickelt hat, erhält es jedes Jahr von etwa zehn bis 15 Anbahnungsversuchen über die App Kenntnis. Das Spiel hat in Deutschland 20 Millionen angemeldete Spieler.

„Cybergrooming“ ist strafbar. Wer „mittels Schriften oder mittels Informations- und Kommunikationstechnologie“ auf Kinder „einwirkt“, um sie zu sexuellen Handlungen zu bewegen, handelt gegen den Paragraf 176, Absatz 4 Strafgesetzbuch. In der Praxis ist es allerdings oft schwierig, die Täter zu überführen. Chatten Täter mit verdeckten Ermittlern, können sie nicht belangt werden. Einige Politiker, darunter etwa die hessische Justizministerin Eva Kühne-Hörmann (CDU), fordern deshalb eine weitere Gesetzesverschärfung.

Anfang Juni teilt die Staatsanwaltschaft Passau Helge Martin schriftlich mit, dass das Verfahren gegen den Beschuldigten eingestellt wurde. Zwar konnte die Handynummer tatsächlich einer konkreten Person zugeordnet werden. Weil sich der Chatverlauf aber nur indirekt rekonstruieren ließ, sei „ein Tatnachweis nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit zu führen“. Oberstaatsanwältin Ursula Raab-Gaudin, die in Passau für Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zuständig ist, sagt, es sei ungewöhnlich, dass ein Täter eine nachvollziehbare Handynummer nutze. Der Beschuldigte im Fall Kyra Martin ging vermutlich so unbedarft vor, weil er zum Tatzeitpunkt gerade erst 15 geworden war.

Nach allem, was ihr schon untergekommen ist, erscheint Raab-Gaudin der Fall Kyra Martin minder schwer. Sie erinnert sich an einen 2014 verurteilten Täter, der eine 13-Jährige über einen Jugendchat kontaktiert und sie immer wieder aufgefordert hat, sich zu entjungfern. In einem anderen Fall erpresste der Täter ein Mädchen mit Bildern und brachte sie dazu, sich vor der Webcam zu ritzen. Die Jugendlichen, sagt Raab-Gaudin, tauschten heute ihrer Beobachtung nach auch untereinander oft Nacktbilder, besonders Mädchen definierten sich stark über ihre Körper und hätten kaum Hemmungen, sich in sexuell aufgeladenen Posen zu zeigen. Das erleichtere den Tätern das Vorgehen.

Der Kriminologe Thomas-Gabriel Rüdiger appelliert deshalb an die Eltern, sich mehr mit der Onlinewelt ihrer Kinder zu befassen. Die Täter, sagt er, sind den Kindern in die Onlinewelt gefolgt. Die Eltern sind es nicht.

*Die Namen von Kyra Martin und ihrem Vater wurden geändert, ebenso die Nicknames von Rüdiger und dem Beschuldigten im Fall Kyra.

Zur Startseite