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Karl-Eduard von Schnitzler
© picture alliance / zb

Karl-Eduard von Schnitzler: Das Ende vom schwarzen Kanal

Karl-Eduard von Schnitzler war der Propaganda-Profi des DDR-Fernsehens. Jede Woche zeigte er Ausschnitte aus westdeutschen Nachrichtensendungen – und kommentierte dazu hämisch die Schwächen des Kapitalismus. Ende Oktober 1989 war Schluss für ihn, neun Tage vor dem Fall der Mauer.

Am Ende, für einen kurzen Moment, verwandelt er sich. Seine Stimme kippt ein wenig, wackelt, flattert wie bei Menschen, die aufgewühlt sind, bestürzt, die Herzrasen haben. Sie verliert ihr Fundament. „Diese Sendung heute wird nach fast 30 Jahren die kürzeste sein: nämlich die letzte.“ Karl-Eduard von Schnitzler sagt, dass er nichts zu bereuen habe und er seine Arbeit als Kommunist und Journalist fortsetzen werde, „als Waffe im Klassenkampf, zur Förderung und Verteidigung meines sozialistischen Vaterlandes. Und in diesem Sinne, meine Zuschauerinnen und Zuschauer, liebe Genossinnen und Genossen: Auf Wiederschauen!“

Für einen Augenblick, am 30. Oktober 1989 um 21 Uhr 46, ist aus ihm, dem Sinnbild für alles Anmaßende, Widerwärtige und Gemeine im DDR-Sozialismus, ein Mensch aus Fleisch und Blut geworden.

Fast 30 Jahre lang, fast jeden Fernsehmontagabend war er zu sehen, ein Mann im Anzug, mit dicken Brillengläsern vor einfarbiger Studiotapete sitzend. Schnitzlers Sendung lief allwöchentlich, insgesamt 1519 Mal. Sie hieß „Der schwarze Kanal“, und damit den Zuschauern klar wurde, was genau gemeint war, bedurfte es einer Gebrauchsanweisung. Zur Premiere am 21. März 1960 sagte Schnitzler: „Der schwarze Kanal, den wir meinen, meine lieben Damen und Herren, führt Unflat und Abwässer. Aber statt auf Rieselfelder zu fließen, wie es eigentlich sein müsste, ergießt er sich Tag für Tag in hunderttausende westdeutsche und Westberliner Haushalte. Es ist der Kanal, auf welchem das westdeutsche Fernsehen sein Programm ausstrahlt: der schwarze Kanal. Und ihm werden wir uns von heute an jeden Montag zu dieser Stunde widmen, als Kläranlage gewissermaßen.“

Eine Kläranlage, die mit Schlamm um sich warf. Schnitzler zeigte Ausschnitte aus dem Westfernsehen, Schnipsel aus Nachrichtensendungen, Politikmagazinen und Diskussionsrunden. Anschließend erklärte er seinen Zuschauern, was sie davon zu halten hatten.

Die Politik Adenauers: „arbeiterfeindlich“. Die Gewerkschaften: „Naivlinge“, „ahnungslose Engel“. Ahnungslos gegenüber dem „Kernstück des Kapitalismus“, dem „Profit“. Die SPD, Brandt, Wehner, Ollenhauer: „Spottgeburt einer Opposition“, „im Gesäß“ der „Reaktion“, also der „Industrieherren in den Regierungsparteien“ und den „Nazis auf der Regierungsbank“. Strauß: „korrupt bis über beide Ohren“. Die Bundesrepublik: ein „jämmerlicher Staat“. Westberlin: „stinkt“.

Das war der Stil. Schimpf und Schande über Westdeutschland, alles eingewebt in wortmächtige Monologe, unterfüttert mit einem historischen Wissen, von Preußen, Kaiserreich, den beiden Weltkriegen und Umständen der beiden deutschen Staatsgründungen – überhaupt einer Informiertheit über nahezu alles und jeden –, das aus dem heutigen Fernsehen nahezu unbekannt ist. Eingewebt aber auch in eine Einschüchterung: Wer so viel weiß, muss recht haben.

Es lief immer wieder aufs Gleiche hinaus: dass die Bundesrepublik ein menschenverachtender Staat ist, ihre Medien in den Diensten von Kriegstreibern und Großkapitalisten stehen – und die DDR auf allen Gebieten überlegen ist. Er selber beschrieb sein Vorgehen später so: „Alle Feinde in einen Sack, zuschnüren, draufschlagen: Es konnte immer nur den Richtigen treffen.“ Und: „Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil.“

Blöderweise traf er aber auch die eigenen Leute. Sonntag, der 13. August 1961, eine „Kanal“-Sondersendung zum Mauerbau. Schnitzler im Anzug vor Studiotapete, zur Feier des Tages steht ein Kalender auf dem Tisch neben ihm, die große „13“ ist nicht zu übersehen.

Schnitzler zeigt Ausschnitte aus dem „Internationalen Frühschoppen“, einer Journalisten-Gesprächsrunde des Westfernsehens vom selben Tag. Ratlose, überraschte Männer sind zu sehen, die versuchen, sich einen Reim auf das zu machen, was da gerade in Berlin passiert. Wer denn nun wie davon betroffen sei.

„Betroffen“, sagt Schnitzler, als er wieder im Bild ist, „sind nicht die Westberliner. Betroffen sind die Westberliner Konzerne, die sich ab morgen nach 53 000 neuen Arbeitskräften umsehen müssen.“ Betroffen seien Geheimdienstagenten, „die nicht mehr ins rettende Westberlin“ zurückkehren könnten. „Die Wechselstubenbesitzer“, die nun „ihren Laden ruhig zumachen können“.

„Seit heute früh steht da Stacheldraht und Polizei ringsherum, wie es sich gehört. Unsere Maßnahmen zerstören die Illusion derer, die glauben, wir meinten es nicht ernst.“

Wen Schnitzler nicht erwähnt, sind die Ostberliner, die Ostdeutschen. Er ignoriert sie einfach, sie sind ihm egal. Er setzt damit zum ersten Mal in aller Deutlichkeit den eigentlichen Ton seiner Sendung: Hütet euch, liebe Landsleute! Stellt hier bloß nichts infrage! Und wenn einer von euch aus der Reihe tanzt, dann gnade ihm Gott!

Das war der Fehler. Die eigenen Leute für Vollidioten zu halten. Für unendlich manipulierbar. Die Mehrheit von ihnen konnte das Westfernsehen empfangen, und die Mehrheit schaute es sich auch an. Sie arbeitete in den absurd bewirtschafteten volkseigenen Betrieben, wohnte in volkseigenen Wohnungen, viele ohne Toilette und Leitungswasser, bis zum Schluss. Sie liefen täglich durch die Straßen, standen vor Lebensmittelgeschäften Schlange. Sie sahen die Autos, und sie sahen die Uhren an den Handgelenken ihrer Westverwandtschaft. Und sie bemerkten: Trotz Wiederbewaffnung, trotz Nato-Doppelbeschluss, Nazis in Regierungsämtern, Prostitution und Arbeitslosigkeit und öffentlich gemachter Kriminalität konnte es da drüben, im Westen, nicht schlechter sein als hier.

Journalismus als Mittel der Machtausübung

Karl-Eduard von Schnitzler
Karl-Eduard von Schnitzler
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Von heute aus betrachtet – ein Viertel der „Kanal“-Sendungen sind archiviert, von fast allen sind die Moderationsmanuskripte überliefert – erscheinen viele der Schnitzler-Monologe harmlos. Natürlich kann man aus kommunistischer Sicht die sozialdemokratische Partei der Bundesrepublik als schlappschwänzig kritisieren. Natürlich, das weiß man heute auch, waren die Schaltstellen des frühen Westdeutschlands von Nazis durchsetzt. Selbstverständlich erscheint vielen im Land heute vieles absurd, was damals in Regierung und Parlament entschieden wurde. Und genauso selbstverständlich würde sich heute eine x-beliebiges Politikmagazin, eine x-beliebige Comedy-Sendung solcher Sachen annehmen.

Schnitzler betrachtete, das schrieb er später auf, „den Journalismus als ein Mittel der Machtausübung“. Er habe sich „mit den Organen der ,Macht in den richtigen Händen‘ immer besonders verbunden gefühlt: Grenzpolizei, Volksarmee, Grenztruppen, Polizei und Tscheka, unseren Dzierzynskis.“

In der „Frühschoppen“-Runde saß auch Wolfgang Leonhard. Leonhard wollte nach dem Krieg zusammen mit Walter Ulbricht den Sozialismus aufbauen, ging einige Jahre später aber desillusioniert in den Westen. Leonhard fragt im „Frühschoppen“: „Wie sieht das aus am Potsdamer Platz? Die U-Bahnhöfe, sind die gesperrt?“ Schnitzlers Kommentar dazu: „So was gibt sich angeberisch als Ostexperte aus.“ Ein „sauberer Patron“ sei das, dieser „hergelaufene Lump“.

Der Tag war einer der Höhepunkte des „Kalten Krieges“ zwischen Ost und West, die Umgangsformen in jenen Zeiten waren entsprechend. Schnitzler jedoch würde sie bis zum Ende durchhalten. 1963 kommentierte er den Tod eines Flüchtlings an der Berliner Mauer mit den Worten: „Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um.“

Auch 26 Jahre später, bei den Republikflüchtlingen des Jahres 1989, kann er nicht anders, als sie zu beschimpfen. „Was haben Ausreißer und Flüchtige zurückgelassen?“, fragt er am 9. Oktober 1989. „Soziale Sicherheit, Wohnung, Arbeit, Verwandte, vielleicht den Wartburg. Mehr noch zählt aber wohl, was sie vergessen haben: Moral, Anstand, beschworene Vaterlandsliebe, Charakter.“

Wenig scheint Schnitzler so zuwider gewesen zu sein wie Überläufer.

Er war selbst einer, wenn auch in entgegengesetzter Richtung. Geboren wurde Schnitzler am 28. April 1918 in Berlin-Dahlem, der Vater war ein in den Adelsstand erhobener Generalkonsul. Mit 14 trat Karl-Eduard in die „Sozialistische Arbeiter-Jugend“ ein. „Eine Umgebung, in der ich mich wohlfühlte, weil es da ehrlich und gerecht zuging“, schreibt Schnitzler in seiner Autobiografie. „Dass es ein Bruch mit der bürgerlichen Klasse war, ein Verrat an der Gesellschaft, aus der ich kam, und Parteinahme für die Arbeiterklasse: Diese Erkenntnis festigte sich erst nach und nach.“

Dann kamen das „Dritte Reich“ und der nächste Weltkrieg, Schnitzler kam zur Wehrmacht und im Jahr 1944 in britische Kriegsgefangenschaft. Umerziehung und Vorbereitung auf den Einsatz im deutschen Nachkriegsrundfunk folgten, er arbeitete bei der BBC-Sendung „Hier sprechen deutsche Kriegsgefangene zur Heimat“ und nach Kriegsende beim Nordwestdeutschen Rundfunk in Hamburg. Dann die Übersiedlung in die sowjetische Besatzungszone, 1948 Eintritt in die SED, Kommentator beim Berliner Rundfunk und beim Deutschlandsender, Grundlehrgang Marxismus-Leninismus an der Parteihochschule, schließlich Chefkommentator beim Fernsehen.

Sein Stil – oder, je nach Anschauung, seine Stillosigkeit – indes blieb auch von oben nicht unkritisiert. Überliefert ist ein Briefwechsel mit Albert Norden, dem Verantwortlichen für Agitation im Zentralkomitee der SED, aus dem Jahr 1961. Norden schrieb: „Menschen, auf deren Urteil Du und ich etwas geben, meinen: Schnitzler ist manchmal zu spöttisch und schnoddrig, er ersetzt die Widerlegung der Argumentation durch Gags und Lächerlichmachen. Ich persönlich glaube, dass dies gelegentlich zutrifft.“ Schnitzler antwortete: „Schnoddrigkeit, Spott, Ironie, Bissigkeit, Frechheit, Lächerlichmachen sind erlaubte und taugliche Mittel der Agitation – und werden unsererseits viel zu wenig verwendet.“

Aber Mauertote – wie jenen im Jahr 1963 – lächerlich machen? „Unsere Grenzsoldaten haben pflichtgemäß auf zwei Männer schießen müssen.“ Und 13 Jahre danach behaupten: „Einen Schießbefehl“ an der Mauer „gibt es nur im Propagandaarsenal Bonner Politiker und in der Sudelküche entsprechender Journalisten“? Sind Menschenhass, Beckmesserei und das Passendmachen von Tatsachen auch viel zu wenig verwendete Mittel der Agitation? Hatte er damals nicht selbst von „Gefahr“ gesprochen, die an der Grenze lauere? Und bei anderer Gelegenheit: „Die Staatsmacht der DDR ist keine Redensart. Entweder man achtet sie – oder man rennt sich an ihr den Schädel ein.“

Biermann sang: Du elender Sudel-Ede

Karl-Eduard von Schnitzler
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Das ist unlogisch. Genauso wie Schnitzler selbst. Wie kann man, vom Anfang bis zum Ende des „schwarzen Kanals“, Westmedien, die eben beispielsweise über Mauertote berichteten, als Fundamente für die eigene Argumentation benutzen, deren Berichterstattung aber gleichzeitig als Lügen brandmarken?

Günter Herlt, ein einstiger Fernsehkollege Schnitzlers, schrieb nach der deutschen Wiedervereinigung über ihn: „Er war am Ende der bestgehasste Mann auf dem Bildschirm.“

Wolf Biermann dichtete: „Hey, Schnitzler, du elender Sudel-Ede / Sogar wenn du sagst, die Erde ist rund / Dann weiß jedes Kind: Unsre Erde ist eckig / Du bist ein gekaufter verkommener Hund“.

Ihn selbst kann man nicht mehr fragen, er ist 2001 gestorben. Auch ehemalige Wegbegleiter mögen heute nichts mehr öffentlich zu ihm sagen. Zu lange her sei das alles, und die wesentlichen Dinge seien doch ohnehin längst bekannt. Das stimmt einerseits, andererseits aber wirkt es so, als sei dieser Mann über seinen Tod hinaus ansteckend, als fiele ein furchtbarer Schatten auf jeden, der mit ihm zu tun hatte.

Er selber hat das verstanden. Anfang 1990 schreibt er: „Ich will nicht, dass mein zur Fernsehvisage gewordenes Gesicht, mein zum Reizwort pervertierter Name der Erneuerung meines Vaterlands und seiner wichtigsten Partei im Wege stehen. Mit ,Sudel-Ede‘ kann man weder Glaubwürdigkeit gewinnen noch ein ehrliches Maß an Wählerstimmen.“ Einige Tage vorher hatte er einen Anruf bekommen. Jemand, der sich nicht vorstellen wollte, sagte ihm, dass ein Parteiausschlussverfahren gegen ihn laufe. Schnitzler kam dem zuvor. Er trat von selber aus. „Am Morgen des 68. Todestages Wladimir Iljitsch Lenins“.

Der 30. Oktober 1989, die letzte Sendung. Erich Honecker war bereits seit zwei Wochen abgesetzt, sein Nachfolger Egon Krenz hatte das Wort von der „Wende“ geprägt, die Abteilung Agitation beim Zentralkomitee der SED war aufgelöst und damit auch der dirigistische Zugriff der Partei auf das Fernsehen vorbei. Jetzt war Schnitzler dran.

„Eben hat sich noch einmal im Vorspann der Bundesadler wie 1518 Mal zuvor auf unsere Fernsehantennen gesetzt. Und statt der im Arrangement meines Genossen Martin Hartwig verfremdeten Vorspannmelodie ,Von der Maas bis an die Memel‘ wird dieser großdeutsche Anspruch nur noch auf Staatsakten und in Schulen der BRD und bei der Bundeswehrmacht erklingen.“

Schnitzler sagt das unmittelbar nach jenem Frosch-im-Hals-Moment zu Anfang. Er ist wieder ganz bei sich. 40 Jahre nach Gründung der DDR, fast 30 seit seiner Premierensendung sagt er die altbekannten Vokabeln, „Revanchismus“, „Klassenkampf“, die DDR, der „erste deutsche Friedensstaat“, die „Leistungen unserer Republik“.

Es war wie immer, und es war zu viel. Beide, die DDR und Schnitzler, hatten es übertrieben. Seine Sendung, anfangs erfunden, um dieses Land wehrhafter gegen seine Feinde zu machen, beförderte schließlich dessen Untergang. So wie aus einer Transfusionslösung ein Gift werden kann, wenn man nicht auf die Dosierung achtet und auf die Dauer der Verabreichung. Auf den Straßen riefen die Menschen längst Anti-Schnitzler-Parolen. „Versetzt die alte Lügensau schnellstens in den Tagebau“. „Schnitzler weg – Lügendreck“.

Von jenen, die an diesem Montagabend zu Hause geblieben waren, schauten vergleichsweise viele den „schwarzen Kanal“. Trauern, feiern, Abschied nehmen von einem Mann, der sich bis zuletzt treu geblieben war, während sich um sie herum alles wendete. Zwölf Prozent der Haushalte, die im Besitz eines Fernsehers waren, hatten das Finale eingeschaltet. Im Durchschnitt des Jahres 1989 waren es nicht einmal mehr fünf.

Torsten Hampel

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