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Im Viertel Psirri gibt es viele Ecken mit Bars und Street Art, hier der Iroon-Platz.
© Ulf Lippitz

Athen verstehen: Die Tatorte des Petros Markaris

Seine Krimis spiegeln die Seele Griechenlands, sie erzählen auch von der Zerrissenheit der Hauptstadt. Ein Spaziergang mit dem griechischen Schriftsteller.

Das ist natürlich eine Katastrophe! Sagt Petros Markaris. Der Schriftsteller, dessen Kommissar Kostas Charitos den Deutschen die griechische Gemütslage erfolgreich nahebringt, sitzt unter einem Maulbeerbaum in Athen und betrachtet das Haus gegenüber. Die Stadt hat das denkmalgeschützte Gebäude entkernt, nur eine Außenmauer steht noch, für mehr reicht das Geld nicht. Eine Schande! Athen verfällt, das Land zerfällt, und Markaris hat Mitleid. Hassliebe, so hat er seine Beziehung zur griechischen Hauptstadt einmal definiert. Nicht mal dazu reicht es mehr.

Petros Markaris, Stadtchronist wider Willen. Der 80-Jährige ist gar kein Grieche, sondern „ein Bastard“, wie er sagt: armenischer Vater, griechische Mutter, aufgewachsen in Istanbul, Studium in Wien. Er spricht fließend Deutsch. Wenn man die Augen schließt, denkt man, Marcel Reich-Ranicki sei wiederauferstanden. Wie der verstorbene Literaturkritiker rollt er die „Rrrrs“, als wären sie eine edle Zigarre, er spricht langsam und sehr betont. Manchmal wird er laut. Keine Missverständnisse, die Meinung herausbrüllen: Nein!

Markaris kam in die Stadt, als er 28 Jahre jung war. Weil er nach Istanbul nicht zurückkehren wollte, „zu viel Nationalismus“, und in der Universitätsstadt Wien vereinsamte. „Es gab ein Nachmittags-, aber kein Nachtleben. Nach sieben Uhr wurde alles zugemacht.“ Für einen Mann, der das Gewusel Istanbuls liebte, war das erschütternd. „Wenn man einsam ist, denkt man an die Familie“, erinnert er sich, „und die Sprache gehört zur Familie.“ Also zog er nach Athen, hinein ins Leben nach sieben Uhr abends.

Dieser Tod war ein makabrer Scherz

Hinter Markaris prangt ein Street-Art-Gemälde auf der einsamen Häuserwand, vor ihm wartet eine Tasse Kaffee, gleich bestellt er noch eine. „Ich könnte den ganzen Tag nichts anderes trinken“, sagt er. Das „Poems ’n’ Crimes“ ist Stammcafé, Verlagsresidenz und Mordschauplatz in einem. Markaris ließ ein Verbrechen hier geschehen, im Erzählband „Der Tod des Odysseus“.

Dieser Tod war ein makabrer Scherz. Er habe sich damit an seinem Verleger rächen wollen, erzählt Markaris. Du hast zu wenige Seiten geschrieben, sagte der Verleger, wir können das Buch nicht verkaufen. Also setzte sich Markaris noch einmal in seine Wohnung im Viertel Kypseli, vor dem Balkon flanierten die Menschen in der Fußgängerzone, sie suchten den Schatten der Platanen, während der Schriftsteller seine Waffe zückte – den Stift – und ein Gewaltverbrechen im „Poems ’n’ Crimes“ inszenierte.

Markaris gluckst, der Verleger kommt, ein friedlicher Bär von einem Herrn, er trägt die gleichen Hosenträger wie in der Geschichte und gießt heißes Wasser auf das Kaffeepulver. Markaris guckt hoch, das rechte Auge ist seit seiner Kindheit erblindet, ein nicht auskuriertes Leiden, er sieht deshalb ein wenig wie der britische Komiker Marty Feldman aus, nur älter und mit schlohweißen Haaren, die wie Fäden auf die Schulter fallen.

Ein kleiner Spaziergang? Aber bitte!

Wer die griechische Hauptstadt nur durch die Augen von Kommissar Charitos kennt, liest von einer Stadt, in der ständig Stau ist, Männer in Hinterhofbars singen und der süße Mokka langsam aus den Kaffeebars verschwindet. Elf Krimis, der aktuelle, „Offshore“, ist gerade erschienen. In allen ist Athen ein Ort, der tagsüber heiß und dreckig ist – und nachts warmherzig und vergesslich. Dass er so viel Betonhässliches hat, das verschwindet einfach in der Dunkelheit.

Das finde ich auch, sagt Markaris. Nachts vergibt er der Stadt, was sie an Grässlichkeit unter der Sonne produziert. Die seelenlosen Neubauten, die heruntergerockten Altbauten. Aber es braucht das gleißende mediterrane Licht, um die Charitos-Stadt mit den Augen seines Schöpfers zu entdecken. Die gefüllten Antiquariate an der Ermou-Straße, die Gott weiß wie überleben in dieser bücherfeindlichen Zeit der Krise, den Fisch- und Fleischmarkt nahe des Omonia-Platzes, in dem es ein wenig nach den orientalischen Gewürzen der Istanbuler Kindheit von Markaris riecht, und die versteckten Hinterhofcafés, die Leben in die verfallende Innenstadt bringen.

Ein kleiner Spaziergang? Aber bitte! Petros Markaris schreitet forsch vorneweg, aus dem Café in die kleine Gasse, dann rechts hinunter auf die Hauptstraße, wo der Bahnhof Monastiraki liegt und auf dem Steinhügel dahinter die Akropolis in der Sonne brutzelt. Der Schriftsteller biegt rechts in die Ermou-Straße ein und erzählt aus den 60er Jahren, als sich die Athener voller Stolz erzählten, wenn sie in den Boutiquen der Ermou etwas gekauft hatten.

Markaris gluckst wieder, man ahnt schon, jetzt kommt der Haken. Der Schriftsteller zeigt auf die ärmlichen Geschäfte links und rechts. Second-Hand- Läden, in denen kopierte Ikonen neben quietschgelben Spielzeugautos liegen. Wer sich kein Ladenlokal leisten kann, verkauft von einem Wagen herunter. Das soll die Flaniermeile gewesen sein?

"Ich schaue nur noch stur geradeaus"

Petros Markaris auf der Terrasse des „Poems n’ Crimes“.
Petros Markaris auf der Terrasse des „Poems n’ Crimes“.
© Ulf Lippitz

So billig war sie schon früher, sagt Markaris, doch eben nur hier, auf dem rechten Abschnitt, links war sie edler. Wer wollte schon zugeben, auf welcher Seite des Boulevards man einkaufte, auf welcher Seite der Gesellschaft man stand, also konnte jeder damit prahlen, auf der Ermou zu shoppen, Arm wie Reich. Demokratie. Gleich um die Ecke wurde sie erfunden, die Agora liegt 100 Meter Luftlinie entfernt.

Er lässt nun den Thissio-Bahnhof hinter sich. „Ich will Ihnen ein paar bayerische Häuser zeigen“, verkündet er. Schrägdächer aus Holz und Balkone mit Geranien mitten in Athen? Markaris korrigiert sich, mit bayerischen Häusern meint er die Gebäude, die ab 1832 erbaut wurden, als Otto von Bayern König von Griechenland wurde. Athen war eigentlich ein Provinznest mit 5000 Menschen, doch der von der Antike beseelte Deutsche erkor es zu seiner neuen Hauptstadt. Und ließ dort Bauten mit mehreren Geschossen und schmiedeeisernen Balkonen errichten, sandfarbene Prachthäuser für seine Gefolgschaft.

Der Schriftsteller geht ein Stück weiter, in einen Park hinein. Dort liegen unter Bäumen helle Quader, von oben betrachtet ergeben sie einen zerbrochenen Davidstern. Das Holocaust-Mahnmal erinnert an die 65 000 Juden, die von den Deutschen in den 40er Jahren deportiert und getötet wurden. Kaum ein Tourist kommt hierher, es ist ein ruhiger Ort, an dem Petros Markaris auf seinen Stadtspaziergängen gelegentlich vorbeikommt.

Jeden Tag flaniere er durch die Stadt, erzählt er, „ich war immer ein eifriger Spaziergänger“, normalerweise durch sein Viertel Kypseli, die Hauptstraße Patission hinunter bis zum Viktoria-Platz. „Das war noch vor ein paar Jahren eine Einkaufsstraße voller Läden. Wenn Sie die heute entlanggehen, sehen Sie nur geschlossene Geschäfte. Ich schaue nicht mehr nach links und rechts, nur noch stur geradeaus.“ Das Mitleid für die Stadt und ihre 665 000 Einwohner, es überkommt ihn in solchen Momenten.

Heute gehen die Griechen nicht mehr aus

Nach wie vor genießt Markaris es, abends über die Boulevards zu gehen, in die Lokale hinein. Wie leicht man Leute kennenlernt. „Man setzt sich in ein Café, am Nebentisch trinkt ein anderer Kaffee, man kommt ins Plaudern, und am Ende geht man zusammen ins Restaurant.“ Sofort redet er wieder von Kypseli, seiner Bar um die Ecke, in der ein Kaffee am Morgen und ein Absacker am Abend zur Routine gehören. „Kommen Sie doch vorbei!“

Kurz vor acht ist im „Angels“ noch nichts los. Vier Tische auf dem Bürgersteig, zwei Männer trinken ein Bier. Jeder ist froh, dass die Sonne verschwunden ist, gegen die Hitze hilft ein kühles Helles. Eine elektrische Gitarre hängt an der Wand, darüber ein Plakat von Dalís Albträumen, die junge Bedienung singt Popsongs mit, obwohl sie kein Englisch kann.

Die Besitzerin kommt an die Theke, die Mutter des Mädchens. „Petros Markaris?“, ruft sie aus, als würde es sich um Elvis Presley handeln. „I love him.“ Der Angebetete selbst ist noch nicht da, er kommt später, inzwischen plaudert die Frau weiter. Was für eine Stadt, in der Bardamen mit Hang zum Dalí-Kitsch den Namen einer Göttin tragen: Nike.

Als Petros Markaris eintrifft, schlägt er vor, erst einmal etwas zu essen, auch wenn es früh ist, nicht einmal halb neun. Zwei Block weiter gebe es ein griechisches Lokal, wo er manchmal hingehe. Er bestellt Hackfleischbällchen, rustikal und gut. Das Restaurant füllt sich langsam. „Die Griechen gehen nicht mehr aus“, murmelt Markaris. Früher, vor der Krise, wäre so ein Lokal voll gewesen, heute müssen die Menschen auf ihr Geld achten, einmal pro Woche genügt. Das Leben nach sieben Uhr abends siecht dahin in Kypseli.

Das „Six Dogs“, Athens beliebteste, öffnet jeden Tag

Und doch, das muss er einmal loswerden, sei Athen faszinierend. Voller Widersprüche. Eingerüstete Häuser, bei deren Anblick man nicht weiß, ob die Gebäude noch verfallen oder schon im Wiederaufbau begriffen sind, und eine Ecke weiter plötzlich ein schöner Platz mit Cafés, Blumenkübeln und lauter Menschen, die mit Bierflaschen am Tisch sitzen.

Im ehemaligen Handwerkerviertel Psirri, wo auch das „Poems ’n’ Crimes“ liegt, findet man diese Kontraste. In einer schummrigen Seitenstraße öffnet jeden Tag das „Six Dogs“, Athens beliebteste Bar bei Jungen und Kreativen. In einem Hinterhof sitzen sie an selbst gebauten Tischen, über der Bar hängt eine Wolke aus rostroten Blättern und die Kellner tragen verwegene Bartkreationen. „Kenn ich“, sagt Markaris.

Nach dem Essen sitzt er im „Angels“ und trinkt ein Bier. Jugendliche laufen vorüber. „Senegalesen“, sagt der Schriftsteller. Anständige Leute, gut erzogen, bestes Französisch, in seinem Haus wohne auch eine Familie. Er erzählt von einer heißen Sommernacht vor ein paar Jahren. „Auf einmal gab es unten auf der Fußgängerzone Krach. Ich stehe auf, laufe in Unterhose auf den Balkon und rufe hinunter: Leute, um Gottes willen, es ist drei Uhr morgens und höllenheiß, woher habt ihr denn die Lust, euch zu streiten?“ Seine Stimme wird ruhig, er spricht leise wie ein Märchenerzähler: „Plötzlich ist es ganz still, ich sehe ein Gesicht, das zu mir hinaufschaut, und ein junger Mann, der ganz höflich bittet: Excusez-moi, Monsieur. In solchen Momenten liebe ich Athen.“

Reisetipps für Athen

HINKOMMEN

Aegean Airlines fliegt nonstop ab Tegel, Ryanair ab Schönefeld. Je nach Tarif, Datum und Buchungszeitraum ab 60 Euro.

UNTERKOMMEN

Im Kubic Athens Hotel nahe dem Omonia-Platz kostet ein Doppelzimmer ab 80 Euro pro Nacht (Agiou Konstantinou 26). Reservierungen: kubichotel.reserve-online.net. Das Crowne Plaza bietet seinen Gästen mehr Komfort mit Spabereich und Pool. Die Zimmerpreise beginnen bei rund 200 Euro, zu buchen unter ihg.com

HERUMKOMMEN

Alle Krimis von Petros Markaris eignen sich alle inoffizielle Stadtführer. „Offshore“ ist bei Diogenes erschienen. Dort erhältlich ist von ihm auch das Buch „Quer durch Athen“, eine Reise entlang der alten U-Bahn-Linie.

INFO

Mehr Details unter visitgreece.com/de

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