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Verschobene Wahrnehmung. Im Atomium, Brüssels Wahrzeichen, lassen sich Magrittes Bilder leibhaftig betreten.
© Axel Addington

Brüssel erinnert an Magritte: Der surrealistische Biedermann

Was ist real, was nicht? Vor 50 Jahren starb René Magritte. Seine Heimatstadt Brüssel würdigt den disziplinierten Maler jetzt mit zwei großen Ausstellungen.

Zwei Männer stehen irgendwo in Brüssel im Garten und blödeln herum: Der Ältere ist untersetzt, der Jüngere spindeldürr, beide tragen steife dunkle Anzüge, wie das in den 60er Jahren üblich war. Dann setzt der Ältere dem Jüngeren seine Melone auf, die damals schon wie ein Anachronismus wirkte. Trotz aller Faxen ist es ein ritueller Moment, die Stafette wird weitergegeben: von René Magritte (geboren 1898) an Marcel Broodthaers, vom bekanntesten belgischen Künstler an einen Vertreter der nächsten Generation. Ein Jahr später, 1976, stirbt der berühmte Maler und der Dichter Broodthaers sollte mit seinen Wortbildern tatsächlich das Erbe des Künstlers antreten.

50 Jahre nach René Magrittes Tod kann man die kleine Stummfilmszene im Garten, wie zufällig mit der Kamera erfasst in wackeligem Schwarz-Weiß, wieder sehen – in der großen Jubiläumsausstellung „Magritte, Broodthaers & Contemporary Art“ im Königlichen Museum der Schönen Künste. Sie würdigt sein Vermächtnis, zeigt Werke von Jasper Johns, Andy Warhol, Martin Kippenberger, die sich auf ihn beziehen. Bowlerhut-Träger aber trifft man schon lange keine mehr in der EU-Kapitale. Nur im Museumsshop gibt es sie immer mal wieder für einen Augenblick, wenn sich ein Besucher den neuesten Verkaufsschlager, das wie eine Melone geformte schwarze Küchensieb, auf den Kopf setzt.

Und doch ist Brüssel immer Magritte-Stadt, eine Hochburg des Surrealismus. Wer am frühen Abend durch die Straßen spaziert und den zart violett gefärbten Himmel über den Dächern entdeckt, der fühlt sich mitten in ein Gemälde von Magritte hineinversetzt. Zu einem seiner berühmtesten Motive gehört „Das Reich der Lichter“, das eine nächtliche Häuserzeile vor taghellem Himmel zeigt. Eine Gaslaterne spendet dazu paradoxerweise Helligkeit. Genau dieser Zwittermoment zwischen Licht und Dunkel, geschieden durch die Silhouette der Giebel, kann der Passant allabendlich in Brüssel erleben. Magritte hat ihn nur weiter auf die Spitze getrieben.

"Können Sie meine Pfeife stopfen?"

Brüssel, das war seine geliebte Stadt, die er nur ungern verließ. Hier hatte er ab 1916 an der Akademie der Schönen Künste studiert und seine ersten Versuche mit kubistisch-futuristischen Bildern gemacht. Hier schlug er sich zunächst als Werbegrafiker durch. Hier bekam er 1927 seine erste Einzelausstellung. Die einzige Ausnahme blieben die drei Jahre in Paris, wo sein bekanntestes Werk „Ceci n’est pas une pipe“ entstand, das den Widerspruch von Bild, Wort und Wirklichkeit zusammenführte und Generationen von Künstlern nach ihm inspirierte.

Mit einem scheinbar einfachen Kniff führte Magritte vor, dass eine Abbildung und ihr Gegenstand nicht miteinander zu verwechseln sind. „Können Sie meine Pfeife stopfen? Natürlich nicht! Sie ist nur eine Darstellung“, erklärte er sein Werk ganz pragmatisch. „Hätte ich auf mein Bild geschrieben, dies ist eine Pfeife, so hätte ich gelogen. Das Abbild einer Marmeladenschnitte ist ganz gewiss nichts Essbares.“ Und doch eröffnete der Künstler mit seiner Serie „Verrat der Bilder“, die er immer weiter variierte, eine gewaltige philosophische Auseinandersetzung darüber, was die Realität eines Gegenstandes sei. Lange bevor der Begriff „virtual reality“ erfunden wurde.

1930 kehrte er aus Paris zurück, nachdem sich André Breton, der Vordenker der französischen Surrealisten, über das Kreuz am Hals seiner Frau Georgette und ihren strengen Katholizismus mokiert hatte. Der biedere Belgier und seine fromme Frau, das passte nicht zu den Pariser Bohémiens. Wieder in Brüssel, suchte sich Magritte in der Vorstadt ein möglichst gewöhnliches Haus, um ungestört malen zu können.

Mysterien vom Magrittes Alltag

Das Königliche Museum zeigt die Originale, hier "Die Liebenden".
Das Königliche Museum zeigt die Originale, hier "Die Liebenden".
© promo

Noch immer gelangt man mit der Straßenbahn aus der Brüsseler City in den Stadtteil Jette zur Esseghemstraße, wo das Ehepaar, von der Nachbarschaft unerkannt, bis zu seinem Auszug 1954 blieb. Seine letzten Jahre lebte Magritte in dem feineren Stadtteil Schaerbeek, nachdem sich der Erfolg eingestellt hatte. In dem winzigen Esszimmer schuf der Künstler mehr als die Hälfte seines 1100 Gemälde umfassenden Werks, während nebenan seine Frau Waffeln backte. Immer sonntags kamen die Freunde, Künstler und Dichter. Der Sammler und Kunsthändler André Garitte hat die vollkommen in Vergessenheit geratene Immobilie 1990 erworben, nach und nach saniert und im Erdgeschoss die Wohnung des Ehepaars rekonstruiert, um die Mysterien von Magrittes Alltagsexistenz zu erschließen.

Heute sitzt er in einem kleinen Büro im zweiten Stock, verkauft Postkarten und erzählt gerne die Geschichte vom Vorbesitzer des Hauses, der bis kurz vor dem Verkauf der Immobilie nicht ahnte, welch Prominenz jahrelang bei ihm gewohnt hatte. Die letzten Besitztümer der 1986 verstorbenen Witwe waren erst kurz zuvor bei Sotheby’s versteigert worden und in alle Welt verstreut. Magrittes Heimatstadt hatte sich da noch nicht ihres berühmten Sohnes besonnen. Das erste Magritte-Museum in seinem einstigen Wohnhaus sollte eine private Gründung sein. Hier stehen nicht nur Möbel, mit denen sich so oder ähnlich die Magrittes umgeben haben mögen. Auf den beiden nächsten Geschossen können in Vitrinen außerdem Malutensilien, Pfeifenköpfe, Familienfotos und Georgettes Klavierhefte betrachtet werden. Zur Unterhaltung des Gatten an der Staffelei spielte Madame Magritte Beethoven.

Die Melone, der Spitz und ein Regenschirm

Erst 2009 erfolgte die Eröffnung eines städtischen Museums, das ebenfalls den Namen des Malers trägt: im Zentrum der Stadt auf dem Kunstberg in einem prachtvollen klassizistischen Palais, dem Hôtel Altenloh. Es beherbergt die weltweit größte Sammlung an Originalen, die Korrespondenz, Fotografien und Filme des Künstlers. Heute pilgert das große Publikum hierher (seit 2009 mehr als 2,3 Millionen Besucher), um die legendären Bilder zu sehen, sich über die Fotografien mit den lustigen Selbstinszenierungen des Künstlers und seiner Freunde im Garten hinter dem Haus zu amüsieren oder über seine „Période vache“ zu wundern.

In dieser Phase malte Magritte patzig in impressionistischer Manier mit klatschigen Farben und groben Motiven, um seine Pariser Kollegen vorzuführen. Als die surrealistischen Motive vor allem in den USA zunehmend gefragt waren, kehrte er zur gewohnt akkuraten Malweise zurück. Die Einladung zu einer Retrospektive 1965 ins Museum of Modern Art in New York gab ihm recht.

"Die Herrschaft des Lichts" ist eines der berühmtesten Bilder des Surrealisten.
"Die Herrschaft des Lichts" ist eines der berühmtesten Bilder des Surrealisten.
© promo

In der Esseghemstraße bekommt man eine Ahnung, wie betulich das Leben des Künstlers gewesen sein muss, der doch mit seinen Bildern die Wirklichkeit aus den Angeln hob. Genauso ein Kamin, wie auf dem berühmten Bild mit der Eisenbahn zu sehen ist, die durch die Wand des bürgerlichen Wohnzimmers bricht, befindet sich auch im Schlafzimmer der Magrittes. Auf dem ehelichen Bett davor hockt ein ausgestopfter Spitz, von dem Magritte hintereinander fünf Stück besaß, alle Loulou oder Jackie genannt. Die Melone, der Spitz und ein Regenschirm, das waren für Magritte Markenzeichen einer kleinbürgerlichen Existenz, sie gingen ein in sein künstlerisches Repertoire. Die Silhouette des untersetzten Anzugträgers mit Bowlerhut ist heute allgegenwärtig auf Plakaten, mit denen für Brüssel als europäische Hauptstadt der Surrealisten geworben wird.

Auf der Suche nach dem Künstler

Das Atomium. In drei Kugeln steckt eine Magritte-Schau.
Das Atomium. In drei Kugeln steckt eine Magritte-Schau.
© REUTERS

Mit Loulou an der Leine machte sich der Künstler regelmäßig auf, um sich in seinem Stammlokal, dem Café Greenwich nahe der Brüsseler Börse, mit anderen Schachspielern zu treffen. Der Legende nach soll er darin kein großer Könner gewesen sein. Als er dem Schachmeister Devos als Dank für gemeinsame Partien ein Bild anbot, lehnte dieser dankend ab mit den Worten: „Wenn Magritte so malt, wie er Schach spielt, hat er noch einen weiten Weg vor sich.“

Heute gibt es in dem vor zehn Jahren restaurierten Belle-Epoque-Café zwar keine Schachspieler mehr, sie sind einige Straßen weiter in die ehemalige Markthalle umgezogen. Dafür sitzt wie bestellt an einem Tisch vor der Tür ein Spitz-Besitzer und trinkt sein Bier.

Die einzige Spur, die hier auf Magritte noch verweisen könnte, sind die Kugellampen, die sich da und dort blasenförmig zu vermehren scheinen. Es ist der Gruß eines jungen Designers an den Altmeister der Doppelbödigkeit, der hier einst verkehrte.

Im Atomium kann man seine wichtigsten Werke erleben

Im „Fleur en Papier doré“ dagegen stolpert man nur so über die illustren Gäste von einst. Ein riesiges Freundschaftsbild mit den Mitgliedern der Brüsseler Surrealistengruppe prangt gleich im ersten Raum des verwinkelten Künstlercafés. Der Dichter und Kunsthändler Gérard van Bruaene hat es in den 40er Jahren unweit der Akademie gegründet. Auch Magritte gehörte zu den regelmäßigen Gästen. Auf der Suche nach dem Künstler sollte man unbedingt in die urige Bar einkehren und sich stärken, denn hier wird wie zu Lebzeiten des Künstlers deftige belgische Küche serviert. Auf Nachfrage gibt es das zum Jubiläumsjahr gebraute Weißbier „Magritte“, das allerdings braun ist – als weitere surrealistische Volte.

Die tiefste Verbeugung vor dem großen Sohn der Stadt aber macht das Atomium, das durch die Verschiebung der Größenverhältnisse ins Gigantische einem seiner Bilder entsprungen sein könnte. In den Kugeln dieses Brüsseler Wahrzeichens lassen sich die wichtigsten Werke des Künstlers leibhaftig betreten: Wie Staffagen wurden die einzelnen Bildelemente vergrößert und als Kulisse arrangiert. Der Besucher findet sich unversehens neben jener Gaslaterne wieder, die er vom Gemälde „Die Herrschaft des Lichts“ kennt. Dazu fliegen schattenhaft Möwen über ihn hinweg, die er in vielen Werken variierte. Auf metergroßen Äpfeln, ein weiteres Motiv aus Magrittes Bilderwelt, darf schließlich erschöpft nach dieser Zeit- und Bilderreise Platz genommen werden. Draußen färbt sich der Himmel derweil wieder violett.

Reisetipps für Brüssel

Hinkommen

Brussels Airlines fliegt drei Mal täglich hin und zurück nach Berlin. Der Flug kostet ab 69 Euro und dauert rund anderthalb Stunden. Der „Hi Belgium“-Wochenendpass (149 Euro) umfasst ferner unbegrenzte Zugreisen sowie Museumseintritte in einer zweiten Stadt. Kaufen kann man ihn auf der Webseite brusselsairlines.com.

Unterkommen

Im Zentrum Brüssels an der Avenue Louise liegt das Steigenberger Wiltcher’s (steigenberger.com). Das Zimmer kostet ab 329 Euro. Im Hotel Made in Louise um die Ecke sind Zimmer bereits ab 80 Euro zu haben (madeinlouise.com). Am Wochenende sind die Hotels günstiger, da die EU-Beamten dann wieder zu Hause schlafen.

Rumkommen

Auf Magrittes Spuren kann man sich zu Fuß, per Fahrrad oder Bus begeben. Für Surrealismus-Touren gibt es mehrere Anbieter:

itineraires.be, culturamavzw.be, busbavard.be, asbl-arkadia.be, provelo.be. Das Königliche Museum der Schönen Künste mit der Jubiläumsschau (bis 18.2.) und das Magritte-Museum liegen nebeneinander (beide Eingang Rue de la Régence 3), das Magritte-Haus ist mit der Tram 51-93 zu erreichen (magrittemuseum.be). Die Schau im Atomium läuft noch bis zum 10.9.2018 (atomium.be/magritte).

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