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Walter Ulbricht (zweiter von links), Erster Sekretär des Zentralkomitees der SED, war ein alter Bekannter des sowjetischen Regierungschefs Nikita Chruschtschow.
© akg-images / ddrbildarchiv.de

11. Plenum der DDR vor 50 Jahren: Das Ende des Reformprozesses

In den frühen sechziger Jahren gewährte die DDR Film, Literatur und Wirtschaft überraschend viele Freiheiten. Das 11. Plenum Ende 1965 änderte alles.

Ost-Berlin, Haus der Ministerien, 3. Dezember 1965. Um zehn Uhr morgens fällt ein Schuss, Erich Apel stirbt. Es ist der Tag der Unterzeichnung eines langfristigen Wirtschaftsvertrages der DDR mit der Sowjetunion. Ein Knebelvertrag, der die DDR auf Jahre hinaus zum billigen Zulieferer für die russische Schwerindustrie macht. Die Hälfte des Außenhandels soll künftig mit der Sowjetunion abgewickelt werden.

Dabei läuft in der DDR seit zwei Jahren eine Wirtschaftsreform, mit dem Ziel, eine Art Wissenschaftsstaat aufzubauen. Das Ganze heißt: „Neues Ökonomisches System der Leitung und Planung“ (NÖSPL) und lässt sich vielversprechend an. Erich Apel als Vorsitzender der Staatlichen Plankommission war der Kopf dieser Reform.

Nun ist er tot. Suizid, so heißt es offiziell. Man spricht von Depressionen, und Walter Ulbricht, Erster Sekretär des Zentralkomitees der SED, hält auf dem zwei Wochen später stattfindenden 11. ZK-Plenum in Berlin-Mitte demonstrativ Apels Notizbuch hoch. Dieses belege dessen Freitod. Anderslautende Gerüchte seien falsch. Wer irgendwelche Zweifel habe, dürfe hineinschauen. Christa Wolf, damals Kandidatin des ZK der SED, notiert später, leider habe sie in dem Moment nicht den Mut gehabt, den Finger zu heben und zu sagen: Ich habe Zweifel! Auch niemand anderes verlangte Einsicht.

Das 11. Plenum wird zur Zäsur

Das Schweigen zementiert das Ende eines Reformprozesses im Lande. Das 11. Plenum, das vom 15. bis zum 18. Dezember 1965 stattfindet, wird zur Zäsur.

Tatsächlich tat sich einiges in den Jahren 1963 und 1965 in der DDR: Filme wurden gedreht, Bücher geschrieben, Bilder gemalt, die von einem neuen Selbstbewusstsein zeugten. Eine Beat-Szene entwickelte sich rund um den Jugendsender DT-64. Die Jugend trug nun auch im Osten immer häufiger Jeans und lange Haare. Es erschienen Bücher wie Erwin Strittmatters „Ole Bienkopp“ und Erik Neutschs „Spur der Steine“. Die Widersprüche beim Aufbau des Sozialismus sollten Thema von Kunst und Literatur werden: Der sowjetische Regierungschef Nikita Chruschtschow sagte bei einem Empfang zum Regisseur Kurt Maetzig, die Künstler müssten auch mal etwas riskieren. Ulbricht stand daneben und nickte. Wer meinte hier was? Maetzig glaubte richtig verstanden zu haben und verfilmte Manfred Bielers „Das Kaninchen bin ich“ über einen moralisch degenerierten DDR-Richter, der seine Urteile je nach politischer Wetterlage mal überhart, mal milde fällt. Das Buch war bereits verboten worden – Maetzig verfilmte es dennoch. Denn die Zeiten, so glaubt er, haben sich geändert.

Ulbricht hatte einen Kurswechsel um 180 Grad angekündigt

Das konnte man tatsächlich denken: Walter Ulbricht hatte auf dem 6. SED-Parteitag im Januar 1963 einen Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik um 180 Grad angekündigt. Die Leser des „Neuen Deutschland“ waren verblüfft, was sie da von Ulbricht hörten: „Wir brauchen ein Primat der Ökonomie über die Politik!“ Das hieß nichts anderes, als wegzukommen von der Politik des Plans und der „Produktionsaufgebote“, die die DDR nach dem Mauerbau 1961 wirtschaftlich stabilisieren sollten, aber das Gegenteil bewirkten: Das Land hinter der Mauer drohte wirtschaftlich zu kollabieren. Die Krise zwang zum Handeln – und Ulbricht als politischer Realist erkannte dies. Er wusste, dass 50 Prozent Arbeitsproduktivität im Vergleich zu Westdeutschland für ein politisches Überleben der DDR nicht ausreichend waren.

Apel war 1963 von Ulbricht zum Kopf der Wirtschaftreform gemacht worden. Doch kurz darauf drehte sich der Wind in Moskau. Ende 1964 hatte Leonid Breschnew den Entstalinisierer Nikita Chruschtschow gestürzt, der Ulbrichts Reformvorhaben positiv gegenüberstand. Chruschtschow und Ulbricht kannten sich von der Stalingrader Front, für die Chruschtschow die politische Verantwortung trug.

Apel war kein Mann der Parteinomenklatura, sondern Fachmann in Sachen Wirtschaftsorganisation. Er hatte vor 1945 bereits unter Wernher von Braun in Peenemünde an der Produktion der V-Waffen gearbeitet und war nach 1945 in die Sowjetunion verbracht worden, um auf der Insel Gorodomlia ein sowjetisches Raketenentwicklungsprogramm zu leiten. Er sollte in der DDR wiederholen, was Anfang der 20er Jahre die Sowjetunion vor dem schnellen ökonomischen Tod rettete und den Namen „Neue Ökonomische Politik“ trug. Der Kriegskommunismus hatte das Land ruiniert, nun sollte mittels Wiederbelebung des Marktes und Zulassung privaten Handels – in beschränktem Rahmen – die Versorgung der Bevölkerung ermöglicht und damit gleichzeitig die Gesellschaft von militärischen auf zivile Grundlagen gestellt werden.

Welche Rolle Moskau spielte

Walter Ulbricht (zweiter von links), Erster Sekretär des Zentralkomitees der SED, war ein alter Bekannter des sowjetischen Regierungschefs Nikita Chruschtschow.
Bedingt standhaft. Walter Ulbricht (zweiter von links), Erster Sekretär des Zentralkomitees der SED, war ein alter Bekannter des sowjetischen Regierungschefs Nikita Chruschtschow. Als dieser von Breschnew entmachtet wurde, musste auch Ulbricht umsteuern. Das 11. Plenum des ZK, das vom 15. bis 18. Dezember stattfand, markiert die Zäsur.
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Könnte so die DDR gerettet werden? Ulbricht sah keine Wahl – wohl wissend, damit in den Augen der Stalinisten als Abweichler dazustehen. Weniger Bilanzen, mehr freies Spiel der Kräfte, Preisbildung am Wert. Das war das erklärte Ziel. Eine Industriepreisreform wurde bereits umgesetzt, Betriebe sollten Kredite aufnehmen und Gewinne wieder selbstständig investieren können. Die Kybernetik wurde zum zentralen Thema dieser Jahre. Wie kommt man zu „sich selbst steuernden Systemen“? Zahlreiche Forschungsinstitute wurden in kürzester Zeit gegründet. Fachleute statt Funktionäre in Leitungspositionen!

Aber eine Wirtschaftsreform, so wusste Ulbricht auch, war nur dann sinnvoll, wenn sich die Gesellschaft im Ganzen dynamisiert. Die Atmosphäre des Aufbruchs sollte für jeden spürbar werden. Eine Kommission für eine Jugendpolitik wurde eingesetzt, die ein Jugendkommuniqué erarbeitete („Der Jugend mehr Vertrauen und Verantwortung“). Ziel war es, die FDJ, Honeckers politische Heimat, in der Ulbricht eine bloße Folkloretruppe sah, zu entmachten. Mit Hans Bentzien platzierte er einen Mitte Dreißigjährigen als Kulturminister in die Altherrenriege. Der Kulturkampf begann, der Kampf um eine auf Demokratisierung zielende Reform des Sozialismus in der DDR, so wie sie die Tschechoslowakei 1968 erlebte.

Honecker wartet ab

Ulbrichts Gegner, allen voran sein Kronprinz Erich Honecker, der Sicherheits- und Kaderchef im Politbüro, warteten vorsichtshalber ab.

Derweil fragte der „Spiegel“ im Heft 16/1964 unter der Überschrift: „Das Tauwetter ist nicht aufzuhalten“ Alfred Kantorowicz, den 1957 geflohenen ehemaligen Direktor des Heinrich- und des Thomas-Mann-Archivs bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften, was da gerade in der DDR passiert. Kantorowicz’ Antwort: „Man kann nicht jahre- und jahrzehntelang eine Intelligenzschicht heranbilden und dann erwarten, dass sie nicht zu denken beginnen wird.“

Kantorowicz goss weiter Öl ins Feuer: „Robert Havemann ist doch das beste Beispiel für die Verbindung zwischen Naturwissenschaften und Ideologie.“ Nun also hatten es auch die beschränktesten Parteifunktionäre begriffen, wer ihr Feind war: Havemann, der seine Vorlesungen „Dialektik ohne Dogma“ öffentlich an der Humboldt-Universität halten konnte, und seine Freunde, vor allem der dreiste Wolf Biermann.

Des Weiteren: Werner Bräunig, der den Wismut-AG-Roman „Rummelplatz“ schrieb, oder Stefan Heym, der mit „Der Tag X“ seine Lesart des heikelsten Datums der DDR-Geschichte, des Aufstands vom 17. Juni 1953, vorlegte. Frank Beyer begann mit der Verfilmung von „Spur der Steine“ und Heiner Müller adaptierte Neutschs Buch in seinem Stück „Der Bau“. Darin findet sich die Bestimmung der DDR Mitte der sechziger Jahre als „Fähre zwischen Eiszeit und Kommune“.

Aber nach dem Sturz von Chruschtschow war mit Leonid Breschnew ein Mann der Rüstungsindustrie des Donezk-Beckens an der Macht – und der hielt von gesellschaftlichen Experimenten so wenig wie von Selbstständigkeitsbestrebungen der Satellitenstaaten. Die Chancen für Ulbrichts Reform verschlechterten sich erheblich – aber er machte weiter, vorerst.

Wie das 11. Plenum zum "Kahlschlagplenum" wurde

Walter Ulbricht (zweiter von links), Erster Sekretär des Zentralkomitees der SED, war ein alter Bekannter des sowjetischen Regierungschefs Nikita Chruschtschow.
Bedingt standhaft. Walter Ulbricht (zweiter von links), Erster Sekretär des Zentralkomitees der SED, war ein alter Bekannter des sowjetischen Regierungschefs Nikita Chruschtschow. Als dieser von Breschnew entmachtet wurde, musste auch Ulbricht umsteuern. Das 11. Plenum des ZK, das vom 15. bis 18. Dezember stattfand, markiert die Zäsur.
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Das Wirtschaftsplenum findet wie geplant im Dezember 1965 statt, trotz Apels Tod. Ulbricht selbst hält die programmatische Rede mit dem Wirtschaftsthema im Zentrum. Die Ökonomen debattieren über Industriepreise und Kredite. Doch den Bericht des Politbüros überlässt Ulbricht seinem Stellvertreter Honecker. Und der sonst so blasse Politbürokrat hält eine in ihrer Aggressivität überraschende Inquisitions-Rede, die dem 11. ZK-Plenum den Ruf des „Kahlschlagplenums“ eingebracht hat.

Unter der Überschrift „Ein sauberer Staat mit unverrückbaren Maßstäben“ beginnt die große Abrechnung. Honecker arbeitet einen Sündenfall der „Kulturschaffenden“ nach dem anderen ab, versucht den Eindruck zu erwecken: Die Republik ist in Gefahr! Wer sie dahin gebracht hat? Künstler und Literaten!

Tauwetter? Nicht mit uns! Honeckers Generalvorwurf lautet: „Leider hat sich in den letzten Jahren eine neue Art Literatur entwickelt, die im Wesentlichen aus einer Mischung von Sexualität und Brutalität besteht. Ist es ein Wunder, wenn nach dieser Welle in Literatur, Film, Fernsehen und Zeitschriften manche Jugendlichen nicht mehr wissen, ob sie richtig oder falsch handeln, wenn sie dort ihre Vorbilder suchen?“

Die Parteispitze hat Angst

Woher kommt diese Hysterie? Die Parteispitze hat Angst davor, dass ihr die Entwicklung entgleitet. Das Konzert der Rolling Stones in der West-Berliner Waldbühne im September 1965 hat nicht nur die bundesdeutsche Öffentlichkeit aufgeschreckt. Welche Aggressivität steckt doch in der neuen Jugendkultur! Das hat auch die Vertreter der Ideologie des „sauberen Staates“ DDR alarmiert.

Pünktlich zum Plenumsbeginn machen altbekannte Dogmatiker der Kulturpolitik Stimmung – was beweist, dass Honecker nichts dem Zufall überlässt. Alexander Abusch hat eine Klassenkampfpredigt parat, die eigentlich, so dachte man, nicht mehr in die Zeit passt. Er behauptet, der „Kampf gegen den Dogmatismus“ sei ein Argument des Gegners, der auf diese Weise dem Sozialismus schaden wolle. Das ist Honeckers Linie des 11. ZK-Plenums. Wenn die „kapitalistische Unkultur ihre Sumpfblüten in der Literatur und Kunst treibt“, dann sei es Pflicht des sozialistischen Realismus, dagegen das Prinzip der „Sauberkeit“ zu stellen.

Christa Wolf wagt auf dem Plenum als Einzige zu widersprechen. Sie kämpft um das „freie Verhältnis zum Stoff“ als ein hohes Gut, das man sich in den letzten Jahren erworben habe. Aber sie steht allein. „Diese Leute werden sich jetzt um 180 Grad drehen. Sie werden alles abdrehen. Sie werden nicht nur jeden nackten Hals im Fernsehen zudecken, sie werden auch jede kritische Äußerung an irgendeinem Staats- und Parteifunktionär als parteischädigend ansehen. Sie tun es schon. So ist die Sache.“

Am 16. Dezember 1965, das Plenum hat gerade begonnen, notiert auch die Schriftstellerin Brigitte Reimann in ihr Tagebuch, und es klingt nach der Implosion eines Weltbilds: „Heute war die Rede Honeckers auf dem ZK-Plenum abgedruckt. Die Katze ist aus dem Sack: Die Schriftsteller sind schuld an der sittlichen Verrohung der Jugend. Destruktive Kunstwerke, brutale Darstellungen, westlicher Einfluss, Sexualorgien, weiß der Teufel was – und natürlich die böse Lust am Zweifeln. Die Schriftsteller stehen meckernd abseits, während unsere braven Werktätigen den Sozialismus aufbauen. Der Staat zahlt, und die Schriftsteller – blablabla. Es ist zum Kotzen.“

Honeckers Militanz erschreckt selbst Ulbricht

Das Maß an Militanz, mit dem Honecker über die Künstler und Literaten herfällt, erschreckt selbst Ulbricht. Die Frage, die sich der alte Parteikader sofort stellt: Steckt der neue Mann in Moskau dahinter, gibt es eine Intrige von Breschnew und Honecker gegen ihn? Ulbricht versucht die Kampfansage Honeckers in ein Diskussionsangebot umzudeuten. Vergeblich. Unmittelbar nach Plenumsende hat Honecker ein Sofortprogramm parat. Kulturminister Hans Bentzien wird abgesetzt, der Chef der Jugendkommission des Politbüros ebenso.

Am schärfsten wird die DEFA abgestraft. Zwölf von vierzehn Filmen der Jahresproduktion 1965 werden verboten. Frank Beyer versucht „Spur der Steine“ zu retten, indem er die Endfertigung bis ins Frühjahr 1966 hinauszögert – vergeblich, kurz nach der Premiere wird auch dieser Film zurückgezogen, Beyer entlassen. Und Ulbricht? Ist verunsichert, taucht bis Februar bei keiner Politbürositzung mehr auf.

Bei den Künstlern und Literaten wird aus Erschrecken über die Militanz der Angriffe schnell Lähmung, aus Lähmung wird Ekel. Die Eliten – auch die sozialistisch eingestellten, die den Mauerbau noch mittrugen – wenden sich nach dem 11. Plenum des ZK der SED von der herrschenden Partei ab. Die DDR stirbt von nun an nicht nur einen langsamen, aber unaufhaltsamen ökonomischen, sondern auch einen geistigen Tod.

Erich Apels Notizbuch ist nicht mehr auffindbar.

Das Cover des Buches von Gunnar Decker.
Das Cover des Buches von Gunnar Decker.
© Hanser

Der Autor, geboren 1965 in Kühlungsborn, ist promovierter Philiosoph. Kürzlich erschien im Carl Hanser Verlag sein Buch „1965 – Der kurze Sommer der DDR“ (496 Seiten, 26 Euro). Decker lebt und arbeitet in Berlin.

Gunnar Decker

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