Auf die Piste: Fahr’n fahr’n fahr’n
Ein griechischer Morgen, ein kleiner Koffer, ein royales Elfenbeinlenkrad und Eric Clapton im Radio – Reisen mit Auto macht glücklich.
Vorbei an Alt-Korinth, Mitte Oktober 2016. Das Auge des Reiseträumers sieht auf jenem Berg die Silhouette des tief gefallenen, sich abmühenden Sisyphos – ewig bestraft für seine Rotlichtkarriere.
Albert Camus schlug vor, sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorzustellen. Der Dichter seinerseits kam 1960 bei einem Verkehrsunfall in einem Facel Vega FV3B nahe Paris ums Leben. Wie so oft, wenn das Schicksal Blitze schleudert, soll auch in diesem Fall der KGB seine Hände im Spiel gehabt und die Reifen manipuliert haben.
Wenig später passiere ich Mykene, bei meinem ziellosen Dahinfahren über diesen wunderlichen Peloponnes, der einem das Schweben durch die Zeiten so leicht macht, einem dabei hilft, die Macht von Raum und Zeit zu pulverisieren und befreit vom kausal-chronologischen Dahingelebe. „So I drifted down to New Orleans / Where I happened to be employed“, schnarrt die Dylan-CD. „Tangled Up in Blue“ von 1974 war jener Song, mit dem der liebeskranke Poet – dank seines damaligen Gurus Norman Raeben – das lineare Erzählkonzept zerlegte, dekonstruierte, fragmentierte und seine blaue Bluesgeschichte, halb Mut, halb Katharsis, zerfetzte: „So now I am going back again“.
Singen, Malen, Träumen, Reisen, Vergessen, Fahr’n, Erwachen, Einchecken, Aufbrechen, Tanken, Abhauen, Treibenlassen, bis es zu Ende ist, eines Tages, unsere abenteuerliche Fahrt, hinter der wir in trügerischen Momenten gar so etwas wie Sinn vermuten.
Damals hielt man nicht auf einen Caffè mit Panino
Ein Halt kurz vor Mykene. Perseus, Homers Agamemnon, Mord- und Totschlag, Schliemanns glitzerndes Raubgold und halt, halt, Henry Miller, der hier 1938 mit Lawrence Durrell ebenfalls eine Rast einlegte und in dem Abgrund des berühmten Brunnens das schwärzeste Schwarz erblickte, das je ein Menschenauge sah. Klapprige Athener Reisebusse entlassen koreanische Bildungspilger, und ich fahre weiter über die Dörfer, in denen die Ölmühle rattert, weiter durch die wilden arkadischen Wälder und entlang der ionischen Küste, Olympia, wo die großen Wagenrennen stattfanden, die Formel 1 der Antike, wenig später das sandige Pylos und am Ende das erdbraune Kastell von Methoni, wo der traurige Ritter Cervantes in der Zelle kauert und seiner Verhandlung entgegenfiebert.
Meine ersten Fahrten verstrichen ziemlich übel eingepfercht neben Schwester Hanne auf der Rückbank des väterlichen VW-Käfers, HDH-DT-20, als fahrendes Glied einer germanischen Massenauswanderung über den Brenner Richtung Gardasee oder Rimini, 14 Tage Vollpension. Man hielt damals nicht auf einen Caffè mit Panino, man hielt nicht dort, wo einem etwas gefiel: Urlaub war die Fortsetzung der Stechuhr mit anderen Mitteln. Von A nach B und zurück, was auf dem Teller ist, wird gegessen.
Die Neugier der Eltern auf die fremde Ferne schien durch die deprimierenden Reiseerfahrungen an der Ost- und Westfront fürs erste gestillt. Die Achse Berlin-Rom galt als relativ sichere Sache, doch dem räuberischen Italiener entlang des Wegesrands war nicht zu trauen. Man fuhr also durch. Durch was auch immer.
Ich mag den Rausch der petite vitesse
Fahr’n, fahr’n, fahr’n. Das Cover von Kraftwerk im Stil einer Reklame-Illustration, 1974. Eine Landschaft, eine Piste. Man sieht zudem eine Autobahnbrücke und einen kühlen Sonnenuntergang. Im Song geht’s dann um Fahrbahnmarkierungen, vorbeifliegende Impressionen und Radiogedudel. Doch weder mag ich diese Gruppe noch Autobahnen.
Ich mag das Fahren und den Rausch der petite vitesse, bei dem es um die Musik des Wassers geht, den Brei flüchtiger Gedanken und das große mysteriöse Kino von Herz und Hirn, regiert vom hellwachen Autopiloten, der die rein mechanischen Vorgänge wie Kuppeln, Bremsen oder Beschleunigung übernimmt. Den Rausch, der Signale und Schilder deutet, sich Erinnerungen und Vorahnungen zurechtzoomt und den Mann am Steuer mit seltsam geschärften Einsichten und Erkenntnissen ausstattet und ihm, ohne dass er irgendwem Fragen gestellt hat, nicht selten unverhoffte und durchaus schlüssig-präzise Lösungen präsentiert.
Eine Kreuzung in Methoni und das Neonflackern einer Herberge. Ja, es ist genug für heute. „Standing at the crossroads, trying to read the signs / To tell me which way I should go to find the answer, And all the time I know / Plant your love and let it grow“. Clapton, 461 Ocean Boulevard, 1974, nach seiner x-ten Höllenfahrt durch den Hades des Heroins.
Kurz vor dem Einschlafen stehlen sich die Kurven und Geraden des vergangenen Tages ins Bewusstsein. All die Zypressen, Ölhaine, postgelben Zitronenfrüchte und Tavernen-Stopps, die heiteren Fragen und Wortwechsel.
Die geschenkte Weinflasche zwischen den Beinen, griechischer Rembetiko dröhnt aus dem Radio, Leben in Reinkultur, entbunden, ohne jeden Vertrag, bodenlos wie ein byzantinischer Adler, ein dahinfliegendes Elementarteilchen, ein freies Radikal.
Es war kein Auto, sondern eine Idiotie, wie jede große Affäre
Wie damals. Erinnert sich jemand? Frühling 1974?
Karin und ich fuhren ins Blaue, und nahe Sulzemoos an der A8 stand da dieser Mercedes 280er SW 108 mit Schiebedach vor einer Garage. So herbstlaubbraun wie ein Daniel-Hechter-Sakko. „Mit Ocker und Braun kann man nix versau’n“, hat Martin Kippenberger mal gereimt.
Einsam wie komplett deplatziert stand also dieses Auto da mitten im bayerischen Maisfelddrama. Karin spürte sofort, was ich dachte und drehte leicht resigniert um, wissend, dass sich ab jetzt die Winde drehen würden und sich auch etwas bei uns beiden schlagartig geändert hatte.
Ich wurde mit dem neuen Vorbesitzer schnell handelseinig, und es war mal wieder die pure Unvernunft: Ich hätte fast jeden Preis bezahlt, und den 21 Liter Verbrauch überhörte ich ebenso wie den frivolen Steuertarif. Kein Ohr für Petitessen, mein Herz polterte in Übergröße.
Es war kein Auto, sondern eine Idiotie, wie es sich für eine ganz große Affäre gehört. Pfirsichweiche Kotflügel, duftendes Leder, ein royales Elfenbeinlenkrad.
Der Wagen war mein Domizil
Das Surren der sechs Zylinder – oder waren es vier? – führte mich und uns durch alle verboten-verliebten Zustände: durchs windumtoste Bonifacio, die Schneegletscher des Engadins, die absinthgrünen Wacholderheiden der Schwäbischen Alb, die Dessousparade des Bois de Bologne, die Todesfuge zwischen Krakau und Auschwitz, die Baumwollsteppen Thrakiens, die verlassenen Gossen von Corleone, die Austernbänke der Île de Ré und die schilfgesäumten Salinen der Camargue, durch neonflackernde Tunnel und in stinkend-öligen Schiffsbäuchen zur Ruhe kommend.
Der Wagen wurde mein Domizil, wir rollten und rasten und durchstreiften das Universum mit jener Inkonsequenz, die jeden V-Mann um den Verstand gebracht hätte. Mein Pfirsich-Ocker-Traum wurde Büro, manchmal Schlafzimmer und nicht selten eine ambulante Kneipe. „One more cup of coffee for the road…“ – und der Luxus, halten und bleiben zu können, wo es uns gefiel, abhauen zu können, wenn etwas aus dem Ruder zu laufen drohte. Ein Luxus, frühmorgens das Hotel zu verlassen, die kleinen Koffer auf den Rücksitz zu werfen, ein Kuss und auf die Frage des Wohin und den Blick in den Rückspiegel zu verzichten.
Ich fuhr einfach los, dem Stern und der Nase nach. Taugenichts, Tagträumer, Tunichtgut. Darauf vertrauend, dass schon etwas geschehen wird, weil Beiläufiges das größte Abenteuer birgt. Das ist eigentlich die ganze Kunst, niemand braucht dafür einen Reiseleiter.
Mein Mercedes ist verstorben und mit ihm das Auto als solches
Mögen die Pegel doch steigen und die Hütten brennen – wenn man all diese Klippen und Kontrollen umschifft und losgelassen hat, entsteht jener Spirit, der Zöllner und Schutzmänner entwaffnet und deren Schranken wie von alleine anhebt für eine freie Fahrt.
In seiner kleinen Erzählung „Abhauen“ beschreibt Blaise Cendrars dieses „Rein in die Kiste“ in etwa so: „Mich umsehen, die Dinge berühren, riechen, mitgerissen werden von der Wucht des Frühlings, erleben, wie die alten roten Raben sich krächzend von den Stürmen treiben lassen, wie sie in den Himmel gehoben werden und in einem besinnungslosen Taumel ihren Flug feiern. (…) Ich war außer mir vor Ungeduld, dem Frühling nachzurennen, ihn einzufangen, ihn irgendwo zu entdecken, egal wo, nur möglichst weit weg.“
Mein Mercedes ist inzwischen friedlich verstorben – und mit ihm das Auto als solches. Es ist zum schlappen Symbol der finalen Domestizierung geworden. Red-Bull-Technokraten tüfteln über misslungenen Boxenstopps, kastrierte Designer jammern über Sachzwänge, korrupte Hersteller pfuschen an ihrer Dieselsoftware herum und Dosenpfandexperten verlesen CO2-Dossiers.
Laut- und trostlos ziehen hybride und selbstfahrende Blechwesen ihre Debutbahnen zwischen den NSA-Steckdosen, und über allem schwebt der Hornbrillen-Eros Dobrindt’scher Prägung.
Seelenlos ist das, und so vernünftig wie eine Gummimatte in der Badewanne, Angora-Unterwäsche, die Umsatzsteuervoranmeldung oder ein blinkender Fahrradhelm.
Volles Bewusstsein, Donnerwetter! Ein Grauen
Für die typische Kürbis-Ingwer-Klientel hatte eine Coachingdame neulich in einer Zeitschrift folgenden Rat parat: „Ich schlage vor, das Autofahren von einer anderen, vielleicht für Sie ganz neuen Seite zu betrachten: achtsam und meditativ, um beim Erreichen des Ziels entspannt und gelassen zu sein. Setzen Sie sich aufrecht hin, lassen die Schultern los und lassen Sie sich von Ihrem Autositz bewusst halten und tragen. Und entspannen Sie Ihren Unterkiefer – das wirkt Wunder!“
Wahrscheinlich dachte sie dabei nicht an den Berliner Stadtverkehr. Weiter mahnt sie: „Stellen Sie das Autoradio aus, atmen Sie tief. Schauen Sie sich mit vollem Bewusstsein an, was Sie auf der Strecke sehen. Wenn Sie sich dabei ertappen, an andere Dinge zu denken, kehren Sie sanft zum Beobachten zurück.“
Man könnte verrückt werden, nicht wahr? Volles Bewusstsein, Donnerwetter! Ein Grauen.
Ich freue mich manchmal klammheimlich, wenn ich lese, dass die Gendarmen irgendwo in einem französischen Weindorf einen Traktorfahrer dingfest gemacht haben. Mit 3,6 Promille.
Ein letztes Aufbäumen der Unvernunft.
Eric Clapton und seine Autos
Es war ein Nachmittag im Jahr 1969, als sich der Beatle George Harrison hinter das Steuer seines Ferraris klemmte und damit zum Haus seines Freundes Eric Clapton fuhr. Die Musiker kannten sich gut, im Wembley Stadium hatten sie einst eine legendäre Version des Klassikers „While My Guitar Gently Weeps“ gespielt. Doch nicht nur auf der Bühne verstanden sie sich, auch bei Autos teilten sie den Geschmack. An den Ferrari-Moment erinnert sich Clapton in seiner 2007 veröffentlichten Biografie:
„Eines Tages fuhr Harrison in einem dunkelblauen GTC 365 vor. Ich hatte so ein Auto noch nicht gesehen. Es war damals, als hätte ich die schönste Frau der Welt getroffen und ich entschied mich sofort, dass ich so einen auch haben wollte – auch wenn ich gar nicht fahren konnte.“
Clapton bestellte den Ferrari, den Führerschein holte er nach. Doch dabei blieb es nicht. In den Folgejahren kaufte er einen Dino, einen Daytona, einen 275 GTB, einen Lusso und einen 360 Spider. Und das war nur ein Bruchteil seines Fuhrparks. Zusätzlich unterhielt der Musiker Fords, Chevrolets und einen Porsche 911 Turbo. Den Mini Cooper in der Sammlung schenkte ihm, klar, George Harrison.
Eine besondere Geschichte rankt sich auch um einen Ferrari Enzo, den Clapton 2002 orderte. Nicht nur war er der erste Brite, der das Auto fuhr – als er den Wagen im italienischen Maranello abholte, bestand Clapton auch darauf, damit bis nach London zu fahren. Die Pariser Polizei erwischte Clapton, als er mit standesgemäßen 233 km/h über eine Landstraße bretterte. Welche Musik er dabei hörte, ist nicht überliefert.
Marius Buhl
Wolf Reiser