Stoke Newington: Das Dorf von London
Polnische Klempner, englische Banker, türkische Metzger. Das Viertel Stoke Newington ist für sie alle Heimat. Im Clissold Park kann man sich dazusetzen.
Klatsch. Die Äste des Kastanienbaums knallen gegen den Doppeldecker, die Früchte poltern über das Dach. Jeder dösende Passagier im Bus wacht auf, ein Blick aus dem Fenster: Ah, Stoke Newington. Der Stadtteil, wo die Äste der Bäume anscheinend nicht geschnitten werden. Der Bus hält schnaufend an, schwarze Teenager diskutieren über einen Rapper. Ein orthodoxer Jude mit grauem Bart, Schläfenlocken und Kippa schaut zu ihnen hinüber. Versteht er etwas von dem, was die Jungs sagen?
Stoke Newington ist London auf engstem Raum, ein Stadtteil ohne U-Bahn-Anschluss, ein blinder Fleck auf der Metrospinne, im Nordosten der Millionenstadt gelegen und von den Banktürmen der City mit dem Bus in einer halben Stunde erreichbar. Backsteinbauten klemmen sich an die engen Straßen, oft nicht mehr als drei Etagen hoch. Der Kunsthistoriker Nikolaus Pevsner schrieb in den 50er Jahren, dieses Viertel gehöre wegen seiner kümmerlichen Architektur eigentlich nicht nach London. „Stokey“, wie Zugezogene es nennen, war lange ein Dorf vor den Toren der Stadt, heute fühlt es sich wie ein Dorf in der Stadt an.
Als Jo Adams vor 30 Jahren ihren Buchladen auf der Stoke Newington High Street eröffnete, säumten Fischläden, Stoffverkäufer und Pubs die Straße. „Hast du nicht am falschen Ort aufgemacht?“, fragten Kollegen die junge Buchhändlerin. Jo Adams schüttelte nur den Kopf. Im Süden Moscheen, im Norden Synagogen, dazwischen Arbeiterfamilien und Hausbesetzer. Sie mochte diese Mischung der besonderen Art, diese Gemengelage am Rand der Gesellschaft, von Menschen, die im Zentrum nicht immer gern gesehen waren oder keinen Platz gefunden hatten.
Aus den Kneipen sind Gastropubs geworden
Adams hat den Wandel der vergangenen Jahrzehnte wohlwollend beobachtet. Beim Fischhändler riecht es genauso wie früher, drinnen sieht es jedoch wie in einem Architekturbüro mit Theke aus, alles grau gestrichene Wände und schnieke Konserven. Aus den Kneipen sind Gastropubs mit tschechischem Bier und Bio-Steaks geworden, und wenn Adams einen Espresso trinken möchte, holt sie ihn gegenüber in „The Haberdashery“, vor fünf Jahren als eine der besten Kaffeebars von London ausgezeichnet.
Ärmere Familien leben in Sozialbauten hinter den beiden Hauptstraßen, der Church und der Stoke Newington High Street, wohlhabende Menschen haben sich in den renovierten viktorianischen Gebäuden ein neues Leben aufgebaut. Der US-Schauspieler David Schwimmer, bekannt aus der Comedyserie „Friends“, wohnt hier mit seiner englischen Frau. Ein anderer transatlantischer Flüchtling, Thurston Moore von der New Yorker Punkband Sonic Youth, lebt um die Ecke.
Stoke Newington hält diese Gegensätze aus. Vor dem „Haberdashery“ geht eine verschleierte Frau vorbei. An einem jungen Mädchen, das praktisch nichts anhat. Nur ein schwarzes Top, eine kurze Hose und ein riesiges Tattoo mit dem Schriftzug „Magic“ bedecken ihren Körper. Beide Frauen sehen aneinander vorbei.
Die zwei Hauptstraßen des Viertels kreuzen sich 20 Meter neben der Kaffeebar, eine symbolische Weggabelung für alle Lebensentwürfe, die einmal am Tag durch dieses Verkehrsnadelöhr müssen. Türkische Metzger, englische Banker, polnische Klempner, chassidische Juden, britische Moslems und christliche Unitarier.
Ist heute alles besser?
Ihr Starrsinn hat ihr recht gegeben, vor Jahren musste Adams aus dem kleinen Ladenlokal ein doppelt so großes Geschäft machen. Der „Stoke Newington Book Shop“ ist heute einer der wenigen unabhängigen Buchläden Londons. Und knüpft an die Tradition des Ortes an. Schriftsteller wie Joseph Conrad haben in Stoke Newington gelebt. Seit 2010 findet ein Literaturfestival statt, das die alten und die jungen Stars feiert. Dieses Jahr haben unter anderem die Bestsellerautorin Meg Wolitzer („Das weibliche Prinzip“) und Chelsea Clinton gelesen.
Ist nun alles besser? Jo Adams wägt ab. Stoke Newington sei zweifellos reicher geworden, dieses Jahr jedoch schwierig, als würden die Leute ihr Geld vor dem Brexit horten, weil sie nicht wüssten, was danach käme. Die Menschen zögen sich politisch zurück, die Anarchisten aus den 70er Jahren sind fortgezogen, die Punks aus den 80er Jahren weg, große Protestaktionen wie die gegen die Eröffnung eines Supermarktes vor zehn Jahren blieben aus.
Das ganze Umziehen in London strengt auch an. Vor 20 Jahren flüchteten Singles und Kreative ins East End, weil sie woanders keine bezahlbaren Wohnungen mehr fanden, anschließend gingen sie nach Norden und machten aus dem früher ramponierten Hackney ein ansehnliches Quartier. Spätestens seit Olympia 2012 haben auch dort die Mieten angezogen, und das benachbarte Stoke Newington war mit einem Mal attraktiv.
Früher traute sich niemand auf den Friedhof im Abney Park
Wenn Besucher die High Street in Richtung Norden gehen, kommen sie automatisch an der größten Sehenswürdigkeit des Viertels vorbei: dem Friedhof im Abney Park. Sean Gubbins, grauer Kinnbart, Brille, wartet vor dem Eingang. Der 63-jährige pensionierte Lehrer bietet einige Male im Jahr geführte Spaziergänge durch Stoke Newington an. Er ist das historische Gedächtnis des Viertels.
Bevor die Tour beginnt, reißt er kurz die Geschichte des Ortes an. Um 1070 erstmals erwähnt, als Station der Handelsroute Roman Road in Richtung Norden, später ein Vorort für Londoner, die mit der Hauptstadt im Clinch lagen. Daniel Defoe lebte im frühen 18. Jahrhundert an der Church Street und legte sich in Pamphleten mit der Kirche von England an. Er fühle sich in Stoke Newington sicherer als in der Stadt, soll er gesagt haben. Religiöse Minderheiten bevorzugten die Gemeinde, erklärt Sean Gubbins. Viele Quäker wirkten an selbiger Stelle, nach dem Zweiten Weltkrieg kamen orthodoxe Juden in den Stadtteil.
Der Friedhof wurde 1843 angelegt. Knapp 200 000 Menschen sind in dem bewaldeten Park begraben. Da er nie geweiht wurde, ist er die letzte Ruhestätte für viele Atheisten und Agnostiker. Heute ist das Gelände überwuchert, Grabsteine stehen schief im Unterholz, Statuen bröckeln am Wegesrand. Man kann sich den nächtlichen Friedhof sehr gut als Horrorfilmdrehort vorstellen.
Sean Gubbins geht voran, erzählt von den 80er und 90er Jahren, als sich kein Bewohner von Stoke Newington auf den Friedhof traute. Junkies lebten unter den Bäumen, Dealer standen im Schatten. Inzwischen setzt sich der Bezirksrat von Hackney, zu dessen Verwaltungsbereich das Viertel zählt, für den Erhalt von Abney Park ein. Im Frühjahr bewilligte die nationale Lottogesellschaft 315 000 Pfund (etwa 350 000 Euro) dafür.
Das Herz von Stokey schlägt in Clissold Park
Gubbins geht durch ein Tor hinaus auf die Church Street, die feinste Adresse weit und breit. Kleine Restaurants, Modeboutiquen und Immobilienmakler sitzen hinter bunt bemalten Türen und Fassaden. Violett, mintgrün, gelb, und alle fünf Minuten rauscht ein roter Doppeldecker durch die Straße. Es gibt Spinat-Ricotta-Ravioli im „Blue Legume“, geschmortes Lamm im „Andi’s“ und mit „Bridgewood & Neitzert“ eines der besten Geschäfte für klassische Instrumente in ganz London.
Am anderen Ende der Straße liegt Clissold Park. Die Grünfläche ist das Tempelhofer Feld des Viertels. Am Wochenende treffen sich Kleinfamilien, Hipster und Sportler hier, um zu picknicken, Räder auszufahren oder Fitnessübungen zu perfektionieren. An einem sonnigen Vormittag sieht man auf den Rasenflächen mehr Männer oben ohne herumhecheln als in einem Schwulenclub.
Gubbins dreht nach rechts ab, an einem Ententümpel vorbei, und zeigt auf das alte Herrenhaus am Parkrand. „Als wir vor 30 Jahren herzogen, war überhaupt nichts in dem Gebäude drin“, sagt der ehemalige Lehrer. Inzwischen ist ein Café eingezogen, ein Weinkeller und eine Imkerei auf das Dach. Im Empfangssaal werden Paare getraut.
Das Herz von Stokey schlägt in Clissold Park, auf 22 Hektar Lebensqualität. Sean Gubbins schaut irritiert. Stokey? Sagt er als Alteingesessener nicht. „Das würde mir im Halse stecken bleiben.“
Reisetipps für London
Hinkommen
Am günstigsten gelegen ist der City Airport. Flüge dorthin mit British Airways ab rund 90 Euro.
Unterkommen
In Stoke Newington gibt es kein Hotel, doch in Shoreditch (15 Minuten mit dem Bus) hat jüngst das Courthouse Hotel aufgemacht. Doppelzimmer pro Nacht ab 217 Euro, unter courthouse-hotel.com buchbar.
Rumkommen
Spaziergänge mit Sean Gubbins sind unter walkhackney.co.uk zu finden.