Gedenken an Mauerbau: Berlin vergisst sich selbst - und das ist schlecht so
Vor 53 Jahren wurde die Mauer gebaut. Aber selbst in Berlin weiß das kaum noch jemand. Die Erinnerung an die DDR wird verscherbelt und im Unterricht zur Fußnote degradiert. Auf diese Weise berauben wir uns unserer Vergangenheit. Ein Kommentar.
Heute werden wieder Kränze abgelegt. Heute läuten wieder Glocken entlang des alten Risses, der Deutschland einst betonhart durchtrennte. Heute wird wieder geschwiegen für eine Minute um jener Opfer zu gedenken, die einfach nur ein freies Leben in einem anderen Staat des gleichen Landes führen wollten und dafür mit ihrem ganzen Leben bezahlten. Deutschland und Berlin erinnern auch an diesem 13. August an den Mauerbau vor mehr als fünf Jahrzehnten, als Bürgersteige und Familien über Nacht geteilt wurden. Doch dieses Gedenken hat selbst im Super-Gedenkjahr 2014, in dem im November der Mauerfall zum 25. Mal gefeiert wird, nur noch rituellen Charakter; es ist eine Randveranstaltung an den verbliebenen und zum Kunstwerk verfremdeten Mauerresten an der Bernauer Straße. Und das ist schlecht so.
Der Reiz in Berlin: Geschichte liegt auf der Straße
Im Stadtbild ist die Grenze kaum noch zu sehen; und letzte Streifen der Erinnerung werden gerne mal gewinnbringend an Investoren verscherbelt oder von Schaustellern mit DDR-Kostümen und Stempelkissen verballhornt. In den Köpfen ist der Mauerbau schon fast vergangen. Man könnte dies als Zeichen einer zusammengewachsenen Stadt deuten, eines neu erwachsenen Berlin, das längst nicht mehr in Ost und West denkt, sondern höchstens in Arm und Reich (was manchmal noch immer zusammenfällt). Doch leider ist es ein Zeichen von Selbstvergessenheit. Nur einem Drittel der Deutschen unter 30 Jahren ist gegenwärtig, dass am 13. August 1961 so etwas wie eine Mauer durch die Stadt gezogen wurde. Der Rest kann mit dem heutigen Datum gar nichts anfangen. Und das hat Gründe, die man eigentlich beheben könnte - wenn wir es denn wollen.
Im Geschichtsunterricht auch in den Berliner Schulen ist die DDR tatsächlich oft das, als was sie der ostdeutsche Schriftsteller Stefan Heym am Ende abkanzelte: eine Fußnote der Geschichte. Die Lehrpläne zeigen heute graue Flecken gerade in der jüngeren Geschichte der eigenen Stadt - so wie einst West-Berlin ein grauer Fleck in den Atlanten der DDR-Schulkinder war. Dabei sind selbst im Spaßpark an der East Side Gallery noch letzte Reste der alten Grenze zu besichtigen.
Auch Großeltern ließen sich noch befragen, wie sie die Teilung ihres Landes und ihrer Träume erlebt haben. Doch engagierte Lehrer, die Zeitzeugen in den Unterricht einladen oder mit ihren Schülern mal in die Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen fahren, sind immer noch die Ausnahme. Und gerade im alten Ostteil der geeinten Stadt, des geeinten Landes gibt es bei älteren Pädagogen noch Vorbehalte, ob sie so viel Vergangenheit wirklich thematisieren sollen. Schließlich ist es auch ihre eigene.
Aber genau das ist der Reiz, gerade in Berlin: Die Geschichte liegt auf der Straße. Heben wir sie auf, blicken wir auf das, was hier war, um zu erkennen, wie es wurde was es heute ist. Und um zu erspüren, wie wir mal leben wollen in Berlin. Ohne neue Mauern im Kopf. Aber mit der alten im Sinn.
Robert Ide