Doggy bags gegen Lebensmittel-Verschwendung: Einpacken, bitte!
Wenn der Mensch seinen Kampf gegen das Schnitzel verliert, schlägt die Stunde der Doggy Bags: einst belächelt, nun designt und als nachhaltig gefeiert. Ein Essay.
Oh Gott, wie peinlich. Wie abgrundtief peinlich. Während wir Kinder uns wanden vor Scham in dem Essener Selbstbedienungslokal, wickelte unsere Mutter ungeniert alles, was auf dem Teller übrig geblieben war, in eine Serviette und ließ das Päckchen in ihrer riesigen Handtasche verschwinden. Essen wegwerfen, das kam für sie nicht in die Tüte. Sie war die Generation Krieg. Und von Doggy Bags hatte im Ruhrgebiet der 60er Jahre noch kein Mensch gehört. Als zu jener Zeit eine andere Dame im benachbarten Mülheim die Bedienung bat, ihr die Reste des Koteletts „für den Hund“ einzupacken, kam die Kellnerin freudestrahlend mit einer ganzen Tüte voller Knochen zurück.
Heute gibt es Spanier, die Doggy Bags für eine deutsche Erfindung halten: Wenn sie in Berlin in einem Lokal sitzen und ungefragt das, was sie nicht verputzt haben, in Alufolie gewickelt auf den Tisch geknallt bekommen. Da! So was, glauben die Südländer, können sich nur Germanen ausgedacht haben, so was knausrig Unkultiviertes. Haben sie aber nicht, das sind die Amerikaner gewesen, dort ist das Einpacken gang und gäbe. Was nicht weiter verwunderlich ist, im Land der Superlative sind die Portionen meist so riesig, dass man sie unmöglich bewältigen kann. Außerdem wurde in der automobilen Gesellschaft das food to go erfunden, was heißt: Die Verpackungen sind eh da. Und zu Hause steht die Mikrowelle bereit.
Müssen die armen Hunde also als Alibi für ihre Herren herhalten, denen der Mumm fehlt, für sich selber zu fragen. Allerdings, so hat das Smithsonian Institute, Hüterin des historischen US-Erbes, herausgefunden, waren die Doggy Bags anfangs tatsächlich für Vierbeiner gedacht. Wegen der Lebensmittelrationierung im Zweiten Weltkrieg machten sich Tierfreunde Sorgen, dass die Vierbeiner zu kurz kämen. 1943 boten einige Restaurants in San Francisco den Gästen an, die Reste für die Hunde einzupacken; zur selben Zeit drückten Hotels in Seattle ihren Kunden Wachspapiertüten mit der Aufschrift „Bones for Bowser“ in die Hand.
Wobei, auch das verschweigt das Institut nicht, schon die alten Römer Reste einpackten. Und in der DDR, erzählt Carmen Krüger, war es im Privaten üblich: „Da kam man von Geburtstagsfesten bepackter zurück, als man gekommen war“, da gab’s Kuchen und Kartoffelsalat satt. Natürlich packt die Köchin auch heute in ihrem Restaurant in Eichwalde bereitwillig ein. Wenn die Gäste vor der legendären knusprigsten Gans passen, bringt Carmen Krüger es nicht übers Herz, nur ein nacktes Stück Fleisch in die Schachtel zu tun. Dann kommt noch ein Kloß dazu. Und Rotkohl. Und Grünkohl. Und Sauce.
Lieber den Magen verrenken als dem Wirt was schenken, lautet ein altes schwäbisches Sprichwort. Aber der hat gar nichts davon, wenn der Teller halb voll zurück in die Küche kommt. Außer mehr Müll in der Tonne. Früher konnte er die Reste noch den Schweinen verfüttern, das ist aus gesundheitlichen Gründen längst verboten. Einer Tafel oder Suppenküche dürfen Restaurants das, was schon mal auf dem Teller lag, nicht schenken. Bestenfalls geben sie es weiter zur Biogasproduktion.
„Jeden Tag wird in Wien so viel Brot weggeworfen, wie in Graz gegessen wird“, heißt es in der Dokumentation „We feed the World“ (2006), die, ebenso wie der Film „Taste the Waste“ (2010), viele Leute wachgerüttelt hat. Die Frage, wie man Lebensmittel so verschwenden kann angesichts des tödlichen Hungers auf der Welt, stellt sich immer drängender. Milliarden von Euro werden einfach verpulvert, die Umwelt durch die Lebensmittelproduktion ganz umsonst belastet.
Gerade hat der WWF eine neue Studie veröffentlicht, wonach in Deutschland jedes Jahr 18 Millionen Tonnen Lebensmittel auf dem Müll landen. Titel der Erhebung: „Das große Wegschmeißen“. Ein Grund ist schlechte Planung, gerade in Privathaushalten, dazu kommen EU-Verordnungen, die nur gut gewachsene Gurken zulassen, oder das abgelaufene Mindesthaltbarkeitsdatum. „Jedes achte Lebensmittel, das wir kaufen, werfen wir weg“, so das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft. „Pro Person und Jahr sind das rund 82 Kilogramm Lebensmittelabfall. Rund zwei Drittel davon wären vermeidbar.“
"Zu gut für die Tonne"
Durch klügere Einkaufs- und Vorratsplanung. Zum Beispiel mit Doggy Bags. Die im Behördendeutsch politisch korrekt, aber ziemlich sperrig „Beste-Reste-Boxen“ genannt werden. Was durchaus verständlich ist, klingt der eingeführte Name doch in der Tat nicht sonderlich appetitlich und lässt eher an jene Beutel denken, die Hundebesitzer vorsichtshalber beim Gassigehen mit sich führen. „Zu gut für die Tonne“ heißt eine Initiative des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft: 15 000 dieser Schachteln wurden an Restaurants verteilt. Gestartet wurde die Aktion in Zusammenarbeit mit dem Online-Portal „Greentable“ vor ein paar Monaten im edlen Hamburger Sternelokal Landhaus Scherrer an der Elbchaussee. Dem Ganzen soll der Hautgout genommen werden. Henryk M. Broder hat dafür nur Spott übrig: Eine „Wohlfühlkampagne für die Satten und Selbstgerechten“ sei das, „andererseits ein weiterer Schritt in Richtung auf eine Erziehungsdiktatur, in der Bürger zu ihrem Glück gezwungen werden“. Dabei ist die Initiative Teil einer größeren Bewegung, zu der Restaurants wie die Culinary Misfits gehören, die aus krummen Gurken und schrumpeligen Äpfeln was Gutes kochen. Oder Mülltaucher, die sich fast ausschließlich von dem ernähren, was Supermärkte in den Container werfen.
Selbst in Frankreich, wo die Restetüte bisher weitgehend tabu war, wurden Initiativen gegründet, die sich für „Gourmet bags“ starkmachen. Das Land hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesteckt: Bis 2025 soll der ganze Müll halbiert werden. Restaurants stehen unter besonderem Druck. Vielleicht hilft ausgerechnet eine deutsche Designstudentin dabei: Anne Poggenpohl aus Köln hat während ihres Auslandssemesters in Paris „C’était Bien Bon“ kreiert und dafür im März vom französischen Verpackungsrat den „Coup de Coeur“ bekommen. Sie wollte den verpönten Doggy Bag positiv besetzen, durch einen anderen Namen und entsprechende weiße Verpackung. Eine Kiste, aus der das Essen leicht auf den heimischen Teller gleitet.
Die Schachtel ist aus recycelbarem Kunststoff, der sich wie Pappe anfühlt. Nach 40 verschiedenen Prototypen sickert die Sauce offenbar tatsächlich nicht durch. Nachdem Poggenpohl jetzt ihr Examen abgeschlossen hat, will sie sich verstärkt auf die Suche nach einem Produzenten machen. Interesse, so Poggenpohl, gibt es genug.
Womöglich hat auch die amerikanische First Lady einen Anteil am Siegeszug des Doggy Bags in Europa. 2009 in Rom, als die Augen von Michelle Obama und ihren Töchtern größer als ihre Mägen waren, ließ sie sich Carbonara, Amatriciana und Bolognese einpacken. Eine Aktion, so pädagogisch wie ihr Gemüsegarten: Michelle Obama wollte Vorbild sein, zur Nachahmung anregen.
Was einem früher so unangenehm war, dass man den armen – real existierenden oder imaginären – Hund als Alibi brauchte, gehört heute durchaus zum guten Ton. Mit seligem Lächeln auf dem Gesicht und einem Papptäschchen in der Hand sieht man Gäste aus dem Ritz Carlton treten, die ihre Tea Time genossen und sich durch die verschiedenen Ebenen der Etageren gekostet haben – bis sie einfach nicht mehr konnten. Die Reste werden elegant verpackt.
Goody Bags statt Doggy Bags
Allerdings können Macarons und Scones den Transport auch einigermaßen unbeschadet überstehen, sind selbst am nächsten Tag noch ein Genuss. Bei Pizza ist es ebenfalls kein Problem, die passenden Kartons haben die Restaurants eh im Regal. Und wer sein knuspriges halbes Hähnchen in Kreuzbergs Kleiner Markthalle nicht schafft, der kriegt es in eine lustige Max-und-Moritz-Tüte gesteckt. Bei Kotelett mit Bratkartoffeln und Käsesauce wird es schon bedenklicher. Da sieht das Mahl in der Kiste am Ende tatsächlich eher wie Hundefutter aus. Nein, nicht alles eignet sich zum Einpacken. Die meisten Sterneköche schütteln sich bei dem Gedanken, dass ihre sorgfältig komponierten Kreationen, in Farben, Temperatur, Struktur genau abgestimmt, so durcheinandergeschüttelt und wieder aufgewärmt werden. Auch für den Gast ist die Vorstellung, dass nach einem gepflegten Dinner ein Alucontainer auf dem weißen Tischtuch steht, während man noch einen guten Wein trinkt, ein echter Stimmungskiller.
Man könnte Reste ganz vermeiden, indem man die Portionen zumindest als Option kleiner anbietet. Doch vor allem in Berlins süddeutschen und österreichischen Lokalen erwarten die Gäste üppige Kost. Der Kampf Mann gegen Schnitzel geht oft schlecht aus. In der gehobenen Gastronomie sind die Portionen tendenziell geschrumpft – Qualität geht über Quantität. Da kann es sogar passieren, dass der Gast das Lokal eher hungrig als überfüllt verlässt. Dafür kriegt er dann zum Abschied statt des Doggy Bags einen Goody Bag mit auf den Nachhauseweg, ein Pralinchen zum Beispiel, hübsch verpackt, um am nächsten Tag noch mal den Abend nachzuschmecken.
Natürlich lösen nicht alle Doggy Bags die Fragen der Lebensmittelverschwendung. Stimmt die Ökobilanz noch, wenn man die Reste in umweltfeindliche Alufolie, Styropor oder Plastik verpackt bekommt? Oder das Essen in den Kühlschrank stellt und vergisst oder vor lauter Faulheit vergammeln lässt und am Ende doch wegwirft? Auch in puncto Hygiene sollte man scharf aufpassen, um sich den Magen nicht zu verderben, warnen diverse Websites. Also: schnell in den Kühlschrank damit, innerhalb von 24 Stunden essen und vorher schön heiß machen. Und von Anfang an Rohes und Gekochtes voneinander trennen. Ganz egal, wie schick die Transportbox war.
Susanne Kippenberger
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