Bürgermeister Boris Palmer: Der Schlauberger von Tübingen
Mit 34 war der Grüne schon OB der Universitätsstadt, diesen Sonntag stellt sich Boris Palmer erneut zur Wahl. Er ist klug, streitbar, erfolgreich – ein Mann für die große Politik?
Der Bürgermeister von Tübingen kommt mit dem Elektrorad zum Wahlkampftermin. Die Dienstlimousine hat er schon lange abgeschafft. Boris Palmer trägt einen roten Helm, sein Sakko weht im Fahrtwind, polierte Lederschuhe treten in die Pedale. In den Wochen vor der Wahl besucht er jeden Ortsteil dieser kleinen Universitätsstadt, in der Fachwerk und mittelalterliche Mauern an vergangene Zeiten erinnern. Heute: Waldhäuser-Ost, das einzige Viertel, aus dem ein paar Hochhäuser ragen.
Palmer ist ein Hauch von Hollywood in der schwäbischen Provinz. Dieser Hang zur Dramatik. Argumente wie Präzisionsschüsse. Anzüge wie angegossen. Der 42-Jährige war Sprachrohr der Stuttgart21-Gegner, diskutierte in zahlreichen Talkshows. Kürzlich stellte er auf Facebook den Wirt eines Ausflugslokals bloß, weil dieser ihn nicht auf der Terrasse bedienen wollte. Die Palmerposse machte bundesweit Schlagzeilen, mal wieder.
Vor dem kleinen Bürgertreff im Waldhäuser-Ost warten drei Dutzend Leute, die meisten von ihnen sind Rentner. Palmer spurtet vom Fahrradständer die Treppe hinauf und begrüßt jeden persönlich. Eine Sekunde Augenkontakt, Handschlag und Grüß Gott. „Ich liebe den Boris“, sagt eine Frau hinter vorgehaltener Hand, „kein Bürgermeister hat in Tübingen so viel geschafft wie er.“
Alle dachten, Palmer würde mal eine steile Karriere in der Bundespolitik hinlegen. Doch er will noch mal Oberbürgermeister werden. „Das Schöne an der Kommunalpolitik ist, dass ich direkte Ergebnisse meiner Arbeit sehe“, sagt Palmer. Als er ab 2001 für sechs Jahre im Landtag saß, hat er genau das vermisst. „Es war eine Befreiung, nicht mehr nur zu reden, sondern auch handeln zu können.“ Das ist die eine Wahrheit. Die andere ist, dass er, einer der erfolgreichsten Grünen überhaupt, von den Bundesgrünen verschmäht wird.
Boris Palmer war früh mit dabei beim Siegeszug der Grünen in Baden-Württemberg, 58 Jahre lang beherrscht von der CDU. 2006 wurde er in Tübingen gewählt, 50,4 Prozent im ersten Wahlgang. Da war er gerade 34 Jahre alt. Seitdem regiert er eine der jüngsten Städte Deutschlands, 84 000 Einwohner, ein Drittel davon Studenten. Inzwischen hat Palmer graues Haar – und im Landtag residiert der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann. In Stuttgart gibt es jetzt den grünen Oberbürgermeister Fritz Kuhn.
Palmer zieht mit einer makellosen Bilanz in den Wahlkampf. Schuldenfreier Haushalt. 18 Prozent weniger CO2-Emissionen. 5000 neue Arbeitsplätze, verdreifachte Einnahmen aus der Gewerbesteuer. Ausbau von Sozialwohnungen, Sportstätten und die beste Betreuungsquote von Kleinkindern in Westdeutschland.
Die Bürger im Waldhäuser-Ost fühlen sich in seiner Agenda vernachlässigt. Jahrelang mussten sie zuschauen, wie die Viertel ringsum erneuert wurden und ihr eigenes leer ausging. Der Bürgertreff liegt in einem halb verwaisten Einkaufszentrum, zu dem eine verwitterte Fußgängerbrücke mit Schlaglöchern führt. Die Leute fordern einen Supermarkt vor Ort, klagen über zu wenige Parkbänke, fehlende Mülleimer und die mangelhafte Beleuchtung eines Fußwegs. Palmer steht vor ihnen, schlaksig, geschmeidig. Wenn es sein muss, überzeugt er jeden einzeln.
Das Viertel hat jetzt Priorität, sagt Palmer, versprochen. Das Einkaufszentrum soll einem neuen weichen, Supermarkt inklusive. Die Brücke kommt weg, deshalb hat die Stadt sie nicht saniert. Gegen mehr Mülleimer und Wegbeleuchtung hätte er nichts. „Aber wollen Sie auch mehr Steuern zahlen? Denn ich werde keine Schulden machen.“ Als eine junge Mutter, Autofahrerin, sich über einen geplanten Zebrastreifen beschwert, sagt er: „Das mute ich Ihnen zu. Auch wenn es mich eine Stimme kostet.“ Applaus. Am Ende steht er doch wieder gut da.
In Baden-Württemberg ist der Name Palmer nicht erst seit dem grünen Bürgermeister berühmt und berüchtigt. Denn der Vater, Helmut Palmer, Obsthändler und parteiloser Bürgerrechtler, kandidierte bei sage und schreibe 250 Kommunalwahlen im Ländle. Als unehelicher Sohn eines zudem jüdischen Metzgermeisters fand sich Helmut Palmer von klein auf in der Rolle des stigmatisierten Außenseiters. Der „Remstalrebell“ kämpfte ein Leben lang gegen Antisemitismus und staatliche Willkür in einer von Altnazis durchsetzten Bundesrepublik. Er sprengte Auftritte seiner Kontrahenten mit der Bauchtrommel, demonstrierte im KZ-Hemd und saß hunderte Tage im Gefängnis, weil er nicht aufhören wollte, Beamte zu beleidigen.
„Ich habe mich an meinem Vater abgearbeitet“, sagt Boris Palmer. Er sitzt in einem Café am Tübinger Marktplatz, gegenüber das 500 Jahre alte Rathaus, ringsum schiefwinklige Fachwerkhäuser. „Mein Vater wollte immer mit dem Kopf durch die Wand. Ich schaue vorher zumindest, ob es eine Tür gibt.“ Die Rathäuser der Region blieben dem alten Helmut Palmer zeitlebens verschlossen. Doch die Marktplätze, auf denen er Obst und Gemüse verkaufte, gehörten ihm. Von hier aus machte er Wahlkampf, setzte Themen, an denen auch die etablierten Parteien nicht mehr vorbeikamen. Sohn Boris war schon als kleiner Junge dabei. Dort lernte er auf die Leute zuzugehen, mit ihnen zu reden und – zwei Salate zum Preis von einem! – offensiv zu verkaufen.
Egal, wer in seiner Stadt aufmarschiert: Palmer kommt und diskutiert
Boris Palmer studierte in Tübingen Geschichte und Mathematik. Als Studentenvertreter entwarf er am heimischen Schreibtisch ein Konzept für Nachtbusse. Dass dieses tatsächlich umgesetzt wurde und hunderte Leute das Angebot nutzten, nennt er ein politisches Schlüsselerlebnis. Seitdem hat sich viel getan. „Schauen Sie sich um“, sagt Palmer und breitet die Arme Richtung Marktplatz aus, „den Menschen hier geht es gut.“ In Tübingen gebe es höchstens noch Wohlstandsprobleme. „Anderswo schließen sie Theater und Schwimmbäder, im Winter werden die Straßen nicht geräumt.“
Doch im Palmer’schen Paradies ist immer irgendwas los. Zum Beispiel die Demo gegen Affenversuche, neulich auf der Neckarinsel. Im Vorfeld waren heimlich gefilmte Videos aufgetaucht, blutüberströmte Primaten mit Implantaten in der Schädeldecke. Hirnforschung, Max-Planck-Institut. Die Tierschützer wollten dort systematische Regelverstöße aufdecken. Bürger waren schockiert von den Bildern, die grüne Landesvorsitzende stellte die Versuche infrage. Palmer aber stellte sich hinter die Forscher, die täglich Morddrohungen bekamen. Vollstes Vertrauen, die Bilder seien manipuliert. Er wollte deshalb auf der Demo sprechen. Die Veranstalter lehnten ab, er kam trotzdem. Am Ende schrie er gegen einen wütenden Mob an, bis ihm ein Stein an den Kopf flog. War nur ein Kiesel, sagen die Tierschützer. Gesinnungsterroristen, sagt Palmer.
Die Episode ist symptomatisch für seinen Umgang mit Konflikten. Egal wer in seiner Stadt aufmarschiert, Pro Israel oder Nazis: Palmer kommt, hält Reden, diskutiert. Wie leicht wäre es gewesen, die Sache mit den Affenversuchen auszusitzen. Die formale Zuständigkeit liegt ohnehin nicht beim OB. Doch Palmer lässt eine Grundsatzdiskussion nicht links liegen. Der wissenschaftliche Nutzen rechtfertige das Leid der Tiere. Und: „Ein Affe kann niemals dieselbe Würde haben wie ein Mensch. Sonst müsste er auch Verträge unterzeichnen und eine Atombombe bauen können.“
Der studierte Mathematiker Palmer gilt als Vordenker schwarz-grüner Koalitionen – anderswo ein Sakrileg. Den Pragmatismus hat er mit Ministerpräsident Kretschmann und den grünen Oberbürgermeistern von Stuttgart und Freiburg gemein. Sie wollen lieber regieren, als, wie Palmer sagt, „die reine Lehre“ linker Tugenden zu vertreten.
Die schwäbischen Ober-Realos treiben die Fundis unter den Grünen zur Weißglut; etwa mit Kretschmanns Asylkompromiss im Bundesrat, der einhelligen Forderung nach einem Alkoholverbot in Innenstädten oder Palmers Kritik am grünen Vorstoß, den Spitzensteuersatz zu erhöhen. „Bei den Grünen misslingt das Austarieren von Gesinnung und Verantwortung“, sagt Palmer. „Letztlich geht es um die Entscheidung, ob du acht Prozent der Stimmen willst oder 25.“
Einmal hat er Anlauf genommen, wollte den Grünen etwas vom baden-württembergischen Erfolgsgeist einhauchen. „Mein Angebot wurde nicht angenommen“, sagt Palmer, sein Blick schweift in die Ferne, „das war eine schmerzliche Erfahrung.“ 2011 wandte er sich mit einem Thesenpapier an die Parteigenossen. Darin forderte er, die Grünen müssten sich neue Wählerschichten erschließen, um auf Erfolgskurs zu bleiben. Sein umstrittenster Vorschlag: Die Grünen sollten kein uneingeschränktes Adoptionsrecht für homosexuelle Paare fordern, damit ließen sich vorerst keine Mehrheiten gewinnen. Die Folge: Er flog aus dem Parteirat, bekam nicht einmal die Hälfte der Stimmen.
Nebelschwaden über Tübingen. An diesem Morgen haben die Grünen einen Pavillon in der Fußgängerzone aufgebaut, darunter stehen zwei aufgeblasene PVC-Sessel, ein Tisch mit Infoflyern und Brausepulver. Während die erfahrenen Wahlhelfer Luftballons aufpumpen, verteilt Palmer sein Wahlprogramm. „Den Boris kann man gut alleine lassen“, sagt eine Freiwillige, während sie einen Ballon zuknotet, „andere Kandidaten lehnen einfach am Stehtisch und lassen uns die Leute ranholen.“ Eine Dame bringt Pralinen vorbei, weil sie findet, der Bürgermeister sei zu dünn geworden. Tatsächlich, auch in diesem Wahlkampf hat er wieder drei Kilo abgenommen.
Klimabilanz hin oder her, die Anliegen der Leute auf der Straße haben wenig mit Weltrettung zu tun. Es geht um Halteverbote, Lärmbelästigung durch Kneipen und eine städtische Hecke, die mal geschnitten werden müsste. „Wenn du als Bürgermeister nicht mehr auf Hundekot angesprochen wirst, hast du ein Problem“, sagt Palmer. „Die Metabotschaft ist doch immer: Ich vertraue Ihnen, dass Sie etwas für mein Leben tun können.“
Bei der offiziellen Kandidatenvorstellung auf einer Turnhallenbühne trifft Palmer auf seine drei Kontrahenten im Tübinger Wahlkampf: Erstens Beatrice Soltys, parteilose Baubürgermeisterin von Fellbach, Liebling der CDU. Sie versucht mit Nüchternheit zu punkten, sagt sehr oft „Verwaltung“ und Sätze wie „Parken ist ein Thema, das die Menschen bewegt“. Zweitens Markus Vogt alias Häns Dämpf. Er ist Satirekandidat für „Die Partei“ und sitzt bereits im Gemeinderat. In Anlehnung an den unterirdischen Bahnhofsentwurf für Stuttgart21 fordert er, die Tübinger Uni unter die Erde zu verlegen und Atommüll in Tübingens Ökoviertel zu entsorgen. Der dritte ist Hermann Saßmannshausen, ein uriger Spontankandidat mit grauer Lockenmähne, der sich über jeden Prozentpunkt diebisch freuen dürfte.
15 Minuten Redezeit. Palmer spricht frei, entspannt, hält als einziger Kandidat Blickkontakt zum Publikum. Erläutert die glänzende Bilanz seiner Amtszeit. Klimaschutz, Arbeitsplätze, Kinderbetreuung. „Wenn Sie der Meinung sind, das alles sei mir zu verdanken, dann sollten Sie mich wählen.“ Doch auch wer glaube, die Erfolge seien nicht ihm zuzuschreiben, solle Boris Palmer wählen. „Denn dass Sie noch mal einen Kandidaten finden, der die Verwaltung so ungestört vor sich hinarbeiten lässt, ist unwahrscheinlich.“ Gelächter im Saal.
Wenn Palmer so in seinem Element ist, dann kann man ihm das abnehmen: die Kommunalromantik, Weltrettung im Kleinen, die leidenschaftliche Beschäftigung selbst mit Hundehaufen, Mülleimern und Parkbänken. Aber Hand aufs Herz: Hat er wirklich schon abgeschlossen mit der Bundespolitik? Aber nein! „Eines fernen Tages“, hofft er, wird sich seine Partei entwickelt haben. Dann könnte sich die Tür wieder öffnen, die ihm der Parteirat einst vor der Nase zuschlug. Und wenn nicht: „Einmischen werde ich mich sowieso“.
Er weiß ja, was die Leute reden: Der Palmer nimmt sich zu wichtig, der nervt, der wird immer mehr wie sein Vater. Deshalb beendet er die Rede an jenem Abend in der Turnhalle mit einer Weisheit des alten Remstalrebellen Helmut Palmer. Frei übersetzt aus dem Schwäbischen: „Lieber einmal das Maul verbrennen, als dass einem das Brot im Maul verschimmelt.“ Man wird sich daran mehr als einmal erinnern.
Martin Theis