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Martin Kippenbergers Ausstellung "Sehr gut very good" im Hamburger Bahnhof.
© Mike Wolff

Martin Kippenberger zum 20. Todestag: Die Kunst war sein Leben

Heute vor 20 Jahren, am 7. März 1997, starb der Künstler Martin Kippenberger. Hier erinnert sich Tagesspiegel-Redakteurin Susanne Kippenberger an ihren Bruder.

Nein, normal war er nie. Er hat gebrannt, wie die Zigaretten, die er selten aus der Hand legte. "Hallöchen!", begrüßte er morgens die Rentnerband in der Äppelwoikneipe in Sachsenhausen. Mit "Hallöchen!" stand er ein paar Stunden später in der Tür von Bärbel Grässlins Galerie, um sich Begleitung fürs Mittagessen zu holen. "Hallöchen!", rief er nach dem Mittagsschlaf (der war heilig) ins Telefon, damit es weiterging. Nudelessen, Unterhaltungsprogramm, Arbeit und Tanz bis in den Morgen. Um sieben Uhr früh stand er dann stramm im Hotel Chelsea in Köln und machte Hallöchen auf Chinesisch; eben noch hatte er um die Putzfrau herumgetanzt, nun begrüßte er die chinesischen Hotelgäste auf ihre Art: die Hände vor der Brust gefaltet, jeden mit einer Verbeugung.

Nicht, dass sie den Witz verstanden hätten. Aber er hat seinen Spaß gehabt. Und ein paar Stunden später wieder gearbeitet. Seine Begleiter haben gelacht und gelitten. Wer nachts unterwegs war mit ihm, der wusste, er kommt nicht mehr ins Bett, da war Martin gnadenlos. Auch das konnte er sein: ein Tyrann. Wenn schon leiden, dann nicht alleine.

Allein zu sein, hat er nicht aushalten können. "Große Wohnung nie zu Hause" heißt ein Bild. Sobald er irgendwo hingezogen war - und er zog ständig von einer Stadt in die andere, von Hamburg nach Berlin nach Florenz nach Stuttgart nach St. Georgen nach Köln nach Wien nach Sevilla nach Carmona nach Teneriffa nach Frankfurt nach Los Angeles ins Burgenland -, suchte er sich sofort ein Stammlokal, das für ihn Wohn- und Esszimmer war, Büro, Museum, Atelier und Bühne. Sein Heimathafen war die Paris Bar in Berlin, deren Wirt, Michel Würthle, sein bester Freund.

Er hat fast sein ganzes Leben zu Kunst gemacht

Das vermeintliche Herumhängen in Cafés, das war "Austausch, Austausch, Austausch", sagt Gisela Capitain, seine Galeristin und Nachlassverwalterin. Als "Spiderman", wie er sich selbst porträtierte, hat er überall Netze gesponnen, Tag und Nacht und überall, "Martin war immer im Dienst": Wahrheit ist Arbeit. Auch diese Grenze hat er überschritten, die zwischen Leben und Kunst, zwischen sich und den anderen. "Mich gibt es halt insgesamt und immer sehr eindeutig als lebendes Vehikel." Jedes Fest war ein Fest, aber zugleich Bühne und Rohstoff für neue Werke.

Deswegen ist die Frage auch so schwer zu beantworten: Wer mein Bruder war.

Der Mensch lässt sich vom Künstler nicht trennen, fast sein ganzes Leben hat er zu Kunst gemacht. Die Künstler, mit denen er zusammengearbeitet hat, Albert Oehlen, Werner Büttner, Meuser, Hubert Kiecol, Michael Krebber, Uli Strothjohann und viele andere, waren seine Freunde, ebenso wie seine Galeristen, Max Hetzler zum Beispiel, Bärbel Grässlin und Gisela Capitain.

Und doch war gerade das ein Fehler, den viele begingen: nicht zu trennen zwischen Künstler und Mensch. Sie verwechselten Pose mit Position, Provokation mit Haltung - und hielten ihn für einen Rassisten, Chauvinisten, Schwulenhasser. Er hat den Leuten den Spiegel vorgehalten, die Wahrheit laut ins Gesicht gesagt, das hat weh getan und sollte es auch, das war für ihn der Sinn der Kunst. Er selber hat klar getrennt. "Du kannst Dich benehmen wie 'n Arschloch, aber du sollst es auf keinen Fall sein."

Die Kunst war nicht Abbild seines Lebens, sie war sein Leben.

"Kommst Du?" - Und wehe, man kam nicht

Familienfoto. Martin Kippenberger und seine Geschwister.
Familienfoto. Martin Kippenberger und seine Geschwister.
© privat

Martin hat nie in einer reinen Kunst-Welt gelebt. Unsere Mutter hat er in seiner Drogen-Selbsthilfe-WG einquartiert, mit unserem Vater hat er Ausstellungen gemacht. Uns, seine durch und durch unglamouröse Familie, hat er überallhin mitgenommen, zum Tee mit Rudolf Augstein, als wir noch halbe Kinder waren, ins Luxushotel in Genf, wo er uns Gratis-Zimmer besorgte, zum wilden Fest seiner Ausstellungseröffnung im Centre Pompidou. "Kommst Du?", stand auf der Einladungskarte. Und wehe, man kam nicht.

Er konnte gierig sein, eifersüchtig, egozentrisch - aber auch stolz, auf sich und viele andere, auf ihre Künste, ihre Handwerkskünste, ihre Kochkünste. Er war ja nie ein Angeber nur in eigener Sache. Und er wollte beschenkt werden wie ein Kind: zum 40. Geburtstag, einer wüsten Orgie, wünschte er sich eine Carrera-Bahn, unter dem Weihnachtsbaum stand er mit leuchtenden Augen. "Die Kindheit hört ja nie auf", hat er gesagt.

Er war hochintelligent, ein Intellektueller war er nicht. Er hat die "Bild"-Zeitung und Micky Maus gelesen, nicht Roland Barthes und James Joyce. Aus der populären Kultur schöpfte er sein Material. Kafka ließ er andere lesen und sich erzählen davon, so wie er andere für sich hat reisen, zeichnen, Skulpturen bauen lassen. Er war blitzgescheit, hat wie der Blitz Sachen entdeckt, Ideen aufgegriffen und umgesetzt. Nachmittags hat er Dinge vorgeführt, die er morgens noch nicht konnte: Radierungen machen, Akkordeon spielen, Holländisch sprechen. Das war zwar nicht richtig Holländisch, aber überzeugend klang es schon.

Die politisch Korrekten waren ihm zuwider

"Heute denken, morgen fertig", hieß einer seiner bekanntesten Sprüche, der wieder nur zur Hälfte stimmt: Aufs Handwerk hat er großen Wert gelegt. Die großen Projekte wie "The Happy End of Franz Kafka's ›Amerika‹" haben lange gegärt. In einem Jahr hat er drei, vier Bilder gemalt, im nächsten 40, 50. Er hat alle Moden gehasst - die Postmoderne in der Architektur, den Rucola beim Essen, das Schulterpolster in der Bluse, das Video in der Kunst. Er hat es gehasst, wenn jemand was tat, nur weil andere es taten oder erwarteten und nicht, weil man selber dran glaubte.

Deshalb waren ihm die politisch Korrekten auch so zuwider. Was in war, war für ihn out - und nur noch als Material zu verwenden. Postmoderne Häuser hat er aus Sperrholz gebaut und mit Feuerzeugen beklebt, für die documenta hat er ein Multiple herausgebracht, einen weißen Teller mit dickem Loch in der Mitte: "Tschau rucola mozarellatomatecon spaghettini secce evino al dente".

So hat er auch ganz früh den Hippie-Look abgelegt, sich die Haare kurz geschnitten, einen Schlips umgebunden - unerhört im Kreuzberg der Siebziger - und nur noch die feinsten Anzüge, die teuersten Schuhe getragen, selbst im Atelier. Er wollte der wandelnde Widerspruch sein zu dem, was die Leute sich so unter einem wilden Künstler vorstellten. "Jeder, der ihn in Aktion gesehen hat, wie er morgens um fünf auf der Bühne getobt und gerast und sein Mikrofon auf der Bühne geschwungen hat, konnte seine echte Starqualität erkennen, ein Charisma, das zufällig in die Kunstwelt gelenkt worden war", hieß es im Nachruf des "Independent".

Er war ein Kind des Ruhrgebiets, das hat ihn geprägt

In seinen schlechtesten Zeiten sah er aus wie ein verschlampter Künstler: ungewaschen, versoffen, fett. Dann zog er sich die Unterhose wie Picasso über den Bauch, streckte die Wampe raus und ließ sich fotografieren, aus dem Bild machte er ein Ausstellungsplakat, ein Gemälde, einen Kalender. Jede Schwäche wurde zur Stärke, verwandelt in Kunst. Auch wenn der Schmerz blieb. Als ihn die Punker in Berlin zusammenschlugen, hat er sich mit verbundenem Kopf, geschwollenem Gesicht und schiefer Nase fotografieren lassen und sich später auch so gemalt. "Dialog mit der Jugend" heißt das Bild, Teil des Triptychons "Berlin bei Nacht", das er außerdem als Eintrittskarte genutzt hat: Mehrfachverwertungen hat er geliebt.

Er war ein Kind des Ruhrgebiets, das hat seine Direktheit geprägt, sein Tempo, seinen trockenen Witz. Er hat es gemocht, wie die Menschen dort umgehen miteinander, natürlich, herzlich, rau und unsentimental. Er hat die soziale Klaviatur der Töne beherrscht - aber er hat die Menschen nicht getrennt in wichtig und unwichtig. Wenn der Nachbar, ein braver Fotograf, seine Kunst nicht verstand, dann hat er sie ihm erklärt, ernsthaft und genau. Er ist allen auf gleicher Augenhöhe begegnet, weder für Millionäre noch für Kinder hat er sich groß - oder kleingemacht.

"Sucht, das heißt nicht anderes als suchen"

Er war ein Süchtiger. Süchtig nach Drogen zuerst, später nach Alkohol, süchtig nach Anerkennung und Aufmerksamkeit, nach Liebe, Fernsehen und Nudelauflauf. Ein Sehnsüchtiger. Den Nudelauflauf unserer Mutter hat Martin sich von vielen Müttern kochen lassen. Und natürlich auch in Kunst verwandelt. "Kippenberger in Nudelauflauf sehr gerne" hieß eine seiner ersten Ausstellungen, in Berlin. "Sucht", erklärt er Jutta Koether im Interview, "das heißt nichts anderes als suchen. Ich lehne alles ab und suche was Anständiges."

"Dieser Mann sucht eine Frau" stand auf dem visitenkartengroßen Aufkleber mit seinem Foto und seiner Adresse, den er in den siebziger Jahren in ganz Berlin verteilte. Es war mehr als ein guter Witz, hinter jeder Ironie stand ja ein großer Ernst. "Heimweh Highway 90", so hat er einen Katalog genannt, auf dessen Titel ein Bild von ihm mit unserem Vater zu sehen ist, dicht zusammengedrängt in der Kabine eines Passfotoautomaten. Das Heimweh und das Fernweh, die Sehnsucht nach einem Zuhause und das Weglaufen davor, um frei zu sein von allen Bindungen, Verpflichtungen, Festlegungen; der Wunsch nach Ruhe und zugleich die hemmungslose Neugier, die Angst auch vor der Langeweile; das Dilemma, anerkannt sein zu wollen, dazuzugehören, sich aber nicht vereinnahmen zu lassen. Das war sein lebenslanger Kampf.

Die offizielle Diagnose: Legastheniker

"Das Ende des Alphabets" aus der Ausstellung "Sehr Gut. Very Good".
"Das Ende des Alphabets" aus der Ausstellung "Sehr Gut. Very Good".
© AFP/OHN MACDOUGALL

SCHULE

"Ich bin nicht zur Schule geboren", hat er später gesagt. Zum Künstler schon, das betont er immer wieder. Aber das hilft ihm nichts, 1959 kommt er in die Evangelische Volksschule Frillendorf. Statt auf die Tafel guckt er lieber aus dem Fenster, wie ein Film kommt ihm das vor, was er draußen sieht, und wie einen Film wird er es später zu Hause erzählen. Merkwürdig erscheint ihm die Welt. Er sieht Dinge, die andere übersehen - wenn das Mädchen von nebenan zum Beispiel eine Brille bekommt, ist er der erste, der es bemerkt.

In seinem Buch "Café Central: Skizze zum Entwurf einer Romanfigur" schildert er eine Szene aus der Kindheit, am Meer. "Ich weiß noch, wie ich mit meinem kleinen beschmutzten Tauchgerät am Rande einer Grotte saß und durch meine angehauchte Tauchermaske die frischen Fische betrachtete, die mich ebenfalls zurückansahen, und plötzlich den Eindruck hatte, diese Augen seien in Wahrheit die Augen des Meeres selbst."

Die offizielle Diagnose hieß: Legastheniker. Buchstabe für Buchstabe zu entziffern, das dauerte zu lang. Bilder konnte man auf einen Blick erfassen. Die gesprochene, nicht die geschriebene Sprache wurde sein Element. Ein Schauspieler und Entertainer, der Geschichten erzählte und andere nachmachte, das war er schon als Kind.

"Martin, ab in die Ecke und schäm dich!"

So nutzte er die Schule auf seine Weise: als Bühne und Atelier. Ansonsten wusste er so wenig mit ihr anzufangen wie sie mit ihm. Es war der Beginn eines Kampfes, der ein Leben lang dauern sollte: Mit Institutionen würde er immer auf Kriegsfuß stehen, egal ob Kunsthochschule, Krankenhaus oder Museum. Er hatte was gegen feste Mauern, enge Grenzen, gegen Hierarchie und Autoritäten. Angst hatte er keine vor denen, die das Sagen hatten.

So eckte er an und wurde in die Ecke gestellt. "Martin, ab in die Ecke und schäm dich!" nannte er eine Reihe von Skulpturen, lauter Selbstporträts.

Das erste Zeugnis konnte kaum schlechter sein. "Beteiligung am Unterricht: ausreichend." 23 Tage war er in diesem ersten Halbjahr krank. Die schulische Bilanz: "M. hat einen ausreichenden Anfang gemacht." Nach einem halben Jahr sah es nicht besser aus. "M. wird im zweiten Schuljahr Mühe haben", schrieb die Rektorin. Nur im Zeichnen und Werken wird er "gut" bekommen. Alles andere war befriedigend oder ausreichend, Rechtschreibung: mangelhaft; im dritten Schuljahr sogar ein ungenügend.

Die Zeichnungen, mit denen er seine Hefte vollkritzelte, zählten nicht. Nur die Rechtschreibfehler. In der dritten Klasse blieb er sitzen. "Aus gesundheitlichen Gründen", steht im Zeugnis. Da hatte die Lehrerin den Eltern längst empfohlen, ihn aufs Internat zu schicken.

JUGEND

Die einzige Schule, die er gern und mit Erfolg besucht, ist die Tanzschule Blömecke. Die mollige Lehrerin ist seinem Charme und seiner Tanzkunst erlegen, nur gelegentlich ermahnt sie: "Herr Kippenberger, nicht so mit dem Hintern wackeln." Zum Schlussball lässt er sich von unserer Mutter einkleiden: Samtanzug, ein auf Taille geschnittenes weißes Hemd und eine riesige schwarze Fliege. "Er sah aus wie Franz Liszt in jungen Jahren."

Mit zehn Jahren wünscht er sich, neben Radiergummi und Bleistift, Buntstiften, Malpapier und Staffelei, einen Fotoapparat ("weil Vater auch einen hat"), dazu eine Armbanduhr, lange Hosen und einen Schlips. "Er ist eitler als alle vier Mädchen zusammen", notiert unsere Mutter, als er sich zum nächsten Fest wieder Anziehsachen und einen edlen Schmincke-Farbkasten wünscht. Er rüstet sich für seine Auftritte. Bevor er auf seine erste große Abenteuerreise geht - mit 16 fährt er als Schiffsjunge für ein paar Wochen nach Südamerika -, kleidet er sich in Hamburg erst mal ein: zwei Bermudas, Sonnenbrille, Hut, Polohemd, Gürtel und Pfeife.

Als Gesamtkunstwerk tritt er in der Öffentlichkeit auf. Zu Hause hat er zwar sein eigenes Reich, ein großes, fast abgeschiedenes Zimmer - aber er ist kaum zu Hause, sondern meistens unterwegs. Im "KZ", wie das Jugend-Kulturzentrum genannt wird, in dem man sich trifft, Go spielt und ein bisschen hascht, im "Pop-In", einer Disco, und vor allem im "Podium", einer kleinen Kellerkneipe am Gänsemarkt, das erste der vielen Stammlokale seines Lebens, in dem er jeden, wirklich jeden Abend verbringt. Um sieben macht die Kneipe auf, um halb sieben spätestens sitzt Martin auf dem Mäuerchen davor.

Er stürzt sich auf Frauen, bummst, fickt, vögelt und pudert sie

Als "das einschlägige Kiffer- und Jazzlokal" der Stadt bezeichnet Helge Schneider das Podium in seiner Autobiografie. Hier gibt's alles und von allem reichlich, Hasch, LSD und holländische Kapseln, eine Art Ecstasy. Dazu die passende Live-Musik. Auch die Musiker von Kraftwerk treten hier auf.

Im Podium ist Martin einer der Jüngsten, eigentlich dürfte er noch gar nicht da rein, aber erstens ist er eh nicht aufzuhalten, und zweitens unterhält er die anderen so gut - egal, was Martin raucht oder schluckt, er ist "so mitteilungsbedürftig wie eh und je", meint sein Jugendfreund Hanno Huth. Und er hat das, was Huth "die Eintrittskarte" nennt, "das Allerwichtigste": lange Haare. Im Podium stellt Martin auch zum ersten Mal aus: Esso S, eine Öldose auf Holz: "Für Rheinfischer". In eine Zigarettenschachtel der Marke Lord steckt er einen kleinen Krebs: Oh Lord, what have you done to me.

Längst hat er sich auf die Frauen gestürzt, er bummst sie, fickt sie, vögelt sie, pudert sie, die Worte gehen ihm nicht aus, die Mädchen offenbar auch nicht. Unsere Mutter staunt: wo er doch so schreckliche Schweißfüße hat. Er ist besessen vom Sex, angeblich treibt er es in der Disco, zu Hause vor seinen Freunden und im Puff. Einmal, als er sich von einer Freundin, die wie so oft in dieser Zeit älter ist als er, getrennt hat, stellt er sich grinsend vor unsere Mutter: "Da habt Ihr Euren Sohn wieder, keusch wie Josef!". "Ich wünschte", meint unsere Mutter dazu, "in der Schule wäre Originalität etwas mehr gefragt, dann wären unsere Kinder besser dran."

Keuzberger Hinterhöfe, Charlottenburger Charme

"Lieber Maler, Male mir" von Martin Kippenberger 2003 in Correr Museum während der Biennale of Art in Venedig.
"Lieber Maler, Male mir" von Martin Kippenberger 2003 in Correr Museum während der Biennale of Art in Venedig.
© AFP/GABRIEL BOUYS

INTIMLEBEN DER FAMILIE SKODA

Schnell war Martin in Berlin zu Hause, kannte alle Kneipen, die man kennen musste, und fand Familienanschluss. 1974 oder ’75 hatte er auf Ibiza die Truppe um die Designerin Claudia Skoda ("chic in Strick") kennengelernt - in Anitas Bar, "mit vielen Schönen am Tisch drumherum". Alle gingen an den Strand, um braun zu werden, nur er blieb käsebleich mit rot gefärbten Haaren und unvollständigem Gebiss am Tisch sitzen. Martin ging höchstens ans Meer, um Fotos zu versenken.

Und so wurde er "Hausfreund", wie er das nannte, in der Kreuzberger "Fabrikneu". Drei Paare teilten sich für 500 Mark Miete die 350 Quadratmeter in der Zossener Straße: Claudia und Jürgen Skoda, Jenny Capitain und der Schlagzeuger Klaus Krüger, der mit Tangerine Dream und Iggy Pop auftrat, Angelik Riemer und Reinhardt Boch. Eine Wohn-und Lebensgemeinschaft unterm Dach, in guten Zeiten wie eine Großfamilie, in der jeden Tag gekocht wurde.

Martin schleppte auch unsere Mutter zum Kaffeetrinken und Kunstkaufen bei Angelik Riemer an, war gleich "voll dabei", wie Skoda erzählt. "Er hat sich immer eingebracht ins laufende Geschehen." Im Oktober ’76 baute er der Strickdesignerin eine Bühne, die er selbst auch nützen wollte, zum Reden, Tanzen und für Diashows, eine Fotocollage als Laufsteg, sein erstes großes Berliner Projekt, von dem er sich viel erhoffte: ähnliche Aufträge anderswo, in Düsseldorf zum Beispiel.

Nach seiner Show muß der Gast erst einmal Luft holen

"Fotografierter und geklebter und versiegelter Fußboden aus einer Woche Intimleben der Fam. Skoda und Bekanntenkreis", so nannte er das viermal zwölf Meter große, mit Kunstharz versiegelte Werk. 1300 Fotos hatte er zusammengefügt, von ihm selber geschossen und entwickelt, nicht unähnlich denen, die Andy Warhol und Sigmar Polke vor ihm und Nan Goldin nach ihm machten.

Die Collage lässt sich auch als Streifzug durch Berlin betrachten, fast wie ein Film: Kreuzberger Hinterhöfe, Charlottenburger Park, Schaufenster der Stadt, Billardsalons, die Mauer mit Aussichtsturm, Klohäuschen und Graffiti ("Zerschlagt den roten Mob!"), Woolworth, Wohnsiedlungen und Stadtautobahn; mit dem Doppeldeckerbus fährt man durch die Straßen, vorbei an schönen Frauen und Kindern, an Hunden und Hundeschildern ("Wir müssen draußen bleiben"), passiert Leos Futterkrippe, wo es Charlottenburger Pilsner, Africola und Kassler gibt. Mit der Kamera erfasst Martin Männerklo, Pommesbude und Milka-Reklame: "Ich bin wahnsinnig zart." Und dazwischen das Leben in der Fabrikneu, in der Küche, beim Frühstück, im Bett, mit allen Details vom Zahnputzbecher bis zum Plattenspieler.

Aber so fremd die Großfamilie Skoda auf Martins Fotos in den Straßen Berlins wirkt, so schwierig war es für den Kritiker des Tagesspiegels, die Show drinnen mit der Wirklichkeit draußen in Einklang zu bringen und wieder auf der Erde anzukommen: "Die großzügig gemusterten Modelle faszinieren wie Popfiguren aus Andy Warhol-Filmen; nach der Show muß der Gast in den Ateliers Fabrikneu erst einmal tief Luft holen, damit er dem grauen Alltag wieder begegnen kann."

Gewohnt und gearbeitet hat er wie viele rund um den Oranienplatz

So wild und elektrisiert Martins Stadt auch war, Berlin - und das hieß immer: West-Berlin - war zugleich ausgesprochen übersichtlich und familiär. Die Stadt, in der die Künstler sich bewegten, war eher ein Dorf, bestand aus Kreuzberg und Charlottenburg und der Strecke, die dazwischenlag. "Es gab ja nur ein paar Läden, wo man hingehen konnte", erzählt der Künstler Uli Strothjohann, "da lief man sich dauernd über den Weg": Exil, Einstein, Fofi's, Paris Bar, Axbax, Zwiebelfisch, Gabis Bar, Königreich Sachsen, Dschungel - seinen "Trampelpfad" hat Martin die Lokalstrecke genannt.

Gewohnt und gearbeitet hat er wie viele rund um den Oranienplatz. In der Nähe waren der Moritzplatz mit der Galerie der Künstler und die Oranienstraße mit dem S. O. 36, abends traf man sich beim Essen im Exil am Paul-Lincke-Ufer, wo der Dichter und Wirt Oswald Wiener Hof hielt, Zeitung las und Gift und Charme versprühte, seine Frau Ingrid, auch sie eigentlich Künstlerin, eine Zeit lang am Herd stand, wo der Künstler Bernd Zimmer als Hilfskoch arbeitete und der spätere Galerist Bruno Brunnet als Kellner, wo Dieter Roth und Joseph Beuys und Arnulf Rainer zeigten, was ein echter Künstler ist, wo Fassbinder mit seinem Clan und Peter Stein mit seiner Truppe saßen (die Schaubühne war ja nicht weit weg, am Halleschen Ufer) und wo man neben den jungen Künstlern auch ihre Lehrer, Koberling, Hödecke und Lüpertz, antreffen konnte. Es war einer der wenigen Orte in Berlin, wo man gut essen konnte und einen Espresso bekam.

DIALOG MIT DER JUGEND

Was der Ratinger Hof in Düsseldorf, war das S. O. 36 in Berlin. Ein Ort, der hässlicher nicht hätte sein können. Ein langer, mit kalten Neonröhren beleuchteter Schlauch, möbliert mit übereinandergestapelten Kühlschränken, Stehtischen und Dosenbier, ansonsten Leere, die darauf wartete, gefüllt zu werden. Das, erklärte Martin später, "war der entscheidende Punkt an diesem Laden: Die Herausforderung des schwarzen Raums. Die Leute wollten gar nicht unbedingt tolle Musik hören oder die interessante Veranstaltung geboten haben, eigentlich war das Wichtigste für jeden dort, einen schwarzen Raum zu durchqueren, die wollten es nur schaffen da durchzukommen, durch den Gang bis zur Bühne, wo man das Licht sehen konnte, egal, was geboten war!"

Er hat den Club nicht gegründet, wie es oft heißt, er hat ihn einfach besetzt. Achim Schächtele hatte ihn mit zwei Kompagnons gestartet, der Name stammte von der Postanschrift. Nun tanzten hier die Ratten. Zu dritt räumten sie auf und mauerten Klos aus den Steinen der alten Häuser, die drum herum abgerissen wurden - Kahlschlagsanierung nannte man das. Am 13. August 1978 wurde der Club eröffnet, am 17. Jahrestag des Mauerbaus, mit elf Punkbands und einer Buttercremetorte.

Martin war Stammgast von Anfang an. Für Schächtele sah er aus "wie ein Malocher", wenn er auf seinem Mofa angeknattert kam, das Hütchen auf dem Kopf, das die einen an Tirol, die anderen an Honecker erinnerte und das im S.O.36,wo ständig Bierbüchsen durch die Luft flogen, auch ein bisschen Bauhelmfunktion hatte: "Ich dachte, der ist Arbeiter und kommt direkt von der Schicht", sagt Schächtele. "Ich hab den zuerst gar nicht verstanden. Ich dachte, der wäre so wie wir." Nicht lange. Martin genügte es nicht, Zuschauer zu sein, also sprang er auf die Bühne, riss den Musikern das Mikrofon aus der Hand, sang, grölte, schmierte sich mit Rasierschaum ein, warf mit Salzstreuern herum. Die Rausschmeißer wollten ihn schon rausschmeißen, aber bereits damals machte Schächtele, klein, kompakt und geradezu, das, was er noch oft machen würde: Er beschützte Martin, schlichtete, ließ ihn machen.

Im S.O.36 wurde getanzt, gepinkelt, Musik gemacht

Erst nachdem Schächtele einige Wochen wegen einer Hepatitis aus dem Verkehr gezogen war, der Club geschlossen blieb und sie dringend Geld brauchten, hat Martin es geschafft. Er kaufte sich ein und übernahm die Anteile eines Geschäftsführers, der aussteigen wollte. Seinen Geburtstag - "1/4 Jahrhundert Kippenberger, vom Eindruck zum Ausdruck" - feierte er, mit einem Jahr Verspätung, zwei Tage lang im S.O.36,natürlich mit Programm und einem Buch dazu, erschienen im Verlag Pikasso's Erben, Berlin/Paris, hinter dem auch wieder Martin stand. Zum Buch und seinen leeren Seiten gehörten viele Kinderfotos, die man hineinkleben konnte, Martin als Kasper, der kleine Martin mit Hut auf dem Kopf und Bierflasche in der Hand, Zeichnungen vom jugendlichen Martin (ein Büchsenöffner, John Lennon und Yoko Ono), Martin als Hippie im Beduinenmantel in Essen-Frillendorf, Martin mit langen Haaren, Martin mit Kaffeemaschine in der hocherhobenen Hand, Martin als türkische Putzfrau, Martin vor der Mauer.

Eine New Wave Gruppe aus London spielte beim Geburtstagsfest, Tabea Blumenscheins Film "Die Dollarprinzessin" wurde mit Martins Musik uraufgeführt, dazu von "Kippenberger Junior: Video, Normal 8, 3-fach Tonbildschau, Tanz und Spaß" und von unserem Vater "Kippenberger senior: Übertage/Untertage, Zandvoort an Zee, 2-fach Projektion". In der ganzen Stadt hingen Plakate zur Ankündigung der Show.

So ging es im S.O.36 weiter, Martin war immer da, begrüßte die Gäste, es wurde getanzt, gepinkelt, auch gegen Bilder, natürlich Musik gemacht, neben deutschen Gruppen wie Mittagspause, PVC, DINA Testbild kamen Bands aus der ganzen Welt, ein Mann namens Zensor lief mit seinem Bauchladen durch den Saal und verkaufte Platten, die es anderswo nicht gab, es wurde Fernsehen geguckt (der Boxkampf von Cassius Clay), fotografiert (von Jim Rakete zum Beispiel), gekämpft, getrunken, geschlagen und gemalt. Zusammen mit Fetting pinselte Middendorf einen Sonnenuntergang an die Wand, der nach zwei Wochen wieder verschwand, und zeigte dazu Filme von Sonnenuntergängen, die er aus Kippenbergers Büro-Fenster gedreht hatte. Bernd Zimmers "U-Bahn, m 1/10 Sek, vor der Warschauer Brücke" war nur einen Tag lang zu sehen. Gerhard Rühm kam vorbei, Martin stellte seine Zeitschrift "sehr gut/very good" vor, zeigte mit Ina Barfuss und Thomas Wachweger "Buonas Dias" und Filme, die er auf dem Flohmarkt gefunden hatte, "aber nach einer Viertelstunde hat niemand mehr hingeguckt", so Helmut Middendorf. "Man hat das auch nicht so wahnsinnig ernst genommen." "Was ist bloß am Sonntag los?"

Großer Andrang im Hamburger Bahnhof. Kippenbergers Kunst fasziniert Massen.
Großer Andrang im Hamburger Bahnhof. Kippenbergers Kunst fasziniert Massen.
© Mike Wolff

KÄLTE AN LEINWAND

So pointiert wie die "Bild"-Zeitungs-Überschriften sind auch viele Titel seiner Bilder, Bücher und Ausstellungen. Die Serie "Krieg böse" zum Beispiel, entstanden in der Zeit der Friedensbewegungen: "Kürzer kriegste die ganze moralische Aufrüstung nicht hin", meint sein Freund Meuser, den Martin schon mal vor einer Ausstellungseröffnung 1981 "zum Titelkloppen" nach Stuttgart bestellte und mit dem er in Frankreich einige seiner kurzen "Gedichtchen" verfasste.

Sie sprachen dieselbe Sprache, "wir hatten einen ähnlichen Wortschatz: Das war die Heimat." Auch Meuser war in Essen aufgewachsen. Beim Titelkloppen mussten die Künstler manchmal aufpassen, dass sie vor Lachen nicht vom Stuhl fielen.

Deutschland deine Gewässer - Kälte an Leinwand - Die Lieblingstante von Tina Onassis auf dem Heimweg - Aschenbecher für Alleinstehende - Nichts mitkriegen, nichts abkriegen - Ich geh kaputt, gehst du mit - Erst drehen, dann wenden - Schachtelhalme am frühen Nachmittag - Was ist bloß am Sonntag los - so heißen einige seiner Bilder. Auch Martins Ausstellungstitel haben ihre eigene Poesie: Helmut Newton für Arme - Buying America & Selling El Salvador - Kampf dem Dekubitus - Sand in der Vaseline - Peter, Die russische Stellung - Nix Rugula - Gib mir das Sommerloch (Under the Volcano - Teil II) - Wie komme ich in Kriegszeiten mit Knochenbruch und Futurismus klar - 14000000 für ein Hallöchen - Wäscheleine verkehrtrum - Capri bei Nacht. Viele seiner Titel und Sprüche wurden später zu geflügelten Worten (Dialog mit der Jugend, Abschied vom Jugendbonus, Selbstjustiz durch Fehleinkäufe), andere griffen Kuratoren später für Gruppenausstellungen auf: Lieber Maler male mir, Vom Eindruck zum Ausdruck, Tiefe Blicke, Gibt's mich wirklich ... Dass er unbelesen, un-verbildet war, erwies sich für ihn als Vorteil. "Die Worte fallen ihm zu, wie einem auf der Straße ein herrenloser Hund zurollt", schrieb die "Schwäbische Zeitung" 1982 anlässlich seiner Ausstellung im Forum Rottweil, "und er macht aus diesem Zufall ein kleines Bild." Ja, manchmal, meinte Niklas Maak sehr viel später in der FAZ, habe man den Eindruck, er habe seine Bilder nur widerwillig und ganz schnell gemalt, um ihnen schöne Titel geben zu können. Manchmal sparte er sich das Malen auch ganz: 1986 veröffentlichte Martin das Buch "241 Bildtitel zum Ausleihen für Künstler".

FÜNFZEHN BEINE, TROTZDEM ALLEINE

"Das Sahara- und Antisahara-Programm / Das Leben ist hart und ungerecht", so nannte Martin die Ausstellung, die am 28. Februar 1982, drei Tage nach seinem Geburtstag (jetzt begann wieder das Antisahara-Programm), im Forum Kunst Rottweil eröffnet wurde. Die Einladungskarte zeigt einen von der Mauer gefallenen Eiermann, das Plakat einen kecken und selbstbewussten Martin im Schwarzwälder Schnee, wie er im Beuys'schen Filzanzug auf der Skulptur von Erich Hauser sitzt, die die Grässlins vor ihrer Firma aufgestellt hatten. Ein Kunstbesetzer.

Hauser, in Rottweil der Lokalmatador, fand das gar nicht lustig. Er witterte Konkurrenz, Martin war der erste Künstler der neuen Generation, der im Forum ausstellte, das er doch initiiert hatte. Dass Martin sich ungeniert auf das Hausersche Sofa legte und rumknutschte, hat die Spannung auch nicht gelockert. Frau Hauser bekam einen hysterischen Anfall. Beuys, der große Beuys dagegen fand die Frechheit offenbar lustig, der Rheinländer machte, was Martin auch immer machte, er eignete sich das Werk des Kunstbesetzers einfach selber an, machte aus dem Kippenberger einen Beuys, indem er eine Reihe von Plakaten stempelte und signierte.

Der Kritiker war verwirrt und fasziniert von der Vielzahl der Bilder

Stolz notierte die Lokalzeitung, dass alle 90 Bilder eigens für die Ausstellung produziert worden seien (was nicht ganz stimmte). Auch die Eröffnung war voll, 200 Besucher, wobei der Künstler, wie der "Schwarzwälder Bote" notierte, "aufs Publikum zugeht wie ein junger Kulenkampff. Nur spannt Kuli dabei nicht die Hosenträger." Das Pils hatte der Künstler selbst besorgt, Alkohol war vom Kunst-Forum für die Eröffnung nicht vorgesehen. Martin hielt gleich mehrere Reden und ließ lesen, Michel Würthle, aus Berlin angereist, rief zum Gruppenbild, aber dafür fühlten sich die Pressefotografen nicht zuständig. "Also besorgt der ebenfalls anwesende Papa Kippenberger das mit seiner Pocketkamera. Die jedoch funktioniert allenfalls sporadisch: ,Das Ding ist mir ins Klo gefallen.’" Der Kritiker war verwirrt und fasziniert von der Vielzahl der Bilder und Stile, empfahl das Chaos aber zur Besichtigung.

Zu sehen waren die sechsteilige Serie "Fünfzehn Beine, trotzdem alleine", Motive aus dem Schwarzwald - der Rathausplatz von St.Georgen, die Mühleder Grässlins -,noch einmal "Bekannt durch Film, Funk, Fernsehen und Polizeirufsäulen", die berühmteste der Serien, die inzwischen von 14 auf 21 Bilder angewachsen war und die die Grässlins kauften,viele Porträts,von Helmut Schmidt und seiner Frau ("Laßt Unkraut wachsen"),von Arafat ("Arafat hat das Rasieren satt") und Harald Juhnke ("Die Kunst, ein Mensch zu sein"), ein strahlender Ronald Reagan mit einer Maus in blutiger Pfütze auf dem Revers, ein Selbstporträt nach Art von Francis Bacon, mit zermatschtem Gesicht ("Kippi kleines Arschloch").

"Berlin bei Nacht" hieß eine Serie, die die exzessiven Jahre in drei kleinen Bildern zusammenfasste: "Große Wohnung, nie zuhause" zeigt einen schwankenden Mann von hinten; "Dialog mit der Jugend"; "Deckname Hildegard" zeigt eine Ratte unter einem leeren Weinglas. Es waren schmutzige kleine Bilder, nach Vorlagen so bunt und schlecht wie möglich gemalt und dicht gehängt, alles im bekannten Format 50 x 60, alles in einer Reihe. Sie machten sich mit Macho-Sprüchen unbeliebt

"I Am Too Political" von Martin Kippenberger 2005 in Saatchi Gallerie in London.
"I Am Too Political" von Martin Kippenberger 2005 in Saatchi Gallerie in London.
© AFP PHOTO/JOSHUA ROBERTS

DIE HETZLER BOYS
"Martin war die Vorhut", sagt Max Hetzler, "ein großer Wegbereiter. Egal, wo er war, er konnte ja nicht übersehen werden." Hetzler folgte mit Bärbel Grässlin nach Köln und eröffnete 1983 die neue Galerie in der Kamekestraße, im früheren Atelier von Dokoupil; Gisela Capitain ließ Berlin und die Schule hinter sich und stieß als Mitarbeiterin dazu, bevor sie sich 1986 alleine selbstständig machte und zunächst als eine Art grafisches Kabinett das Hetzler-Programm begleitete.

Mit dem Umzug von der Peripherie ins Zentrum änderte sich weit mehr als eine Adresse: "Das war nicht mehr Friede, Freude, Eierkuchen wie in Stuttgart", so Hetzler. "Zum ersten Mal haben sich Künstler und Galerien als Konkurrenz gesehen. Man musste sich profilieren und behaupten." Gegen Monika Sprüth vor allem, die sehr viele Künstlerinnen vertrat, und gegen Paul Maenz, der schon seit 1970 seine Galerie in Köln betrieb. Maenz und sein, wie einer von Martins Freunden es nennt, "Etepetete-Schwulsein" konnte Martin nicht leiden, vor Michael Werner hatte er Respekt; 1969 war dieser von Berlin nach Köln gezogen und bildete mit der Galerie, in der er Baselitz, Lüpertz, Immendorff, Polke und Penck um sich scharte, ein Modell für Hetzler und seine Jungs.

Die Hetzler-Truppe, das waren Albert und Markus Oehlen, Günther Förg, Werner Büttner, Hubert Kiecol, Reinhard Mucha, Meuser, Georg Herold und Martin. Sie vertraten keine Schule und keinen gemeinsamen Stil, ja nicht mal ein gemeinsames Medium. Was sie verband, waren ihre Haltung, ihr Denken, ihre Themen, ihr Humor und die Sprache, ihr Alter und ihr Geschlecht. Sie provozierten und polarisierten, waren sperrig wie ihre Kunst. "Es waren Künstler, die extreme Positionen bezogen und einen scharfen Verstand mitbrachten", meint Max Hetzler. Sie schätzten und kritisierten sich, tauschten sich aus, motivierten sich und konkurrierten miteinander.

Nur wenige Frauen waren an ihrem Tisch geduldet

Meist arbeitete jeder für sich, aber ihre gemeinsamen Auftritte bei Eröffnungen, in Kneipen und Restaurants befestigten den Zusammenhalt - nach innen wie nach außen. In den frühen achtziger Jahre traten die Hetzler Boys fast immer als Gruppe in Erscheinung, redend, singend, provozierend, sich entblößend. Hauptsache laut. "Zusammen mit Hetzler", erzählt Oehlen, "haben wir uns zum Affen gemacht und den Unmut aller zugezogen. Wir sind auf den Tisch gestiegen und haben die Hosen runtergezogen: Künstlerextremverhalten. Das war auch sehr anstrengend." Sie haben die Stadt beherrscht, haben andere ausgegrenzt, in ihren Urteilen waren sie gnadenlos. Und Martin, sagt der Künstler Andreas Schulze, der dem quasi feindlichen Lager der Künstler von Monika Sprüth angehörte, "war der Chef. Der hatte immer das lauteste Maul. Die anderen sind ihm gefolgt."

Als reiner Jungens-Trupp haben sie die Frauen an den Rand gedrängt, sich mit Macho-Sprüchen unbeliebt gemacht. Frauen über 40 forderten die Hetzler-Boys auf, ihre Hängebusen auf den Tisch zu legen, Jüngeren grabschten sie schon mal nach der Brust oder in den Schritt. Nur wenige Frauen waren an ihrem Tisch geduldet, und wer sich zu ihnen setzte, musste sich von anderen hinterher Vorwürfe anhören: Wie sie nur könnten!

Auch in Köln hat Martin sich nicht auf die Produktion von Kunst beschränkt, hat sich auch um die Präsentation gekümmert, ums Rahmenprogramm. Immer nur Bilder an der Wand, das sei ein bisschen langweilig, da müsse man doch etwas Schwung in die Galerie reinbringen, erklärte er 1983, er kenne da aus Berlin so ein paar verrückte Musiker, Sven-Åke Johansson, Rüdiger Carl und ein paar andere. "Erst hat der Martin mich eine Nacht malträtiert bis morgens um sechs mit diesem blöden Konzert", erzählt Bärbel Grässlin, "dann hat er mit Max die gleiche Prozedur gemacht, eine Nacht mit ihm durchgesoffen und breitgeklopft, und dann haben wir gesagt: Okay, machen wir das Konzert." Markus Oehlen hat das Plakat entworfen, "Max und ich sind dann losgezogen, wir haben liebevoll die ganze Stadt voll geklebt, Bauzäune, alles".

"Als Künstler hat ihn damals niemand so ernst genommen"

"Martin hat sich enorm für die Künstler der Galerie eingesetzt", erzählt Max Hetzler. "Als Kasper und Stratege" - in dieser Doppelrolle, glaubt der Wiener Galerist Peter Pakesch, war Martin enorm wichtig für den Erfolg der Galerie. "In der Frühzeit ist Max ohne Martins Strategie nicht denkbar gewesen." Martin, glaubt Jutta Koether, "war derjenige, der da Bewegung reingebracht hat, so dass sie über den Stadtrand hinaus bekannt wurden". Martin mochte zwar der Katalysator sein - aber er blieb wieder ein Außenbordmotor.

"Als Künstler hat ihn damals niemand so ernst genommen", so Pakesch. "Man hat seine organisatorischen und PR-Qualitäten gesehen, dass er keine Ruhe gegeben, sich überall eingemischt hat. Aber für die richtig guten, ernsthaften Künstler wurden die anderen gehalten." Büttner zum Beispiel, der "den Eindruck des Chefdenkers" machte, so der Sammler und Fotograf Wilhelm Schürmann, "und Albert, der als der beste Maler galt".

"Kippi hottet über Teller und Gläser", schrieb Joachim Lottmann, "tanzt den Verrückten-Shuttle, zerbeißt das Glas der Rotweinkelche, springt an den Kronleuchter, läßt sich wie ein Stein zu Boden fallen, knöpft die Hose auf, züngelt mit der Zunge herum wie einst Gene Simmons von der Gruppe "Kiss". Er babbelt und sabbelt, nuschelt, ist der verwegene Anarchist, wie die bourgeoisen Weinkenner-Galeristen ihn sich erträumen."

KIPPENBERGER BÖSE
Ob ihn sein schlechter Ruf störe, hat ihn die Zeitschrift "Twen" 1982 gefragt. "Irgendwann", antwortete Martin, "hab ich gemerkt, daß ich den habe, ohne daß ich dafür konnte. Da hab ich ihn ausgebaut. Die Leute brauchen Feindbilder, also bin ich ein Feindbild. Eine meiner großen Aufgaben! Schließlich fehlt's an solchen Feindbildern wie ,Polizei böse, wir gut!’ Also ,Kippenberger böse!’" An seinem Ruf als bad boy arbeitete Martin so hart wie an seinen bad paintings. Wenn er schon nicht ernst genommen wurde als Künstler, wollte er wenigstens wahrgenommen werden.

Er konnte auch anders. "Unheimlich liebevoll und nett, immer sehr zivilisiert" habe er sich ihr gegenüber verhalten, erzählt Rosemarie Trockel, mit der er 1983 "mehr oder weniger" zusammen war. "Ich kann mich überhaupt nicht beklagen." Einmal, als er abends wieder sehr spät nachts nach Hause kam, da fand sie ihn irgendwann mit ihrem alten, kranken Hund, von dem Martin wusste, wie viel er Trockel bedeutet, Arm in Arm auf dem Küchenboden. Der Hund hätte nicht mehr die Kraft gehabt, zu ihm zu kommen, hat Martin erklärt, also sei er zum Hund gegangen.

Morgens um fünf Uhr rief er an

"Sozialkistentransporter" in der Martin-Gropius-Bau-Ausstellung "60 Jahre. 60 Werke. Kunst aus der Bundesrepublik Deutschland".
"Sozialkistentransporter" in der Martin-Gropius-Bau-Ausstellung "60 Jahre. 60 Werke. Kunst aus der Bundesrepublik Deutschland".
© AFP / JOHN MACDOUGALL

DER SONNTAG IST DIE VERKÖRPERUNG DES SPIEGELBILDES VON MARTIN KIPPENBERGER

Von seiner Energie, seiner unglaublichen Energie erzählen alle Weggefährten noch heute voller Bewunderung. Dass er die ganze Nacht durchmachen und -trinken konnte und am nächsten Morgen um neun schon wieder dastand mit neuen Ideen und Plänen und Projekten. Diese Lust am Leben, an den Menschen, an der Kunst war vielleicht die wichtigste Quelle seiner Energie. Auf die Frage, was er für seine Talente halte, hat er geantwortet: "Dass ich eine Frohnatur bin. Und dass ich neugierig bin." "Martin", sagt der Galerist Tim Neuger, "konnte ja auch zum Friseur gehen, sich unterhalten und eine gute Zeit haben."

Er hatte, meint Andrea Stappert, so ein kindliches Vergnügen an seinem eigenen Humor, "an dem, was ihm jetzt wieder Merkwürdiges eingefallen ist. Der hat sich ja selber Spaß gemacht. Das hat man schon vorher in seinem Gesicht gesehen, wie er sich gefreut hat über das, was er gleich sagt." Auch Trotz, glaubt sein Student Tobias Rehberger, habe als Energiespender eine Rolle gespielt - "und ein wahnsinniger Wille". Und, nicht zu vergessen, der Mittagsschlaf und der Alkohol. Es war eine Energie, die sich nicht portionieren ließ. Ihn zu bremsen, meint Georg Herold, das hätte er sich nicht getraut. "Das wäre gewesen, als würde man ihm den Stecker rausziehen."

Vor dem Moment, wo das Licht ausgeht, hat er sich gefürchtet. Er wusste, dass er dann seiner Kehrseite begegnete. "Der Sonntag ist die Verkörperung des Spiegelbildes von Martin Kippenberger", heißt es in seinem Buch "Café Central", "egal ob Ehrenstraße oder Rambla." Am Sonntag war die Stadt tot, und dort, wo sie unter der Woche besonders belebt war, wirkte sie besonders mausetot.

Um acht Uhr früh stand er bei Eleni Koroneou vor der Tür und wollte Bier

"Viele verwechseln ja Vitalität mit Robustheit", meint der Frankfurter Künstler Thomas Bayrle. "Martin war höchst empfindlich und zart." Wenn er ihn allein in den Gängen der Städelschule sah, so Bayrle, kam er ihm sehr schwermütig vor. "Wenn das Sicherheitssystem der Kommunikation ausfällt ist man auf sich geworfen, auf die Erbärmlichkeit des Lebens."

"Vermutlich hat es noch bei keinem Künstler zur Darstellung der existentiellen Einsamkeit so vieler Mitwirkender bedurft wie bei Kippenberger", schrieb der Kritiker Rudolf Schmitz im Zusammenhang mit der Kafka-Arbeit. Martin hat immer Horden von Menschen um sich geschart, hat Essen, Trinken, Arbeit und Unterhaltung geboten. "Wie er sich sein Leben organisiert hat, dass er nie allein sein musste", glaubt Rüdiger Carl, "das war schon sehr ausgekocht, das hatte mit vielen kleinen strategischen Raffinessen zu tun. Das ging ja nicht nur mit Druck: Wenn du jetzt gehst, gucke ich dich ein Jahr nicht mehr an. Das war zu schlapp. Der musste immer was erfinden, dass er es so drehen konnte, wie er es brauchte."

Morgens um fünf hat er Gisela Capitain angerufen, was sie denn so mache, um acht Uhr früh stand er bei Eleni Koroneou vor der Tür und wollte Bier und Betreuung. Sabine Grässlin hat er Bilder viertelesweise versprochen, damit sie nachts nicht schlafen ging, den BMW-Manager Günter Lorenz hat er morgens um vier aus seinem Amsterdamer Hotelbett geklingelt, nachdem sich alle anderen hingelegt hatten, und forderte "Künstlerbetreuung". Dann musste Lorenz in Martins Hotel kommen und ihm bis zum Morgen an der Bar Gesellschaft leisten.

Manchmal ist er auch gar nicht erst ins Bett gegangen

Am schlimmsten war das Alleinsein am Ende einer geselligen Nacht, wenn einer nach dem anderen verschwand. Wenn Martin gerade keine Freundin hatte, auch keinen one night stand, dann fragte (oder drängte) er schon mal eine Freundin, sich zu ihm zu legen, "wie Schwesterlein und Brüderlein", wie eine von ihnen sagt. Dann fragte er auch eine fremde Kuratorin, ob er, ganz keusch, bei ihr im Hotelzimmer schlafen dürfe. "Martin war hyper", sagt seine New Yorker Galeristin Janelle Reiling. "Hyperaktiv, hyperintelligent, hypersensibel." So wie es kein Nicht-Arbeiten und kein Nicht-Kommunizieren gab für ihn, gab es auch kein Nicht-Wahrnehmen. Abschalten ging nicht, er hat immer gekocht. Selbst wenn er endlich mal geschlafen hat, ist er nicht zur Ruhe gekommen. "Ich bin morgens so geschafft", hat er Jutta Koether erzählt, "weil ich so träume. Also, ich hab schon ’nen ganzen Arbeitstag hinter mir eigentlich, am frühen Morgen!"

Manchmal ist Martin auch gar nicht erst ins Bett gegangen, sondern gleich von der Kneipe ins Atelier. Dort, bei der Arbeit, hat er das Alleinsein ausgehalten, dort hat er es gebraucht. Dort hat er auch keinen Alkohol getrunken. Er war "ein Ausnahmemensch", so nennt ihn der Wirt seines Stammlokals im Burgenland. Ein Einziger. Darum auch, glaubt seine Grazer Freundin Elisabeth Fiedler, war er so begeistert, als Johannes Wohnseifer, sein Assistent, das Bild eines Indianerhäuptlings fand, der ihm so ähnlich sah. "Da war dieses Gefühl: Ich bin nicht alleine. Wer hat ihn denn verstanden? Es hat ihn niemand verstanden. Das hatte etwas Verzweifeltes, diese Einsamkeit." Darunter hat er gelitten - und darauf hat er Wert gelegt: dass es keinen zweiten gibt wie ihn. "Es ist traurig, eine Ausnahme zu sein", hat der von Martin so geschätzte Wiener Kaffeehausliterat Peter Altenberg gesagt. "Aber noch viel trauriger ist es, keine zu sein." Deswegen, glaubt Tobias Rehberger, habe Martin niemanden wirklich an sich herangelassen. "Dann verliert man das Solitäre. Und das war ihm auch in der Gruppe wichtig: ein unabhängiger Solitär zu sein."

DIE GARTENZWERGDOCUMENTA

Einen Hit, so Martins Bilanz am Ende seines Lebens, habe er als Künstler gehabt: die Peter-Ausstellung, 1987 bei Max Hetzler in Köln. Die Skulpturenschau war damals "talk of the town", jeder wollte sie gesehen haben - und da gerade die documenta in Kassel lief, kamen auch viele auswärtige Besucher vorbei. Noch heute ist es die Ausstellung, von der alle Weggefährten am meisten schwärmen. "Peter", sagt Gisela Capitain, "war die Bombe. Die Ausstellung hat die damalige Kunstwelt noch deutlicher in zwei Lager geteilt: die Verehrer und die Verächter seiner Kunst."

Ging es bei "Miete Strom Gas" um Architektur, standen nun die Einrichtungsprobleme im Mittelpunkt: Tische, Regale, Boxen, Ständer, Teewagen - besser gesagt Objekte, die wie verunglückte Tische, Boxen, Ständer, Regale und Teewagen aussahen. Da war ein Bücherregal namens "Wittgenstein", ein verspiegelter Paravent "Rainer Werner Fassbinder", eine Box, mit Boxen gefüllt ("Masterwork"), ein Stuhl auf dem Sockel ("Not to be the Second Winner"), ein rollendes Gerüst mit Aktentaschen ("Worktimer"), ein Tisch mit was drauf ("Ich hab nichts gegen Depressionen, solange sie nicht in Mode kommen"), eine Tischplatte ("Wen haben wir uns denn heute an den Tisch gekauft"), ein Tisch, in den ein Bild von Gerhard Richter als Platte eingelegt war ("Modell Interconti", das berühmteste und - durch Richter - wertvollste Stück), ein dreieckiges Etwas auf Rollen ("Pyramide Colonia"), außerdem "Hausbar Simone de", "Wenn's anfängt durch die Decke zu tropfen", "Einmal Freund, nie wieder Bekannter" ... Insgesamt 45 dieser sperrigen, traurig-komischen Objekte hatte Martin in die Galerie gequetscht, auf dass sie aussah wie eine Rumpelkammer - Martins Antwort auf die Bildhauer seiner Zeit, auf Künstler wie Herold, Mucha, Rückriem, Donald Judd, Jeff Koons, aber auch auf Großausstellungen, die so übersichtlich und sauber und ordentlich waren.

"Das ist noch mal ’ne andere Liga, was der Martin macht"

Peter, sagt der Galerist Bruno Brunnet, "hat eine Tür aufgemacht". Jutta Koether hatte das Gefühl, dass Martin der Konzeptkunst neue Dimensionen eröffnete, indem er sich all das erlaubte, was dort eigentlich verboten "und in die neoexpressionistische Malerei ausgelagert worden war", das Volle und das Viele, die Emphase und der Witz. "Von den Ausstellungen, die mein Kunstverständnis geprägt haben", meint die Galeristin Esther Schipper, "war es eine der wichtigsten." Nur kommerziell war Peter kein großer Hit.

Auch für Martin gab es danach kein Zurück mehr. Plötzlich wurde er als Künstler ernst genommen, "da ist mir gedämmert", sagt Peter Pakesch, "dass das noch mal ’ne andere Liga ist, was der Martin macht". Hatte er sich in den Jahren zuvor vor allem dem malerischen und grafischen Werk gewidmet, stürzte er sich jetzt auf die dreidimensionalen Medien, auf die Skulptur, das Multiple, die Großinstallation, bald würde er mit den Zeichnungen auf Hotelbriefpapier beginnen.

Auf Peter folgte ein ganzer Reigen von Ausstellungen, deren Kataloge alle in der gleichen Aufmachung erschienen, ein weißes Heft mit einer Skulptur auf dem Titelbild: "Petra" bei Gisela Capitain, "Peter 2" bei Peter Pakesch in Wien, "Einfach geht der Applaus zugrunde" bei Grässlin-Ehrhardt in Frankfurt, "Sorry III" bei Metro Pictures New York, "Broken Neon", eine Gruppenausstellung beim Steirischen Herbst, "Pop In" beim Forum Stadtpark, "Die Reise nach Jerusalem" bei Bleich-Rossi, alle drei in Graz, "67 Improved Papertigers Not Afraid of Repetition" als Edition Julie Sylvester und, als wäre all das noch nicht genug, "Nochmal Petra" im Jahr darauf in der Kunsthalle Winterthur.

Das Ganze, um das es ihm ging, war allerdings kein geschlossenes Ganzes, sein Werk ist eine einzige Collage. Und wo etwas heil war, hat er es zerbrochen, um die Scherben neu zusammenzusetzen.

1994 ging es richtig los mit der Hatz

"Alkoholfolter" aus der Ausstellung "Sehr Gut. Very Good".
"Alkoholfolter" aus der Ausstellung "Sehr Gut. Very Good".
© AFP/JOHN MACDOUGALL

SCHLÜPFERSTÜRMER

Das Kapitel Berlin war für Martin eigentlich längst abgeschlossen, erst recht seit dem Fall und der restlosen Entsorgung der Mauer. Er regte sich auf, dass die Stadt, die zu seiner Zeit die Wunden der Vergangenheit so offen wie keine andere trug, ihre eigene Geschichte nun niedermachte, als hätte es sie nie gegeben. Ein so wichtiges Denkmal einfach abzureißen, das hat er nicht verstanden: "Steinchen auf Steinchen, das ist so deutsch." "Geschichte ist etwas, das man fühlen muß", erklärte er Marius Babias 1991 im Interview für die Zeitschrift "Artscribe". "Erst sind sie keine Nazis gewesen, dann sind sie keine Kommunisten gewesen. Was sind sie denn?" Seiner Meinung nach hätte die Mauer erhalten werden müssen. "Wir brauchen keine Ausgrabungen wie in Griechenland - in diesem Land spielt die Geschichte sich vor Deiner Haustür ab."

In diesem Jahr, 1991, fand die Präsentation des Heftes "Texte zur Kunst" im Berliner Literaturhaus statt, in dem ein langer Auszug aus dem Gespräch Martins mit Jutta Koether abgedruckt war, schon auf dem Cover mit einem Zitat angekündigt - ausgerechnet in dem Heft, das der Identitätspolitik, dem Multikulturalismus und Antirassismus in der amerikanischen Kunst gewidmet war. "Die Leute haben uns gehasst", sagt Isabelle Graw. "Für die war Kippenberger ein rotes Tuch."

1994 schließlich ging es richtig los mit der Hatz, als der Brandenburger Kunstverein in Potsdam die Kippenberger-Sammlung der Familie Grässlin zeigte. Jetzt war die Stunde der Rache gekommen, wurden alte Rechnungen beglichen, jetzt trauten sich auch die, die vorher noch ängstlich geschwiegen hatten, ihren Mund aufzumachen. Denn sie wussten, dass sie nichts zu fürchten hatten. Im Kippenberger-Bashing waren sich die Kritiker von FAZ und taz ganz einig.

Der Künstler Martin Kippenberger ist passé

"Schlüpferstürmer", so stand über Harald Frickes Artikel in der Zeitschrift "Konkret" anlässlich des "großen Bahnhofs" in Potsdam. "Linksfaschistisch", nennt Uli Strothjohann diese Attacken, als "rechts-anarchisch" bezeichnet Fricke in seinem Text Martins Sprüche, Bilder und Haltungen, stellt ihn dar als Frauenfeind, Nazi, Pornostar, Rassisten und Zyniker, der am liebsten in italienischen Restaurants Mozzarella-Salat und Linguini esse - Modegerichte, für die Martin nur tiefste Verachtung übrighatte. Als Abzocker, der Potsdam bluten lässt, wird der Künstler porträtiert, dem die Sammlerfamilie Grässlin ("seit Mitte der 80er Dauerabnehmer von Kippenberger") dann auch noch "einen teuren Katalog spendiert hat", der den Titel "Kippenberger fanden wir schon immer gut" trug. "Ein deutscher Kleingärtner" war Martin für Fricke, ein Kind der Ära Kohl: "Kohls Wende von 1983 ist der Zeitpunkt, an dem die ,Hetzler-Boys’ den Durchbruch auf dem Markt erzielen."

Als "in die Jahre gekommenen Salonlöwe eines vor lauter Ereignissen gelangweilten Jetsets" beschreibt Marius Babias Martin derweil im Stadtmagazin "Zitty", als "Leithammel einer avantgardegläubigen Schafsherde", der "mit Underground-Attitüden eine mittelmäßige Karriere machte. Ende der 80er Jahre drohte der pubertäre Kraftmeier im Theorieschlamassel der Postmoderne unterzugehen, doch der Kölner Kreis um Christian Nagel, Diedrich Diederichsen und Jutta Koether hielt dem Gestrauchelten nachhaltig die Stange."

Auch in der überregionalen Presse, die Martins Ausstellungen sonst eher ignorierte, wurde mit großer Erleichterung das Ende des Spaßes verkündet. "Im nachhinein liest sich Kippenbergers Aufruf zum Hedonismus wie ein Konjunkturbericht der achtziger Jahre", schrieb Annette Tietenberg in der FAZ. "Doch seitdem es mit Luxus, Überschwang und Verschwendung abwärtsgeht, hat auch der Charme der immerwährenden Pubertät nachgelassen. Selbst die Kunst ist kein Honigschlecken mehr." Der Künstler Martin Kippenberger sei passé, solle sich und dem Publikum mal eine Pause gönnen.

USA

"Es war eine Möglichkeit", sagt Max Hetzler. "Und eine Unmöglichkeit." Sie wollten die Westküste erobern: Mit Erfolg betrieb Hetzler seine Galerie in Köln, Lawrence Luhring und Roland Augustine ihre in New York, jetzt wollten sie gemeinsam etwas Neues, etwas anderes machen. Die Sterne standen gut. Deutsche Künstler wurden in den USA ausgestellt, Beuys hatte seine große Show im Guggenheim Museum, Günther Förg war enorm erfolgreich, die anderen Hetzler-Boys stellten regelmäßig aus. Und die Westküste war kunstmarkttechnisch noch nicht so besetzt wie New York: ein Territorium, das sich erobern ließ. 1989 wurde die Galerie Luhring/Augustine/Hetzler in Santa Monica eröffnet, 1992 machte sie wieder zu. Es gab nicht viel Konkurrenz aber eben auch noch kein großes Publikum.

Auch für Martin war es eine Möglichkeit, ein Traum: nach Hollywood zu gehen, den ganz großen internationalen Durchbruch zu schaffen, es mit der Familie vielleicht doch hinzukriegen. Es war eine Flucht nach vorn, raus aus Köln, wo er am Ende einer Sackgasse angekommen war, an einen Ort, wo er mit der Galerie zumindest schon mal einen Anker hatte. Er träumte davon, in L. A. ein richtiger Star zu werden. Stattdessen blieb er, was er dort von vornherein war: "ein Unikum". Egal, wie sehr er sich anstrengte - "man bleibt draußen". 1989 ging er nach Kalifornien, 1990 kam er schon wieder zurück, 1991 zog er "die Bilanz der Erkenntnisse meines Amerika-Aufenthalts: LA ist ein plattgehauenes Loch".

First we take Manhattan - and then we take Berlin, den Song hat Martin gern gehört. Genauso wollte er es schon Ende der 70er Jahre machen: First we take Berlin and then we take Manhattan.

Mit seinen engen Lederhosen hat er die New Yorker verunsichert

Und so zog er durch New York, auf der Suche nach Abenteuern, Begegnungen und Nudelauflauf, überall fragte er danach, aber so was kannten sie dort nicht, die erste Enttäuschung im Land der, wie er bald merkte, begrenzten Möglichkeiten. "He ended up with Spaghetti", sagt seine damalige Freundin Christine Hahn. Martin war Europäer und würde es immer bleiben, nie wollte er, wie andere deutsche Künstler, verschmelzen mit dem melting pot - er, Kippi Kippenberger aus Berlin, wollte Erfolg haben in New York, aber kein New Yorker sein. Er war hungrig nach Austausch, schon zum Frühstück traf er Verabredungen. Er war ja nicht zum Urlaubmachen in New York, alles, was er tat, sah und fotografierte - und überall posierte er vor der Kamera -, ließ sich später als Material verwenden, für Karten, Plakate und Kataloge.

Mit seiner Sauferei und Angeberei, seinen engen Lederhosen, den Auftritten in Schlips und Kragen hat Martin die New Yorker verunsichert. "Sie wussten nicht, was sie von ihm halten sollten." Ein unbekannter deutscher Künstler - zumindest trat er als Künstler auf, gesehen hatten sie noch nichts von ihm - von extremer Intensität: Verstanden haben sie ihn nicht, aber neugierig wurden sie schon. Was wollte er mehr. Immer wieder ist Martin nach New York gekommen, nur so spielerisch und aufregend wie bei den ersten Malen war es später nicht mehr.

Das Muster blieb das gleiche: Immer alles machen, aufsaugen, ausprobieren. Limo fahren, Ausstellungen angucken, Leute treffen, in die Disco gehen. In den achtziger Jahren war New York die Hauptstadt der Clubs, da gab es das "54", das "Limelight" und eine Disco mit dem passenden Namen "MK", die, wie Martin fand, genauso aussah wie das Pop-In in Essen vor 20 Jahren.

Oh Gott, mein schlimmster Alptraum wird wahr!

"New York ist Elend", resümierte er einmal. Nein, er ging nicht in die Knie vor New York, das er "Großibiza" nannte. Und die Stadt erst recht nicht vor ihm. Das hat ihn gestört, diese Gleichgültigkeit, die David Bowie gerade schätzte: "Den Menschen ist es egal, was Du machst, sie kümmern sich um ihre eigenen Sachen." Und wenn sie sich schon nicht nach David Bowie umdrehen, dann bestimmt nicht nach Martin Kippenberger.

Martin hat die Amerikaner schockiert und bezaubert durch seine hemmungslose Offenheit, die Spontanität, mit der er alles, was er sah und dachte, auch sofort aussprach. Ob er dem Kurator vom Museum of Modern Art auf seinen merkwürdigen Haarschnitt aufmerksam machte oder Mrs. Pulitzer in St. Louis, der Mrs. Pulitzer, einer weißhaarigen Dame in weißem Anzug, bei einem Dinner zur Begrüßung erklärte: You are the whitest white woman I ever met.

Als er zum ersten Mal ins Haus der Kuratorin Betsy Millard Wright kam, wo er eine Woche mit Jörg Schlick verbrachte, hielt er sich nicht mit Höflichkeiten gegenüber den Gastgebern auf, sondern platzte heraus: "Oh Gott, mein schlimmster Alptraum wird wahr!": Das Erdgeschoss hing voll mit der Malerei der Jungen Wilden, von der Mülheimer Freiheit bis vom Moritzplatz. "Aber", sagt Betsy, "er machte nicht einfach wieder kehrt." Er ging weiter, bis in den ersten Stock, wo Oehlens und Kippenbergers hingen.

"Ich glaube", sagt Martins Studentin Ina Weber, "dass Amerika für ihn anstrengend war: dieses ewige Höflichkeitsgebot, das nie Klartext reden": Hello, how are you, fine, that's nice. He, du Arschloch, war seine Art, Kontakt aufzunehmen, na, du Neger. Über den amerikanischen Jargon der bedeutungslosen Nettigkeiten und Bigotterie konnte Martin sich nur lustig machen, das hat ihn erst recht zu Provokationen provoziert und den Ruf des bad boy immer fester zementiert.

Er war enttäuscht von den Oberflächlichkeiten, die er bei Sammlern entdeckte

Martin haben ganz andere Sachen irritiert. Das viele Geld zum Beispiel und dass es, auch in der Kunstwelt, eine so große Rolle spielte. "Jeder Schritt ein Dollar" war seine Kurzbeschreibung von New York, nicht nur, weil alles so teuer war. Damals, bevor Manhattan sauber gefegt worden war, lag ja noch in jedem Hauseingang, vor jedem Schaufenster ein Obdachloser, an dem St. Martin nicht vorbeigehen konnte, ohne ihm einen Schein in die Hand zu drücken.

Er war enttäuscht von den Oberflächlichkeiten, die er gerade bei Sammlern entdeckte. Trotzdem kam er immer wieder. Er wollte ja Erfolg haben, und ohne Amerika ging das nicht. Martin gehörte zur ersten Generation deutscher Künstler, die schon in jungen Jahren internationale Beachtung fanden, er hat viele Ausstellungen gehabt in den USA, nicht nur in den Galerien in New York und Los Angeles - im San Francisco Museum of Art, im Hirshhorn Museum in Washington, im ICA in Philadelphia, im St. Louis Forum for Contemporary Art. "Die Deutschen hat er provoziert, in den USA machte er Furore", schrieb die "Berliner Zeitung" nach Martins Tod. Auch wenn es nicht ganz so gewesen ist - in Amerika bekam er eine Anerkennung von offizieller Seite, die ihm in Deutschland verwehrt wurde. Das Museum of Modern Art, das ihn auch 1987 in die Gruppenausstellung "BerlinArt" aufnahm, hat heute mehr Werke von ihm als alle deutschen Museen zusammen.

"Martin Kippenberger, widely regarded as one of the most talented German artists of his generation, died on Friday at the University of Vienna Hospital": Mit diesem Satz begann Roberta Smith ihren Nachruf in der "New York Times". Keine deutsche Zeitung hätte damals einen solchen Satz geschrieben.

Der Text ist ein Auszug des Buches von Susanne Kippenberger: "Kippenberger, Der Künstler und seine Familien. Berlin Verlag, 576 Seiten, 22 Euro"

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