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Blick auf den Friedhof „Zum Heiligen Kreuz“ in Mariendorf.
© Doris Spiekermann-Klaas

Besonderes Wohnen: Das Fenster zum Friedhof

Sie schauen auf Grabsteine, Trauernde – aber auch auf viel Grün. Drei Berliner erzählen von ihrer ungewöhnlichen Nachbarschaft: dem Friedhof.

Der Angehörige
Das ist direkt neben dem Friedhof, stellte ich fest, als ich eine Immobilienanzeige im Tagesspiegel näher prüfte. Es war im Herbst 1997. Drei Jahre zuvor war ich nach Berlin zurückgekehrt und wieder nach Hermsdorf gezogen, was anderes kam nicht infrage. In Hermsdorf hatte ich meine Kindheit verbracht, dort lebten mein Bruder und seine Frau, in deren Nähe und in der Nähe meiner Erinnerungen wollten wir wohnen, wir, Mann, Frau, Kind.

Die Mietwohnung, die ich im Februar 1994 gefunden hatte, war schön, aber unglaublich teuer, und wir stellten bald fest, dass man für dieses Geld auch ein Haus abzahlen könnte.

Also fingen wir an zu suchen, in Hermsdorf natürlich. Und was kam dabei heraus? Ein Grundstück neben einem kleinen, fast abgeschiedenen Friedhof, dem zwischen Schulzendorfer und Boumannstraße. Nicht irgendein Friedhof, sondern einer, auf dem ich als Kind gespielt hatte. Ein Friedhof, auf dem meine Großeltern und meine Eltern begraben waren. Kann man neben dem Grab der Eltern und Großeltern ein Haus bauen? Kann man überhaupt neben einem Friedhof leben?

Der Friedhof ist ein Teil meiner Heimat

Wenn es einer der großen Berliner Friedhöfe gewesen wäre, hätten meine Frau und ich wahrscheinlich anders entschieden. Aber dieser Friedhof war ein Teil des Dorfes Hermsdorf. Die alten Gräber sind auch Erinnerungen an die Entwicklung des Dorfes zur Vorstadt, dazwischen stehen 150 Jahre alte Eichen, die einst den Fußweg von Hermsdorf nach Tegel säumten, als es noch keine Fahrstraße gab. Der Gedanke, eines Tages auch auf diesem Friedhof begraben zu sein, kam meiner Frau und mir nicht befremdlich vor – der Friedhof war und ist ein Teil meiner Heimat. Unsere Tochter hat als kleines Mädchen dort gespielt und mit Freundinnen Blumen gesammelt, nicht immer zur Freude der einen oder anderen Friedhofsbesucherin. Und natürlich tobten die Kinder im Garten. Aber wir respektieren die besondere Lage unseres Grundstücks. Und wir wussten und wissen, wann wir still sein sollten, man muss sich auf seine Nachbarschaft einrichten, ob es die von Lebenden oder von Toten ist.

Und ganz prosaisch haben wir festgestellt: So lange dieser Friedhof als solcher genutzt wird, kann uns kein Investor eine der monströsen, so genannten Stadtvillen, die in Wirklichkeit nicht Architektur, sondern Konfektionsbauten sind, neben unser Haus stellen.

Gerd Appenzeller

Der Pfarrer

Blick vom Balkon auf den Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Schöneberg.
Blick vom Balkon auf den Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Schöneberg.
© Doris Spiekermann-Klaas

Wenn ich in diesem alten Haus aus dem Fenster blicke, dann sehe ich, was sich alles so verändert hat, im Bestattungswesen und auch auf den Friedhöfen dieser Stadt: Als ich mit meiner Familie vor 20 Jahren hier eingezogen bin, war der Friedhof „Zum Heiligen Kreuz“ in Mariendorf noch dicht belegt mit Gräbern, eins neben dem anderen, wie man es aus der Vergangenheit kennt und hier und da noch sehen kann. Heute blicke ich hingegen auf weite, grüne Flächen, wo nur noch vereinzelt Grabsteine stehen.

Was ist passiert in der Zwischenzeit? War früher noch die Erdbestattung der Regelfall, ist das heute mit weitem Abstand die Urnenbeisetzung, und zwar immer öfter in so genannten Gemeinschaftsgrabanlagen. Statt einzelner, individueller Gräber mit Inschrift sieht man da nur noch einen Stein oder eine Stele, auf der die Namen der Verstorbenen vermerkt sind, die dort in einem Grab nebeneinander ruhen. Um sich zu überlegen, wie dieser ganze Prozess wohl weitergeht, braucht man nicht viel Fantasie. Irgendwann könnten hier alle Gräber weg sein, und ich würde nur noch auf eine Wiese blicken. Ohne zu erkennen, dass dies einmal ein Friedhof gewesen ist.

Eine Wohnqualität, die nicht jeder hat

Diese Entwicklung ist auch der Grund, warum ich überhaupt hier wohnen kann. Ursprünglich diente dieses Gebäude der Friedhofsverwaltung. Auf jedem Friedhof gab es einmal ein Haus mit einer Dienstwohnung für den Verwalter und ein Büro für ihn und seine Mitarbeiter. Doch diese Zeiten sind lange vorbei. Einen Verwalter, der nur für einen Friedhof zuständig ist, den gibt es heutzutage nicht mehr. Was macht man also mit diesen Gebäuden, die nicht mehr für Friedhofszwecke genutzt werden? Darin wohnen mittlerweile Menschen in ganz normalen Mietverhältnissen, und das gar nicht mal schlecht.

Ich habe die Natur hier immerhin genau vor der Haustür – und das ist eine Wohnqualität, die nicht jeder hat. Vor allem nicht in einer Großstadt wie Berlin, wo man doch sehr eng aneinander lebt. Inzwischen haben aber auch andere den Friedhof als grüne Oase für sich entdeckt: Makler werben mit dem Ausblick und der grünen Umgebung für ihre Wohnungen, und immer mehr Menschen nutzen Friedhöfe wie Parks.

Manchmal sehe ich Jogger, manchmal Radfahrer, die den Friedhof als eine Abkürzung verstehen, oder ich bekomme mit, wie der Rasen als Auslaufstelle für Hunde benutzt wird. Nur auf die Idee zu grillen, ist zum Glück noch niemand gekommen. Ich weiß, das tut niemand, um uns zu ärgern. Die Menschen sehnen sich einfach nach Orten der Erholung.

Der Gewöhnungseffekt setzt ein

Auf der anderen Seite habe ich schon Leute getroffen, denen die unmittelbare Nähe zu den Toten gar nicht gefällt. Sie haben dort ein unbehagliches Gefühl oder Angst. Ein Beispiel: In Kreuzberg kümmern wir uns als Gemeinde auch um die Flüchtlinge und suchen gerade Unterkünfte für den Winter. Als eine Wohnung auf dem Friedhof frei wurde, habe ich Platz für zehn junge Männer gefunden. Aber als ich ihnen erklärte, wo sie hinziehen werden, haben sie erst einmal erschrocken reagiert. Bei mir ist das ganz anders. Da ich ja Pfarrer bin und in dieser Eigenschaft ständig auf Friedhöfen zu tun habe, sind sie mir natürlich sehr vertraut. Und ich muss sagen, wenn man jeden Tag von seinem Küchenfenster auf einen Friedhof schaut, dann setzt irgendwann der Gewöhnungseffekt ein. Dann sieht man nicht mehr nur die Gräber. Man sieht auch kleine Eichhörnchen, die vorbeihuschen. Jürgen Quandt

Die Anwohnerin

Blick vom Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Schöneberg auf eine Häuserfront.
Blick vom Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Schöneberg auf eine Häuserfront.
© Doris Spiekermann-Klaas

Hin und wieder muss ich schon schmunzeln, weil ich von meiner Wohnung und von meiner Tanzschule aus auf einen Friedhof gucke. Dann frage ich mich, was soll das wohl heißen? Für mich hatte dieser Ort aber noch nie etwas Beklemmendes, sondern etwas Angenehmes, etwas Friedliches. Als ich klein war, ist meine Mutter oft mit uns auf Friedhöfen gewesen. Ich erinnere mich noch, wie ich als Mädchen hier auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof vor der Grabstelle der Gebrüder Grimm stand. Dafür ist er ja besonders bekannt. Selbst in Touristenführern.

Mit meinen Töchtern bin ich das erste Mal dort gewesen, da lagen sie noch im Kinderwagen. Heute sind sie sechs und neun Jahre alt. Natürlich muss man darauf achten, dass Kinder nicht zu viel Tohuwabohu machen, aber es ist schön zu sehen, wie sie die kleinen Wege erkunden. Vielleicht ist es eben diese Spannweite von Gefühlen, die ich auf dem Friedhof wie auch beim Tangotanzen erleben kann, und die ich so sehr mag. Es gibt hier traurige, sehr traurige Geschichten. Aber es gibt auch positive, fröhliche Momente. Wenn meine Kinder lachen, wenn sie Himbeeren entdecken oder Kastanien sammeln.

Unruhig wird es nur bei Dreharbeiten

Vom Balkon aus sehe ich oft Besucher, Spaziergänger, manchmal Beerdigungsgesellschaften. Dann überlege ich: Was sind das wohl für Leute? Ist da ein jüngerer oder älterer Mensch gestorben? Was für eine Geschichte hätte er wohl zu erzählen? Diese Szenen haben schon etwas Melancholisches, und ich merke, wie ruhig, wie nachdenklich ich auch hin und wieder werde. Diese Ruhe, das ist auch so etwas Besonderes am Friedhof. Man hört keinen Lärm und kaum Stimmen. Die Menschen bewegen sich so würdevoll voran und langsamer als irgendwo sonst. Und dann dieser Weitblick. Hier setzt einem so schnell niemand ein Haus vor die Nase. Stattdessen blicke ich auf Baumkronen und Grünflächen.

Unruhig wird es hier nur, wenn auf dem Friedhof Dreharbeiten stattfinden. Das kommt immer mal wieder vor. Tagsüber wird die Straße geräumt, man findet keine Parkplätze mehr, und nachts gibt es manchmal richtige Flutlichter. Dann kann es in dieser fast schon dörflichen Bergstraße in Schöneberg richtig abgehen. Ich hätte gern mal gesehen, was die da so machen, aber hab es bislang noch nie geschafft. Im Dunkeln müsste ich auch nicht unbedingt auf einem Friedhof sein, das stelle ich mir schon etwas gruselig vor. Stattdessen haben wir uns mal aus Spaß Michael Jacksons „Thriller“-Video angeguckt, nur um zu sehen, was man denn nachts so zwischen Grabsteinen filmen kann.

Ein anderes Verhältnis zum Tod? Vielleicht

Ob ich durch die Nähe zum Friedhof ein natürlicheres Verhältnis zum Tod bekomme, das kann ich gar nicht genau sagen. Vielleicht, das wäre schön. Der Weitblick vom Balkon bedeutet ja nicht nur, weit zu schauen. Es ist auch ein Blick, wohin es mal gehen wird. Ja, vielleicht liegt es nicht nur am Alter, dass ich bei dem Thema entspannter werde, und an der Tatsache, dass mehr und mehr Menschen um einen herum mit dem Tod konfrontiert werden. Vielleicht liegt es bei mir persönlich auch daran, dass ich seit elf Jahren auf einen Friedhof hinab schaue. Judith Preuss

Die Gespräche mit Jürgen Quandt und Judith Preuss hat Marie Rövekamp protokolliert.

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