Interview mit Michael Wolffsohn: "Die jüdische Kultur ist eine Kultur des Wortes"
Michael Wolffsohn, deutsch-jüdischer Historiker, über Rudi Dutschkes dünne Suppe, das pampige Berlin – und eine Lösung für Syrien.
Herr Wolffsohn, Sie haben das Buch über Ihre deutsch-jüdische Familie den Ahnen gewidmet. Fühlen Sie sich einem besonders verbunden?
Meinem Großvater Karl. Auch wenn ich nicht sein unternehmerisches Genie habe. Ich erinnere mich zum Beispiel an den letzten Urlaub mit ihm, im Schwarzwald. Während wir an einem Flüsslein spazieren gingen, entwickelte er ein ganzes Infrastrukturprogramm, wie man die Gegend touristisch auf Vordermann bringen könnte, von der Gastronomie bis zum Liftbetrieb.
Ihr Großvater war bis zur Enteignung durch die Nazis nicht nur Besitzer der ersten deutschen Film-Illustrierten. Sondern auch jener Reform-Wohnsiedlung, die heute Ihnen gehört: der „Gartenstadt Atlantic“ in Gesundbrunnen.
Das ist sein Erbe, und ich identifiziere mich mit dessen Geist, einer Verbindung aus Ethik und Profit. Wir achten darauf, dass es eine gute soziale Mischung gibt. Wir ekeln keine Oma Schulze durch Mieterhöhungen heraus, und keines der 49 Häuser ist mono-ethnisch oder mono-konfessionell. Das war ja die ursprüngliche Idee der Reformarchitektur der 1920er Jahre: einen Standard zu bieten, der breiteste Schichten befriedigt – wenn man nicht gerade in einer Luxusvilla wohnen möchte. Wir mussten nur das bereits Gedachte noch einmal neu denken.
Ihre Familie war einst vor den Nazis nach Palästina geflohen. Die Prozesse, um Ihren Besitz wiederzuerlangen, zogen sich bis in die 60er Jahre. Danach verfiel die „Gartenstadt“ zusehends – warum?
Als mein Vater alles in alleiniger Regie leitete, war er zu alt, zu schwach und zu krank, um ein Riesenprojekt wie die Modernisierung in Angriff zu nehmen. Ich selbst dachte irrtümlich, ich könnte das übers Knie brechen.
Sie haben die Anlage von 2001 bis 2005 sanieren lassen.
Und das gelang nicht wegen, sondern trotz der Berliner Behörden. Wir haben lange mit dem Landesdenkmalamt gestritten. Die wollten, dass alles genauso rekonstruiert wird, wie es 1930 aussah, dunkelgrüner Fassadenputz inklusive. Der war damals Kontrastpunkt zum Kino Lichtburg, das ganz hell gestrichen war. Bloß, dass es das Kino seit 1970 nicht mehr gibt. Wir wollten stattdessen den Geist der „Gartenstadt“ erhalten, und das hieß: Helligkeit, Luft, Licht. Eine dunkle Fassade macht keine gute Laune.
Und die herrscht hier jetzt, seit die Häuser hell gestrichen sind?
Modernisiert, nicht nur gestrichen. Jedenfalls haben wir keine Probleme mehr mit Kriminalität und Drogenhandel wie früher. Die ethnischen Spannungen, die es massenweise gab, sind komplett verschwunden. Das Äußere hat starken Einfluss auf das Innenleben der Menschen.
In Ihrer Familie existiert seit Generationen ein Kult um die deutsche Hauptstadt, „Berlinismus“ genannt. Warum wohnen Sie dann in München?
Ich war lange an der dortigen Bundeswehr-Uni. Meine Frau und ich haben einen gewachsenen Freundeskreis, zwei unserer drei Kinder und die Enkel wohnen in der Stadt. Trotzdem ist Ihre Frage berechtigt. Wir diskutieren immer wieder darüber. Es wird wohl darauf hinauslaufen, dass wir die Hälfte der Zeit in Berlin verbringen. Wir haben eine Wohnung in der Gartenstadt. Miete bezahlen wir übrigens auch. Sonst wäre das verdeckte Gewinnausschüttung, weil es sich um eine Aktiengesellschaft handelt. Alles ganz kosher.
Sie sind in West-Berlin großgeworden, geboren wurden Sie 1947 in Tel Aviv, ein Jahr vor Gründung Israels. Haben Sie Erinnerungen an die ersten Jahre dort?
An meine Einschulung 1953! Die Schule war benannt nach einem total meschuggenen zionistischen Sozialisten. Zuerst sangen wir alle die Internationale – in meinem Fall das erste und letzte Mal. Meine Lehrerin erzählte viel vom Unabhängigkeitskrieg, in dem wir natürlich gesiegt hatten. Anders als die anderen Kinder fand ich jedes Kriegsleid schrecklich, obwohl ich nie ein Opfer des Kriegs zu Gesicht bekommen habe. Also schloss ich ein Abkommen mit der Lehrerin, dass ich rausgehen darf, wenn sie wieder traurige Geschichten erzählt.
Im Jahr darauf zogen Sie vom Mittelmeer an die Spree. Das muss ein Kulturschock gewesen sein.
Berlin war eine tote Stadt. Kaum Kinder, dafür viele Hunde – und Ruinen. 1953, ein Jahr, bevor wir endgültig zurückkehrten, kamen wir zu Besuch. Vorher waren wir in Rom gewesen, da hatte ich das Forum Romanum gesehen. Ich habe schon als Sechsjähriger altklug dahergeredet und erklärt: In Rom gibt es so viele Ruinen und in Berlin auch. Meine Eltern klärten mich dann auf, dass es da einen Unterschied gab.
Haben Sie sich fremd gefühlt in Deutschland, dem „Land der Täter“?
Nein, denn Deutsch war auch in Tel Aviv meine Muttersprache gewesen. Für uns war auch immer klar, dass die Nachfahren der Täter keine Täter sind. Außerdem, ganz absurd: Von 30 Schülern in meiner Berliner Klasse, Münstersche Straße, waren zehn jüdisch. Alles Kinder von Holocaust-Überlebenden aus Polen. Die waren eingeschüchtert, hatten ein schlechtes Gewissen, sich selbst, den Toten und der jüdischen Welt gegenüber. Meine Eltern dagegen waren ja Rückkehrer und zudem durch Israel geprägt, die sagten: Wir lassen uns nichts bieten! Als auch meine neue Lehrerin vom Krieg redete – dieses Mal war es der Zweite Weltkrieg – und vom deutschen Leid, gefiel mir das wieder nicht. Meine Mutter ist zu ihr und hat für mich den gleichen Deal erstritten, wie ich ihn mit der Lehrerin in Tel Aviv hatte.
Ihre Mutter war eine dominante jüdische „Mamme“?
Ja, die absolutistische Herrscherin in der Familie. Aber eben auch in dem Sinne, dass sie sich fürs eigene Kind mit Haut und Haaren einsetzte. Ich wusste immer, es gibt Rückhalt, auch den Autoritäten gegenüber.
„Ein Wolffsohn ist eben ein Wolffsohn, der doziert und monologisiert“, schreiben Sie. Sieht man Sie deshalb so oft in Fernsehtalkshows?
Momentan habe ich erfreulicherweise Hochkonjuktur, aber es gab auch Konjunkturdellen. Ich bin milder geworden. In einem weichgespülten Land wie unserem wird das eher geschätzt, als wenn man die Dinge hart ausspricht. Beim Monologisieren handelt es sich wahrscheinlich um eine berufliche Deformation.
Herr Wolffsohn, eine andere Frage…
… lassen Sie mich das noch zu Ende führen. Hinzu kommt: Die jüdische Kultur ist eine Kultur des Wortes. Deshalb sind jüdische Museen ein sehr schwieriges Unterfangen, weil sich das nicht visualisieren lässt. In dem Augenblick, wo mit dem ersten Kreuzzug die Judenverfolgungen begannen, war Schluss mit der Bildtradition – und das Judentum wandelte sich zu einer tragbaren Religion, wie es Heine formuliert hat. Bücher und Wissen lassen sich leichter transportieren als ein Tempel. Ein winzig kleiner, nicht besonders schöner Gebetsraum reichte meist. Auch deshalb ist die jüdische Ästhetik unterentwickelt.
"Für Ghettokultur stehe ich nicht zur Verfügung"
1967 meldeten Sie sich zum Wehrdienst in Israel – aus Euphorie über den Triumph gegen die arabischen Nachbarn im Sechs-Tage-Krieg kurz zuvor?
Das spielte eine Rolle. Viele hatten befürchtet, der zweite Holocaust stehe bevor, und diese Untergangsangst wandelte sich in Jubel. Auch bei mir. Die Existenz eines jüdischen Staats ist die Antwort auf eine lange Geschichte der Verfolgung, und für mich gab es keinen Zweifel, dass ich meinen Beitrag zu diesem Staat leisten musste. Mit 20 ist man spätpubertär oder zumindest idealistisch. Ich war immer ein ernsthafter Typ, damals wollte ich Reformrabbiner werden und außerdem wissen: Wohin gehöre ich?
Und dann sind Sie stolz in Kampfmontur und mit Maschinengewehr durch die Straßen spaziert, wie die jungen Israelis heute?
Die meiste Zeit trug ich Halbschuhe, und wenn ich an die Front kam, bin ich im Auto oder Hubschrauber hingebracht worden.
Wie das?
Nach dem Grundwehrdienst wurde ich der persönliche Referent des Personaloffiziers für die Artillerie. Mein Chef war ein klassischer Bildungsbürger aus Polen, ein verlorener Mann, erst recht in der neuen Umgebung. Der Holocaust und persönliche Gründe hatten ihn aus der Bahn geworfen. Beim Bewerbungsgespräch fragte er mich nach meinem Lieblingsschriftsteller im Lateinischen. Ich nannte Ovid und konnte den auch zitieren, das gefiel ihm. Außerdem profitierte ich von dem Klischee über deutsche Juden, den pünktlichen und ordentlichen „Jeckes“. Er selbst war ein Chaot.
Nach dreijährigem Dienst kehrten Sie zurück. Hatte Ihnen Israel nicht gefallen?
Doch, aber ich merkte, wie deutsch ich bin. Zum Beispiel hat mich die damals in Israel regelrecht zelebrierte Nonchalance irritiert. „Guten Tag“ und „Danke“ zu sagen war im sozialistisch geprägten Zionismus verpönt, das galt als jeckisch und bürgerlich. Dienstleistung empfand man als erniedrigend. Der progressive, richtige Israeli war pampig. Ironischerweise wirkte das Berlin, in das ich zurückkehrte, plötzlich ziemlich israelisch auf mich.
Das war die Zeit nach 1968.
Meine Mutter zeigte mir das neue Märkische Viertel, wir fanden den Weg nicht, hielten mit dem Auto, da sagte der Mann, den wir fragten: Lasst Sie mich in den Wagen, ich lotse Euch hin! Ich zu meiner Mutter: Was ist denn hier los? Sind wir hier in Tel Aviv, wo Moishe sagt, du, wir sind sowieso alle Brüder?
Sie schreiben, Rudi Dutschke habe Sie an Joseph Goebbels erinnert.
Schon 1967. Wegen seiner Sprechweise. Und was er sagte, war intellektuell dünne Suppe. 1966/67 habe ich die Entwicklung an den Unis noch mit Sympathie verfolgt, da kämpfte man für Reformen und Liberalität. Doch als ich im Herbst 1970 mein Studium an der FU begann, war das plötzlich ein doktrinär linker Laden.
Inwiefern?
Ich studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Volkswirtschaft, und in allen drei Disziplinen tauchten streikende Studenten auf und erklärten, dass man den ganzen Unsinn nicht bräuchte. Sondern Friedrich Engels’ „Der Weg des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ lesen solle. Sag ich: Interessiert mich auch, aber dann außerhalb dieser Lehrveranstaltungen. Nach drei Jahren war ich wie ein trockener Schwamm und wollte in kurzer Zeit Breitspur, nicht Schmalspur studieren. Das fanden die nicht lustig, und wir gerieten aneinander. Da wurde ich ganz schnell zum Nicht-Linken.
Heute heftet Ihnen das Etikett an, ein Konservativer zu sein. Finden Sie sich darin wieder?
Konservativ in dem Sinne, dass ich unser großes Kulturerbe ernst nehme. Das möchte ich konservieren und weiterentwickeln – und Letzteres kann man nur, wenn man das Vorangegangene kennt. Niemand von uns entdeckt mehr Amerika. Kein Individuum ist das Maß aller Dinge, deshalb bin ich auch ein religiöser Mensch.
Was macht Ihr Judentum aus?
Es ist eine seltsame Mischung. Ich gehe nicht in die Synagoge. Aber da ist ein gigantisches Erbe. Ich glaube, dass so ein Unternehmertum mit sozialem Engagement, wie ich es seit dem Jahr 2000 mit meiner Familie betreibe, typisch ist fürs Diaspora-Judentum. Das Zweite: Die Besessenheit, sich mit dem Wort und seiner Bedeutung auseinanderzusetzen, mit Literatur. Und dann natürlich die Bindung an eine Gemeinschaft, der man sich zugehörig fühlt – und unter der man leidet.
Die jüdische Gemeinschaft setzt Ihnen zu?
Die innerjüdischen Auseinandersetzungen sind sehr hart, der Wettbewerb extrem. Es gibt einen israelischen Film von 1968, der Mist ist, aber einen großartigen Titel hat: „Jeder Bastard ist ein König“. Das ist so ein bisschen die jüdische Kultur. Jeder von uns ist auserwählt, ganz persönlich vom lieben Gott oder, in der säkularisierten Form, von wem auch immer. Sie mögen das arrogant finden. Ich halte es für einen Überlebensmechanismus, der den Juden in 2000 Jahren antrainiert wurde. Der Leistungsdruck ist hoch, und Leistungen zu erbringen heißt vor allem, seinen Grips anzustrengen. Daher auch die jüdische Bildungstradition.
Glauben Sie an Gott?
Ich hoffe, es gibt ihn. Man lebt mit Sicherheit richtig, wenn man davon ausgeht, dass er existiert. Dann hat man wenigstens Hoffnung. In der jüdischen Religion bestehen grob gesagt zwei Richtungen: eine partikularistische Linie – das Ghettohafte, selbst ohne Ghetto – und dann das universalistische Judentum der Propheten, das ich großartig finde. Der ethische Höhepunkt dieser Tradition ist für mich Jesus.
Zum Christen hat Sie das trotzdem nicht gemacht.
Nein. Wozu?
Mit Ihrem Engagement in der jüdischen Gemeinde sind Sie gescheitert. 2008 wurden Sie Kulturreferent der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Nur ein Jahr später traten Sie zurück, wegen „unüberbrückbarer inhaltlicher und organisatorischer Differenzen“.
Ich hätte in der Ghettokultur bleiben können. Aber dafür stehe ich nicht zur Verfügung. Mir ist der Dialog zwischen den Religionen sehr wichtig, vor allem mit der islamischen Welt. Denn die Christen sind ja keine wahren Christen mehr, zumindest in Deutschland. Selbst als ich die weltoffensten Muslime eingeladen habe, etwa Necla Kelek und Ayan Hirsi Ali, stand die Gemeinde Kopf. Charlotte Knobloch…
… die Präsidentin der Gemeinde, die von 2006 bis 2010 auch dem Zentralrat der Juden vorstand …
… sagte: Muslime kommen mir nicht ins Haus. Dabei ist der Islam als politisch-gesellschaftlicher Faktor das große Problem, das wir alle haben. Deshalb muss man sich damit auseinandersetzen. Ich habe auch mit anderen Muslimen diskutiert und denen gesagt: Ihr habt wie fast alle Religionen von den Texten her ein Gewaltproblem, und das führt letztlich zu Terror. Darüber müssen wir reden, freundschaftlich und offen. Man kann nicht bloß sagen: Islam ist Frieden. Das ist Wunschdenken.
"Ich würde eine Bundesrepublik Syrien vorschlagen"
Früher hieß es oft, der Nahostkonflikt sei zentral. Wenn er gelöst wäre, würden auch viele andere Probleme verschwinden.
Das habe ich immer anders gesehen. Die großen Probleme im Nahen Osten sind nicht durch Israel ausgelöst, tatsächlich sind die innerislamischen und innerarabischen Konflikte dominant. Der Verweis auf Palästina macht sich halt gut als Propaganda. Spätestens mit dem IS hat sich herumgesprochen, was für ein Hass etwa zwischen Sunniten und Schiiten existiert.
Sie behaupten, eine Lösung für praktisch alle ethnischen und religiösen Konflikte gefunden zu haben.
Das klingt, als wäre ich "Zwerg Allwissend". Kennen Sie den? Es gab so eine Sendung von Hans Rosenthal auf Rias Berlin, die hieß „Wer fragt, gewinnt“, und derjenige, der den Hörern den zu ratenden Begriff kundtat, war der Zwerg Allwissend. Das bin ich nicht.
Dafür haben Sie einen politischen Entwurf vorgelegt, der "Zum Weltfrieden" heißt. Bescheiden sind Sie nicht.
Jedenfalls funktioniert das Prinzip nicht, das in der internationalen Politik immer als Lösung verkauft wird. Nämlich die Gründung eines Nationalstaats.
In Europa zuletzt geschehen 2008, als das mehrheitlich albanische Kosovo von Serbien abgespalten wurde. Ihr Kommentar: „Unsinn“.
Der Nationalstaat geht von der Fiktion aus, dass es in der jeweiligen Gesellschaft eine Deckungsgleichheit gäbe zwischen Bevölkerung und den staatlichen Grenzen, zwischen Demografie und Geografie. Tatsächlich gibt es die nicht.
Vorher waren die albanischen Kosovaren Minderheit in Serbien – und wurden unterdrückt. Nun gibt es eine serbische Minderheit im Kosovo – und die Konflikte sind programmiert.
Jeder Mensch will selbstbestimmt sein, das ist das Fundament, auf dem wir stehen. Für Gruppen, also Völker und Religionsgemeinschaften, gilt das gleiche. Besteht die Deckungsgleichheit nicht, muss ich versuchen, die Selbstbestimmung trotzdem zu erreichen. Wie? Wenn die Minderheiten in einem Staat in einem bestimmten Gebiet leben, könnte man dort Autonomie gewähren – in föderativer Form. In deutschen Kategorien ausgedrückt: ein Bundesland schaffen. Nehmen wir mal Syrien, wo Sie drei große Bevölkerungsgruppen haben: Sunniten, Kurden und Alawiten ...
… zur letztgenannten Gruppe gehört Präsident Assad, weshalb die Alawiten – zu Recht oder Unrecht – oft als Stützen des Regimes wahrgenommen werden. Unter den Kurden wiederum gibt es starke Tendenzen, sich mit Kurden in anderen Ländern zusammen zu schließen.
Stattdessen würde ich nun eine Bundesrepublik Syrien vorschlagen. Denn die drei großen Gruppen ließen sich, jedenfalls vor dem Bürgerkrieg, räumlich ziemlich klar zuordnen. Dann gäbe es die zwei kurdischen Gebiete Kurdistan A und B, ein alawitisches und ein sunnitisches Gebiet. Wie in jedem Bundesstaat würden Landes- und nationale Wahlen stattfinden. An letzteren nähmen alle teil und bei denen gälte das Mehrheitsprinzip.
Was tun Sie, wenn auf nationaler Ebene Dinge entschieden werden, die einem der Bundesländer nicht gefallen?
Für solche Fälle gäbe es einen Vermittlungsausschuss, wie den, der in Deutschland zwischen Bundestag und Bundesrat vermittelt.
Ihr System setzt die Einsicht aller Beteiligten voraus. Schwer vorstellbar, zumal im Nahen Osten, wo der Hass so groß ist.
So zynisch es klingen mag, vielleicht ist immer noch nicht genug Blut geflossen. In der europäischen Geschichte war es nicht anders. Da wollte Deutschland über Frankreich herrschen und umgekehrt. Erst nach zwei Weltkriegen ist man auf die Idee gekommen, dass sich die Gegner verzahnen müssen, damit sie nicht mehr aufeinander losgehen und ineinander verbeißen. Wenn der Wille nicht da ist, kann man nichts machen.
Man müsste militärisch eingreifen. Doch wie schlecht sich politische Systeme aufzwingen lassen, hat der letzte Irakkrieg gezeigt.
Es wird immer häufiger interveniert. In bester Absicht, aber ohne jede Strategie. Im Irak sind die USA unter George W. Bush einmarschiert und haben gesagt: Ihr müsst die Demokratie einführen! Es wurde gewählt, und heraus kam, wegen der demografischen Verhältnisse im Land, eine demokratisch legitimierte Diktatur der schiitischen Mehrheit. Ich bin nicht für eine Intervention in Syrien. Aber die örtlichen Akteure können sich nur behaupten, weil sie Hilfe von außen bekommen. Russland, Amerika und sogar Deutschland mit den dreieinhalb Gewehren, die es an die irakisch-kurdischen Peshmerga liefert, könnte sagen: Ihr kriegt alles, aber ihr müsst föderative Strukturen anpeilen.
Anderswo wird sich keiner einmischen. Glauben Sie wirklich, dass zum Beispiel die chinesische Führung selbst auf die Idee kommt, Tibetern und Uiguren mehr Autonomie einzuräumen?
Wenn sie es nicht tut, wird sich die Lage dauerhaft nicht stabilisieren - und damit können die Chinesen die wirtschaftliche Entwicklung nicht weiter vorantreiben. Aber da die Pekinger Zentralregierung offenbar nicht willens und in der Lage ist, das einzusehen, gibt es ehrlich gesagt für Tibeter und Uiguren kaum Alternativen zu Guerillakampf und Terror. Langfristig kommt man um die Form von Konfliktlösungen, wie ich Sie skizziert habe, nicht herum. Andernfalls wird es viele weitere vermeidbare Kriege geben. In den meisten Fällen glaube auch ich nicht an eine Realisierung im Hier und Heute, als Historiker denke ich in längeren Zeitabschnitten.
Auch der muslimischen Minderheit in Europa wollen Sie mehr Autonomie geben. Bis hin zur Paralleljustiz.
In der jüdischen Geschichte hat dieses Modell ziemlich gut funktioniert. Die Gemeinden hatten sowohl in den christlichen Staaten des Mittelalters als auch im Osmanischen Reich weitgehende interne Autonomie. Es gab jedoch eine Voraussetzung: Dass die allgemeinen Landesgesetze anerkannt werden. Ehrenmord darf es zum Beispiel nicht geben, Punkt.
Das Osmanische Reich war allerdings keine Demokratie.
Nein, zumal mir unter den Vielvölkerstaaten das k.u.k.-Reich, das natürlich auch keine Demokratie war, viel sympathischer ist. Man muss die alten Konzepte auf moderne Strukturen übertragen. Aber das Rad muss nicht neu erfunden werden. Das ist mein Motto nicht nur in Bezug auf die Gartenstadt Atlantic, sondern auch auf das, was ich in "Weltfrieden" vorschlage. Wie heißt es bei Goethe: Alles Kluge ist schon einmal gedacht worden, man muss nur versuchen, es noch einmal zu denken.
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