Monster und Vampire: Die Geburt eines Monsters
Stürmische Nächte im Juni 1816 – und Mary Shelley hat einen Albtraum. Daraus entsteht eine Geschichte, die weltberühmt wird: Frankenstein.
Das Wetter war schlecht. Sensationell schlecht. Später sprach man sogar vom Jahr 1816 als einem Jahr ohne Sommer.
An dieser Witterung waren aber keine dunklen Mächte schuld, wie man bei dem folgenden Thema hätte vermuten können. Die Erklärung ist ganz einfach: Im fernen Indonesien brach ein Vulkan aus, schleuderte Asche und Staub in den Himmel, sodass sich auch die nördliche Hemisphäre verfinsterte. In Europa und in Nordamerika waren die Ernten schlecht wie selten, und noch im Juni gab es Nachtfröste. Natürlich, für Urlauber war dieser Sommer auch nicht schön.
So saßen in einer Villa am Genfer See fünf junge Engländer beisammen. Und während draußen die Blitze zuckten und monsunartiger Regen aus dem schwarzen Himmel fiel, langweilten sie sich drinnen. Schließlich begannen sie sich gegenseitig seltsame Geschichten vorzulesen – vorzugsweise gruselige Märchen aus Deutschland, wie sie gerade modern waren. Es war die Zeit der Romantik, und vor allem junge Leute sehnten sich nach dem Außergewöhnlichen. Drogen wurden wohl auch konsumiert. Laudanum, eine Opiumtinktur, war frei verkäuflich.
Jeder Anwesende sollte eine Gruselgeschichte schreiben
Einer glaubte sich später zu erinnern, wann genau ihr Wortführer auf diese Idee gekommen war: Am 16. Juni 1816 habe Lord Byron vorgeschlagen, jeder Anwesende möge eine Gruselgeschichte zu Papier bringen, so schaurig, wie sie die Welt noch nicht gehört hatte. Das Ergebnis war erstaunlich, denn in dieser Nacht wurde nicht nur ein neuer Vampir geschaffen. Sie geriet auch zur Initialzündung für einen Mythos: Frankenstein wurde geboren, und mit ihm ein Monster, das Literaturgeschichte machte.
Wer aber waren die fünf?
Lord Byron galt in jener Zeit als Bürgerschreck, der 28-Jährige war in diverse Affären verwickelt. Eine seiner Verflossenen beschrieb ihn als „verrückt, bösartig und gefährlich für alle, die ihn kennen“. Als Schriftsteller allerdings wurde er geschätzt, auch von Goethe, mit dem er korrespondierte. Außerdem war er vermögend. Das Domizil am Genfer See, die heute noch existierende Villa Diodati, hatte er gemietet.
Die übrigen waren: Byrons erst 21 Jahre alter Leibarzt John Polidori, der schon mit 19 seinen Doktor gemacht hatte – zum Thema Schlafwandelei. Nicht ganz so vermögend wie sein adeliger Gefährte, musste er es sich gefallen lassen, dass der Lord ihn Pollywolly nannte.
Percys Frau ging ins Wasser
Percy Bysshe Shelley, 24, war ebenfalls von Adel. Von seinem vermögenden Vater wurde er finanziell sehr kurz gehalten. Er machte bei zweifelhaften Geldgebern Schulden, indem er schon mal den zu erwartenden Adelstitel belieh. Der angehende Sir Percy hatte bereits Frau und Kind, ließ jedoch beide zu Hause. Weil sie ihn nervten, den aufgehenden Stern am Literaturhimmel. Seine jugendliche Frau war ihrerseits genervt. Während er die bürgerlichen Konventionen und das Establishment verachtete, das Geld, das er sich pumpte, lieber den Armen gab, hatte sie sich den Aufstieg in den Adel anders vorgestellt. Was für ein Irrtum, ein halbes Jahr später ging die Verlassene ins Wasser. Und Percy wurde Witwer.
Mary Godwin, 19, Tochter einer der ersten Frauenrechtlerinnen, die früh verstorben war, und eines berühmten Autors aufrühererischer Bücher. Die rebellischen Eltern beeindruckten Percy ungemein, die Tochter noch mehr. Sie war schön, ungewöhnlich belesen und ziemlich kühn. Der junge Percy gab dem unkonventionellen Vater reichlich von seinem geliehenen Geld und brannte mit Mary durch. Die beiden waren auf der Flucht vor den Gläubigern. Und vor Marys Vater, der plötzlich die Konventionen schätzen lernte, als seine Tochter auch noch ein Kind bekam. Erst als Percy sie später zu Mary Shelley machte, beruhigte sich der Vater wieder.
Schließlich Claire Clairmont, 18, Marys Halbschwester und schwanger von Lord Byron, der sich freilich nicht gleich erinnern wollte, als die jungen Frauen am Genfer See auftauchten. Er hielt die beiden stattdessen zunächst für Literaturgroupies. Weil ihm aber so langweilig war, erneuerte er die Beziehung zu Claire, für ein paar Ferienmonate wenigstens.
Nun saßen sie also hier und dachten jeder über seine eigene Schauergeschichte nach, doch irgendwie wollte sie keinem richtig gelingen. Zwar dichtete Lord Byron ein paar Zeilen. Ebenso Sir Percy, der dünnhäutig blieb wie immer. Einmal rannte er sogar schreiend aus dem Zimmer, weil ihn Lord Byron mit einer Erzählung so aufgeregt hatte. John Polidori schrieb auch etwas, Byron machte sich über ihn und den Text lustig, man kann sich gut vorstellen, wie er ihn „Pollywolly“ nannte.
Ein Albtraum gab den Ausschlag
Immerhin, 1819 veröffentlichte Polidori „The Vampyre“. Die Novelle basierte auf dieser Nacht und führte mit einem zähnefletschenden Lord den modernen Vampir in die Literatur ein, lange vor Bram Stokers Graf Dracula.
Die schwangere Claire konnte mit solchem Zirkus nichts anfangen. Später schrieb sie: „Wenn du in unserer Familie nicht ein episches Gedicht oder einen Roman schreiben kannst, der durch seine Originalität alle anderen Romane in den Schatten stellt, bist du eine verächtliche Kreatur.“ Eigentlich war sie doch nur hierhergekommen, um Spaß zu haben und den Lord an sein Kind zu erinnern.
Anders ihre Halbschwester Mary, die schon seit ihrer Kindheit Gedichte schrieb. Ihr Vater hatte seine Lieblingstochter selbst ausgebildet, als höhere Schulen für Mädchen noch nicht vorgesehen waren. Autoren waren im Elternhaus ebenso zu Gast gewesen wie Wissenschaftler, und sie hatte gut aufgepasst.
"Niemand soll es mehr wagen, sich umzusehen"
Mary hatte hohe Ansprüche an sich und ihre Geschichte. Ihre Leser „sollten es nicht mehr wagen, sich umzusehen“. Doch ihr fiel nichts ein. Und an den folgenden Tagen fragten die anderen jeden Morgen: „Na, Mary, schon was geschrieben?“ Elend sei ihr da jedes Mal zumute gewesen.
Bis zu jener einen Nacht. Percy und Byron hatten sich den ganzen Abend über die Experimente eines Dr. Erasmus Darwin unterhalten, Großvater von Charles Darwin. Angeblich hatte der Doktor eine Fadennudel durch Elektrizität dazu gebracht, sich zu bewegen! Mary bekam anschließend einen Albtraum. Ihr erschien „das bösartige Phantom eines hingestreckten Mannes“, wie es unter irgendeiner Maschine zuckte, „mit gelben, wässrigen, doch forschenden Augen“ seinen Meister anstarrte. Das wurde ihre Grundidee. Und sie schrieb den ganzen Sommer über weiter: Ihr „Frankenstein“ entstand am Genfer See, der Blick auf den Mont Blanc spielt ebenso mit wie das schlechte Wetter.
Das Thema war manchem Verleger zu heikel
Es dauerte dann doch noch fast zwei Jahre, manchem Verleger war das Thema künstliches Leben wohl auch zu heikel, bis das fertige Buch „Frankenstein oder der moderne Prometheus“ anonym erschien. Die Autorin bekannte sich erst, als ein Kritiker das Werk pries. Und es wurde ein Hit. Auch wenn heute, fast 200 Jahre später, viele gar nicht mehr wissen, ob das Monster nun Frankenstein heißt oder sein verrückter Schöpfer. Nun, in Mary Shelleys Roman ist Victor Frankenstein der Name eines jungen, gar nicht verrückten Schweizer Naturwissenschaftlers.
Der erweckt keine Fadennudel, sondern einen aus Leichenteilen zusammengefügten Körper zum Leben. Wie genau, da bleibt Mary Shelley etwas vage. Irgendwie mit Elektrizität und Biochemie, beides war gerade en vogue. Vor allem seit ein gewisser Luigi Galvani mittels Elektrizität tote Frösche zum Zucken gebracht hatte.
Das Thema lag also in der Luft, wurde auch von anderen aufgegriffen. Von Goethe zum Beispiel, im „Faust“ erschuf er einen Homunkulus. Und nicht wenige waren schockiert, dass der Mensch der Schöpfung ins Handwerk pfuschen könnte.
Ingolstadt wird zum Schauplatz
Dabei steht die Frage, ob und wie künstliches Leben erschaffen werden kann, bei Mary Shelley nicht lange im Mittelpunkt. Es passiert einfach. In Ingolstadt, das vor allem deshalb zur Kulisse taugte, weil die dortige Universität als modern galt und deutsche Schauplätze in der schaurigen, englischen Spielart der Romantik, der gothic novel, höchst populär waren.
Mary Shelleys „Frankenstein“ ist eigentlich schon gar keine richtige gothic novel mehr, sondern etwas Neues. Science-Fiction vielleicht. Es merkte nur niemand, weil die Vorlage sofort in unzähligen Adaptionen, vor allem im Theater, verfremdet wurde.
Shelleys Monster ist ein armer Tropf, der sich sehnlichst wünscht, in die Gesellschaft aufgenommen zu werden. Er müht sich nach Kräften, liest sogar Goethes „Werther“. Weil die Kreatur so abgrundtief hässlich ist, wird sie von den Menschen, allen voran Victor Frankenstein selbst, jedoch abgelehnt. Und als der sich weigert, seinem Werk wenigstens eine Gefährtin zu schaffen, rächt sich das Monster bitterlich, tötet alle, die seinem Schöpfer wichtig waren. Am Ende stirbt der verbitterte Frankenstein auf der Jagd nach seiner Kreatur, während deren Schicksal unbestimmt bleibt.
Das Monster verselbstständigt sich
Diese Düsternis war sogar für Romantiker ungewöhnlich. Die entwarfen zwar gern schaurige Kulissen, neigten jedoch zum Happy End. Mary Shelleys Buch ist pessimistisch. Die Familien, die das Geschehen tragen, sind zerrissen und neu zusammengefügt, Patchwork würde man heute sagen. Shelley, deren Mutter im Kindbett starb, kennt das aus eigener Anschauung. Ihr zusammengeflicktes Monster ist ein in die Welt geworfenes Lebewesen. Nicht nur der Wissenschaftler übernimmt keine Verantwortung, es ist die Gesellschaft, die die Kreatur zum Mörder macht, weil sie unfähig ist, sie zu integrieren.
An so viel Philosophie wird sich später niemand mehr erinnern, der Boris Karloff als berühmtestes Frankenstein-Monster der Filmgeschichte sieht. Dem wurde das Hirn eines Mörders implantiert, damit ist er von Grund auf böse. Da kann man leider nichts mehr machen.
Von Boris Karloff bis Robert de Niro
Boris Karloff spielte das Monster 1931 zum ersten Mal, übernahm die Rolle noch zwei Mal. Mit ihm setzt die Ikonisierung des Stoffes ein, die im Grunde bis heute anhält. Frankensteins Kreatur taucht als „Furankenshutain“ in einem japanischen Monsterfilm der 60er Jahre ebenso auf wie als Parodie in der „Addams Family“, Ken Russell hat sich 1986 in „Gothic“ der Geschichte angenommen, Robert de Niro gab 1994 das traurige Monster, und James McAvoy floppte gerade erst als Dr. Frankenstein in den deutschen Kinos.
Die Runde vom Genfer See trat nach dem Sommer von 1816 so nie wieder zusammen. Einigen Teinehmern blieb auch nicht mehr viel Zeit. Was nicht untypisch war, auffallend viele Romantiker starben ähnlich früh wie mancher Rock- und Popstar der 1960er und 70er Jahre.
Romantiker sterben jung
John Polidori litt weiterhin unter Spielschulden und Depressionen. Seine Vampirgeschichte, die er vom Genfer See mitbrachte, wurde Lord Byron zugeschrieben, der sich immerhin bemühte, das Missverständnis aufzuklären. Nur 25 Jahre alt starb Polidori in London an einer Vergiftung mit Blausäure, wahrscheinlich hatte er sie mit Absicht geschluckt.
Lord Byron verkaufte den englischen Stammsitz der Familie, zog nach Italien und verstrickte sich an der Seite einer schönen Gräfin in Geheimbünde und deren Konspirationen im italienischen Ringen um Unabhängigkeit. Darüber kriegte er gehörigen Ärger, verließ das Land und schloss sich dem Freiheitskampf der Griechen gegen die osmanisch-türkische Besetzung an. Den überlebte er nicht, er starb mit 36, möglicherweise an Malaria.
Marys Halbschwester Claire gelang es immerhin, Lord Byron dazu zu bringen, für die gemeinsame Tochter aufzukommen. Doch das Kind starb jung. Claire hat Lord Byron ihr Leben lang gehasst. Und das währte lang. Sie wurde 80 Jahre alt.
Percy Bysshe Shelley engagierte sich weiter für die Armen, schrieb zum Beispiel Pamphlete zur Verteidigung der aufständischen Baumwollarbeiter von Manchester. Mit 29 Jahren begab er sich in Italien auf einen Segeltrip. Leider konnte er nicht schwimmen und ertrank, als das Boot kenterte. Seine Künstlerfreunde, unter ihnen Lord Byron, verbrannten die Leiche am Strand. Die Asche wurde in Rom bestattet.
Was aus Mary Shelley wurde
Mary Shelley musste nach dem frühen Tod Sir Percys sich und ihren Sohn als Schriftstellerin allein durchbringen. Sie schrieb Reiseerzählungen, Kurzgeschichten und vier weitere Romane, darunter „Last Man“ – „Der letzte Mensch“, darin rafft eine Seuche im Jahre 2079 die Menschheit dahin. Doch „Frankenstein“ blieb ihr größter Erfolg. Sie nahm schließlich ein paar Änderungen vor, als sie das Buch 1831 neu herausbrachte, entschärfte manch kritische Stelle, vielleicht,um das Buch massenkompatibler zu machen. Ihre finanziellen Probleme entspannten sich erst, als Percys Vater 1843 starb und sie eine Erbschaft antrat, da war sie bereits 46 Jahre alt. Sie starb sieben Jahre später an einem Hirntumor.
Es dauerte, bis ihr Ruf als Schriftstellerin zumindest in England anerkannt wurde. Lange stand sie im Schatten ihres Mannes Percy Bysshe Shelly, den anfangs viele für den wahren Urheber ihres „Frankensteins“ hielten.
Heute verstellt ein anderer den Blick auf ihre Person: Das Monster, das sie erschuf, übertrifft sie mit seiner Berühmtheit inzwischen bei Weitem. Mary Shelley ist dahinter nahezu verschwunden.