25 Jahre Mauerfall: Als Honecker Ochs und Esel bemühte
Drei Monate vor dem Fall der Mauer präsentierte DDR-Staatschef Erich Honecker den ersten 32-bit-Mikroprozessor aus volkseigener Herstellung - und glaubte noch fest an die Zukunft des realen Sozialismus. Doch das Volk suchte den Fortschritt längst in anderer Richtung.
In der Geschichte vom Ende der Deutschen Demokratischen Republik gehört der 14. August 1989 zu den chronisch unterschätzen Tagen. Am Montag danach vermeldete das „Neue Deutschland“ im Aufmacher einen Triumph der DDR-Forschung: „Erfurter Elektroniker übergaben Muster von 32-bit-Mikroprozessoren“. Der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker habe bei einem Besuch des VEB Kombinat Mikroelektronik „Karl Marx“ das erste Exemplar des Mini-Rechnerhirns entgegengenommen. Im kollektiven Gedächtnis ist davon nur eine Anekdote geblieben. „Den Sozialismus in seinem Lauf, wie man bei uns zu sagen pflegt, halten weder Ochs noch Esel auf“, triumphierte Honecker anlässlich seines Besuchs im Erfurter Werk. Dass dem erklärten Atheisten die Szenerie von Bethlehem einfiel, war aber mehr als ein Versehen. Honecker war nicht nur in seinem Symbolvorrat weit hinter der Zeit zurück. Er ahnte auch nicht, dass das Ding, das er da stolz in Händen hielt, sein Untergang sein würde. Genauer gesagt: Das Ding, das das Vorbild für das Ding in seinen Händen war.
14. August 1989, Nachrichtenagentur Reuter, Büro Berlin. Anruf beim Computerhersteller Nixdorf in Paderborn. Die DDR hat einen 32-bit-Prozessor – taugt das was? Der Mann in der Entwicklungsabteilung lässt sich die Daten vorlesen. Wenn die das allein hingekriegt haben, sagt der Nixdorf-Mann – gar nicht mal schlecht. Nur, die Amis bei National Semiconductors hatten so ein Ding 1981 fertig. „Das ist ungefähr das, was du in deinem tragbaren Rechner eingebaut hast.“ Oder in einer Videokamera. Oder in einem Funktelefon.
Acht Jahre sind in der Technik eine Ewigkeit. Doch das Problem war nicht der Rückstand als solcher. Das Problem war der Rückstand an Verständnis für die Welt, die dieses unscheinbare Elektronikteil jenseits der Mauer längst erschaffen hatte. Die Wende in der DDR war ein Triumph des Mutes vieler Menschen. Doch nebenher war sie der erste Triumph der Informationsgesellschaft.
Um das heute überhaupt noch zu verstehen, lohnt ein kurzer Ausflug ins Museum. In der Abteilung „1989 West“ drücken wir uns an Computer von Zimmerschrankformat vorbei, in denen tellergroße Magnetbänder rotieren. Ein Schild erinnert daran, dass im Wende-Jahr in Genf ein Physiker sich etwas ausgedacht hat, das später Internet heißen sollte. Wir stoßen auf Laptops mit winzigen Bildschirmen, grünlich flimmernd. In einer Ecke steht ein schwarzer Kasten mit Telefonhörer obendrauf – seit vier Jahren gibt es das C-Netz für drahtlose Gespräche. In Redaktionen nageln lärmende Drucker die Meldungen aus aller Welt auf endlose Papierstreifen, Wort für Wort und zum Mitlesen langsam.
Und doch war dieses verstaubte Gerümpel die Spitze des Fortschritts. Denn in der Abteilung Ost müht sich zur gleichen Zeit ein Heer von Spionen, das vom Westen verhängte Cocom-Embargo für Hochtechnologie zu durchbrechen. Spiritus-Umdruck-Maschinen sind konterrevolutionäre Konterbande. Kohlepapier zu besitzen grenzt an Hochverrat.
Später einmal, als die Mauer gefallen ist, werden dem Onkel Tränen in die Augen schießen beim Anblick des grünlich schimmernden West-Laptopschirms. Der Onkel ist Mechaniker. Er hat zusammen mit einem Kollegen im VEB Kompressorenbau Bannewitz einem Robotron-Rechner beigebracht, eine Fräse nach Programm zu steuern. In der Wohnung hängt ein kleiner Zeitungsausschnitt, der die sozialistische Tat würdigt. „Wenn wir das da gehabt hätten“, sagt der Onkel und zeigt auf den Aktentaschenrechner, „hätten wir die halbe Fabrik automatisiert.“
Sie hatten es nicht. Und sie wussten nicht, wie es die Welt formte und veränderte.
Die Wende in der DDR war der erste Triumph der Informationsgesellschaft
Im Sommer 1989 nageln die Drucker der Nachrichtenagenturen unerhörte Neuigkeiten in die Redaktionen von Zeitungen, Funk und Fernsehen. Die Zahl der Ausreisenden aus der DDR steigt. In der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin sammeln sich DDR-Bürger, die weg wollen. Vor allem aber hat ein steter Strom von Menschen eingesetzt, der über die ungarische Grenze nach Österreich sickert. Am 27. Juni haben die Außenminister beider Staaten in einem symbolischen Akt den Stacheldraht durchschnitten. Das ist gefilmt worden, natürlich, und wer in der DDR West-Fernsehen sieht, sieht den symbolischen Akt am gleichen Tag auch. In der DDR ist das West-Fernsehgucken so normal, dass die technisch bedingte Ausnahme in den Volksmund Eingang findet: Dresden, tief im Elbtal von West-Wellen abgeschnitten, ist das „Tal der Ahnungslosen“.
Wann genau und bei wem zuerst die Fernsehbilder und Radioberichte dieses Klingeln im Ohr ausgelöst haben, wird sich historisch wohl nie ermitteln lassen. Dass es geklingelt hat, dafür gibt es reichlich Zeugnisse. Viele Flüchtlinge berichten davon, dass die West-Nachrichten sie zum Spontanurlaub in Ungarn oder Prag angeregt haben. Und das Klingeln wird lauter, geht gar in ein Pfeifen über, als dann – aufmerksam geworden durch die Agenturberichte – die ersten bundesdeutschen Fernsehreporter nachts im österreichisch-ungarischen Grenzgebiet umherstreifen, als West-Journalisten gar am Plattensee in Urlauber-Trabis steigen und filmen, wie man in Nachtmärschen durch das Loch in der Mauer schlüpfen kann.
Das Pfeifen wird die DDR von da an bis zu ihrem Ende als stetes Hintergrundgeräusch begleiten. Es rührt von einem Effekt her, den Techniker als „Rückkopplung“ kennen. Wenn jemand in ein Mikrofon spricht und ein anderer den Lautsprecher-Verstärker zu weit aufgedreht hat, schrillt es los. Der Ton aus dem Mikrofon wird nämlich vom Lautsprecher verstärkt ins Mikrofon zurückgeschickt, wandert nochmals verstärkt in den Lautsprecher – und so weiter, bis der Verstärker nur noch überlastet quietscht.
Genau solch eine Rückkopplung wird zum Fall der DDR beitragen. Wahrscheinlich, dass das Ende auch ohne sie gekommen wäre. Aber nicht so schnell. Der stete Fluss der Meldungen und Bilder hat die Vorgänge in einem Maß beschleunigt und verstärkt, mit dem der Apparat der DDR-Führung nicht mehr mitkam. In der Zeit der Ungarn-Flüchtlinge hat ein DDR-Diplomat in Budapest einmal die Vorgesetzten in Berlin beruhigt: Die ungarische Führung werde dem Treiben nicht unbegrenzt zuschauen. Das war falsch. Es war aber vor allem egal. Das Problem des Politbüros war nicht mehr die ungarische Regierung. Das Problem war ihr Volk, das dem Treiben am Bildschirm zusah.
Gegen die Macht der Bilder war die DDR-Führung machtlos
Die alten Herren in ihrem Wandlitzer Ghetto waren mit Westfernsehern in Farbe übrigens gut ausgestattet. Den wahren Effekt dieser Geräte verstanden haben sie trotzdem nicht. Nur Hermann Axen, fürs Auswärtige zuständig, scheint etwas gedämmert zu haben. Im August 1989 hat er im Politbüro angemerkt, dass die Attacken des Gegners „mit seinem stärksten Medium, dem Fernsehen“ Wirkung zeigten. Dass das Fernsehen gar kein Kampfmittel eines identifizierbaren Gegners war, sondern einfach bloß seinen eigenen medialen Gesetzen folgte, kam Axen nicht in den Sinn.
Die Auseinandersetzung der DDR mit dem Störenfried fand denn auch bis zuletzt in klassischer Agitprop-Manier statt. Montags flimmerte der „Schwarze Kanal“ über die DDR-Fernsehschirme. Karl-Eduard von Schnitzler führte Ausschnitte aus West-Fernsehberichten vor, entlarvte die einen als Propagandalügen und die anderen als wahre Wahrheit, sofern sie die Schattenseiten des West-Lebens beleuchteten. Der letzte „Schwarze Kanal“ datiert vom 30. Oktober 1989.
Wenn der Rote Baron auf dem Schirm erschien, war das in den meisten DDR- Wohnzimmern das Signal zum Ab- oder Umschalten. Gegen die neue Bilderflut hätte er ohnehin nichts vermocht. Die Bilder kamen nicht mehr aus dem Westen. Sie nahmen nur den Umweg über die Sendetürme entlang der Zonengrenze. Doch sie stammten aus dem eigenen Land.
Damit lösten sie, mehr noch als die Bilder von der ungarischen Grenze, mehr noch als die Bilder aus der Prager Botschaft den Rückkopplungseffekt aus. Die erste große Demonstration fand in Plauen im Vogtland ohne Kameras statt. Sie blieb Lokalereignis. Aber nach den ersten wackeligen Filmbildern von der Leipziger Montagsdemonstration in den „Tagesthemen“ wusste das ganze Land Bescheid. Die nächste Montagsdemonstration war mehr als doppelt so groß.
Die DDR-Führung hat diesen Mechanismus nicht begriffen. Eine Entscheidung zeigt es exemplarisch. Als die Flüchtlinge in der Prager Botschaft nach der berühmten Balkon-Szene mit Hans Dietrich Genscher ausreisen durften, war dies an die Bedingung geknüpft, dass sie über DDR-Staatsgebiet in den Westen fahren. Eine Demonstration der Souveränität, die aus dem Nationalstaatsdenken des 19. Jahrhunderts stammte: Unsere Bürger lassen wir immer noch höchstens selber laufen! Außer Acht ließen die Herren in Ostberlin, dass sie damit die Bilder gegen sich selbst selber schufen. Die Dresdener – so ahnungslos längst nicht, wie der Volksmund und die SED es wollten – standen am Gleis, als die Züge durchrollten. Es gab Prügelszenen. Menschen sprangen auf Wagen auf. Trotzdem fuhr, als die Prager Botschaft wieder vollgelaufen war mit Flüchtlingen, auch dieser Zug durch Dresden. Sie hatten es wirklich nicht kapiert.
Die DDR-Opposition war da weiter. Wie sehr Widerstand von den technischen Mitteln seiner Vervielfältigung abhängt, gehörte schließlich zu ihren grundlegenden Erfahrungen. Die „Samisdat“-Literatur, die verbotenen Bücher der verbotenen Ostblock-Schriftsteller, kursierte als kaum lesbarer fünfter Schreibmaschinendurchschlag. Der Zugang zu Kopierern war strikt reglementiert, Telefone wurden nicht nur abgehört, sondern waren sowieso selten. Von so etwas Gefährlichem wie Filmkameras zu schweigen.
Bürgerrechtler versorgten das West-Fernsehen mit Videobildern der Montagsdemos
Um so klarer war einigen der Oppositionellen, welches Potenzial in der Technik steckt. Man musste nur listig den großen Verstärker im Westen nutzen, um das Pfeifen zu erzeugen. Bärbel Bohley und Rolf Hentig hatten das begriffen, als sie in einem Amateurvideo das Neue Forum vorstellten. In der DDR zugelassene West- Korrespondenten hätten die Szene nicht selber filmen dürfen, ohne sofort ausgewiesen zu werden. Wie das Filmchen in den Westen kam, hat die Staatsmacht erst viel zu spät erfahren.
Aram Radomski und Siegbert Schefke hatten das Prinzip auch begriffen, als sie ihren Stasi-Bewachern davonschlüpften, von Hochhäusern und einem Kirchturm herab die Montagsdemonstrationen in Leipzig filmten und die Kassetten, zurück in Ostberlin, West-Journalisten in die Hand drückten. Die alles entscheidende Montagsdemo vom 9. Oktober lief noch am gleichen Abend in den „Tagesthemen“. Das habe, behauptete Moderator Hans Joachim Friedrichs, ein italienisches Team gedreht.
Der Tarnversuch war sinnlos. Die Stasi hatte einen Freund der Undercover-Filmer angeworben und war im Bilde. Sie unternahm nichts. Auch Erich Mielkes Truppe hatte die neue, für jene Zeit so rasend schnelle Medienwelt nicht begriffen, deren Opfer sie werden sollte. Der Spitzel-Führer tippte wahrscheinlich noch auf einer klapprigen Maschine seinen Bericht, auf den die alten Männer in Wandlitz vielleicht noch immer warteten, als alles schon vorbei war.
Am 9. November, diesem unglaublichen Tag, der mit Günter Schabowskis Zettel anfing, stand am Abend eine Gruppe Redakteure im Zentral-Nachrichtenraum der Agentur Reuters in Bonn. Eine Eilmeldung hatte die andere gejagt, „Augenzeugen: Menschen tanzen auf der Mauer“ und dergleichen. Jetzt musste man das alles zusammenfassen. Aber was war das? Als der Entschluss fiel, raste noch eine Eilmeldung um die Welt: „Die Mauer ist gefallen.“ In anderen Nachrichten-Zentralen kamen andere Redakteure zum gleichen Schluss. Der Moderator Friedrichs hielt die Meldungen in der Hand, als er die „Tagesthemen“ eröffnete. Friedrichs las vor. Es war das letzte und entscheidende Mal, dass der große Verstärker in Gang kam. Er setzte ein halbes Land in Bewegung. Als die Menschen hörten, dass die Mauer fiel, fiel sie endgültig.
Seit damals ist die Welt noch viel schneller geworden, hat Internet und Handy- Funk. Der Verstärkereffekt nutzt sich dadurch eher ab. Im deutsch-deutschen Fall hat er funktioniert, weil er neu, die technischen Waffen so ungleich verteilt waren und, ganz nebenbei, weil keine Sprachbarriere zwischen den zwei Staaten lag. Die Herrscher von heute haben dazugelernt. Nur ein paar Tage haben die Helden von Teheran gemailt und getwittert. Dann drang kein noch so unscharfes Bild von Demonstranten und Polizisten mehr hinaus in die Welt.
Die DDR aber wird als der Staat in Erinnerung bleiben, den viele mutige Menschen zu Fall gebracht haben und zugleich die Ahnungslosigkeit seiner Mächtigen von der Macht der Technik. Dass es einen Umschlag von Quantität in Qualität bedeutet, wenn der West-Reporter mit dem autoakkuschweren C-Netz-Telefonkasten den Bericht von der Demonstration am Alex durchtelefoniert und ihn nicht erst Stunden später aufschreibt, haben die alten Marxisten nie verstanden.
Noch ihre Erben sollen den Mangel ironisch zu spüren bekommen. Anfang April 1990 verhandeln die Partner der letzten DDR-Regierung unter Lothar de Maizière über einen Koalitionsvertrag. Die Unterhändler treffen sich im Haus des Zentralkomitees. In dem riesigen Bau lagern im Dachboden noch die Staatsgeschenke. Das Prunkstück ist ein Erich Honecker in Öl auf Wildschweinhaut. Wer hinter Wandverkleidungen lugt, sieht manchmal reihenweise Telefone. Die Leitungen enden im Nichts. Vor dem Verhandlungssaal stehen sich die Journalisten die Beine in den Bauch.
Bis Christian Burckhardt eines Tages seine Jacke halb aufschlug und ein gerolltes Bündel Papier sichtbar wurde. „Keine Ahnung, was das ist“, sagte er, „aber lass’ uns mal draußen gucken.“ Es war der Koalitionsvertrag, von der ersten bis zur letzten Seite, komplett mit allen Unterschriften. An dem Abend hatte das Reuters-Büro in der Mohrenstraße sehr viel zu tun. Und die drinnen in der Unterhändlergruppe haben noch lange danach den Schurken gesucht, der das geheime Dokument drei Tage zu früh durchstach.
Es gab keinen Schurken. Was es gab, war bloß nach wie vor ein Mangel an Kopiergeräten. Im ganzen Bau stand eins bei der SPD-Fraktion. Da kopierte an jenem Tag ein junger Mann eifrig Papiere und heftete sie. Der Reporter Burckhardt aber, ein Schlaks mit abgenutzter Bürgerrechtler-Lederjacke und kleinem Bart, hat bloß höflich gefragt, ob er schon eins mitnehmen darf.
Wenn der Weltgeist Humor hat, dann hat in dem Kopiergerät der West-Vater jenes Chips gesteckt, den Honeckers Elektroniker zu spät abgekupfert hatten.
Dieser Text erschien erstmalig unter dem Titel "Sturm der Bilder" im Tagesspiegel vom 31.10.2009