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Showtime: Jedes Restaurant ist eine Inszenierung.
© ra2 studio - Fotolia

Die Kulturgeschichte des Restaurants: Aufgetischt und abserviert

Christoph Ribbat nähert sich Restaurants mit dem Besteck eines Forschers. Das könnte ihm nun in Leipzig einen Preis einbringen. Eine Begegnung beim Mittagessen.

Ihr Entschluss steht fest: Kellnerin will sie werden. Ihr Mann ist todkrank, mitten im ratternden Chicago steht die frühere Lehrerin jetzt in einem abgeschabten dunklen Kleid vor dem riesigen Fenster des Restaurants. Und schwankt. „Durch die Scheiben betrachtet sie die hellen, gedeckten Tische, gemächlich essende Damen und Herren, weiß beschürzte Mädchen mit Tellern in den Händen.“ Ihr Herz rast. Soll sie, soll sie nicht? Schließlich geht sie rein. Zu spät, der Job ist weg. Egal. Mutiger geworden, findet sie anderswo eine Stelle als Kellnerin. Der Beginn einer illustren Karriere: als „embedded sociologist“, als teilnehmende Beobachterin. Ein Dreivierteljahr kellnert Frances Donovan für ihr Buch, das 1919 erscheint: „The Woman Who Waits“ (Die Frau, die kellnert – die Frau, die wartet).

Die Szene bildet auch den Auftakt von Christoph Ribbats Buch „Im Restaurant“, das in diesen Tagen im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Frances Donovan ist seine Frau. In einer Fußnote hat er sie gefunden: eine Soziologin im eigenen Auftrag. „Die Pionierin des Forschungsfeldes“ mit ihrem frischen, respektlosen Blick ist seine Lieblingsfigur, am liebsten würde er ihr Leben verfilmen. Wer Ribbats Buch zu lesen beginnt, könnte die Soziologin, die zunächst nur als „Frances“ auftritt, für eine fiktive Gestalt halten. Die Irreführung ist durchaus gewollt. Der Wissenschaftler hat eine Art Doku-Roman über die Geschichte des Restaurants geschrieben. Wobei: „Ich habe nix erfunden!“ Umso mehr gefunden.

Eine Brasserie spielt Brasserie

Wir treffen uns, wo sonst, im Restaurant. Nicht in Chicago, in Charlottenburg, in einer französischen Brasserie am Kurfürstendamm, die alle Register einer französischen Brasserie zieht. Das fängt beim Namen an, Le Paris, und geht mit karierten Tischdecken weiter, mit Spiegeln an der Wand, roter Lederbank, knusprigem Baguette. Das Tagesgericht heißt „plat du jour“. Heute: Suprême de poulet.

Als „hochamüsante Soziologie des Restaurants“ hat die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse Ribbats Werk gepriesen und es in der Rubrik Sachbuch nominiert. Am Donnerstag wird der Preisträger verkündet. Die Vorstellung, dass sein Name ausgerufen werden könnte, scheint dem 47-Jährigen fast unangenehm zu sein. Ist das Thema nicht viel zu banal im Vergleich zur Klimakatastrophe des Ko-Nominierten Hans Joachim Schellnhuber?

Ribbat, Professor für amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaft in Paderborn mit Wohnsitz Berlin, ist es nicht gewohnt im Rampenlicht zu stehen, Interviews zu geben. Er hat sich ein blaues Jackett übergezogen und ein fein gestreiftes Hemd, die Ohren erröten, wenn er besorgt fragt, ob seine Antwort nicht zu lang, zu kurz, zu unoriginell sei.

Was auf dem Teller liegt, interessiert ihn nicht

Die Suppe kommt. Ribbat freut sich, dass es zum mittäglichen Gespräch tatsächlich was zu essen gibt. Neulich wurde er zum Interview ins Fischers Fritz gebeten, allerdings war das Zwei- Sterne-Lokal geschlossen, als er kam. Es diente dem Fernsehteam nur als Kulisse. Der Wissenschaftler bekam es mit der Angst zu tun: Wird das jetzt die Strafe dafür, dass in seinem Buch das Essen eine so unwichtige Rolle spielt?

Der hagere Sportsfreund ist kein „Foodie“, wie er schnell erklärt. Das, was auf dem Teller liegt, interessiert ihn weit weniger als die Menschen, die es zubereiten, servieren und konsumieren, der Ort, in dem das alles passiert – das, was sich zwischen den Gängen und hinter den Kulissen abspielt, Dramen, Tränen, Schweinereien. Schon sein letztes Buch, eine Kulturgeschichte des Basketballs, hat der Wissenschaftler ja nicht aus Leidenschaft für den Basketball geschrieben. Der Mikrokosmos als Spiegel der Gesellschaft, das ist es, was ihn interessiert.

Tempo, Tempo

Kellner spielen in Ribbats Buch eine größere Rolle als die Köche.
Kellner spielen in Ribbats Buch eine größere Rolle als die Köche.
© Kai-Uwe Heinrich

Wobei, so Ribbat, die Speisen in der Geschichte des Restaurants ohnehin nie die Hauptrolle spielten. „Schon Escoffier beschwerte sich Anfang des 20. Jahrhunderts: ,Die Leute interessieren sich überhaupt nicht fürs Essen!‘ Die kommen da ins Luxushotel, gucken auf den Nerz der Nachbarin, welcher Multimillionär gerade reinkommt.“ So viel hat sich seiner Meinung nach daran gar nicht geändert. „Wenn man eigene Restaurant-Abende Revue passieren lässt, wie viel Zeit und Aufmerksamkeit man dem Essen geschenkt hat – das ist deprimierend wenig.“

In den ersten Restaurants im Paris des späten 18. Jahrhunderts wurde gar nichts Stärkeres als Bouillon serviert. Es ging nicht darum, sich den Bauch vollzuschlagen, sondern darum, sich zu erholen (se restaurer). Und für sich zu sein: In der Edel-Variante des guten alten Gasthofs musste man nicht mehr mit Krethi und Plethi an einer langen Tafel sitzen, wurde individuell bedient.

Wobei man durchaus dankbar ist, dass der Autor sich in seinem Buch nicht näher übers Essen auslässt. Denn die Küchen, in denen es zubereitet wird, sind bei Ribbat oft ziemlich ekelhaft. Schon Frances Donovan hat dort Ratten entdeckt. Der Autor hat ein unromantisches Buch geschrieben, in dem die Kellner eine größere Rolle als die Köche spielen. Bei ihm geht es um Schinderei, Hierarchien, Fremdenfeindlichkeit.

Szenen-Hopping

Denn Restaurants sind bei ihm ebenso kosmopolitische wie rassistische Orte. Das wäre ihm zu schlicht gewesen: „dass die Bundesrepublik durch die ganzen ethnischen Restaurants zu einer offenen, diversen Gesellschaft wird. Weil man immer zum Italiener, Chinesen, Türken geht, sind jetzt alle ganz tolerant.“ Also erzählt er auch von Wallraff, der als Ali bei McDonald’s arbeitet, und von den Türken, die Gemüse schnitten, bevor sie in ihrer Dönerbude von der NSU ermordet werden. Eine Szene, die ihn in ihrer Banalität und Unfassbarkeit sehr berührt hat.

Tempo, Tempo! In kurzen Szenen rast das Buch durch die Geschichte des Restaurants, von Chicago nach Paris, vom thüringischen Suhl ins Berkeley der 1960er Jahre. Das macht die Sache spannend, birgt jedoch auch Gefahr – der „Spiegel“ warf Ribbat Oberflächlichkeit vor.

Der Montage-Roman hat ihn nach eigenen Angaben zu dieser Form inspiriert. Als Bewohner des 21. Jahrhunderts fühlt man sich bei der Lektüre allerdings auch ans Fernsehen erinnert: ans Channel-Hopping, an die Dramaturgie von Serien. Ribbat lässt Fäden gern in der Luft hängen, um sie später wieder aufzunehmen, liebt den Cliffhanger, verrät die Namen seiner Figuren oft erst spät.

Das leicht Abgehackte, Komprimierte seiner Erzählung, so Ribbat, ist aber auch dem Erlebnis des Restaurantbesuchs geschuldet: Wird man dort nicht dauernd beim Gespräch unterbrochen? Vom Kellner oder, wie jetzt, von einem Mantel, der ständig von der überfüllten Brasserie-Garderobe fällt. Immer wieder steht der höfliche Westfale auf, um ihn aufzuhängen, bis er erlöst wird vom Patron, der den Mantel auf einem Bügel fixiert.

Eine Geschichte aus dem Bauch der Moderne

„Die flackernde Moderne“ hat der Kulturwissenschaftler sein erstes Buch über das Neonlicht im Untertitel genannt. „Eine Geschichte aus dem Bauch der Moderne“ lautet der Untertitel des neuen. Ganz trifft es nicht: denn es sind viele Geschichten, die er erzählt. Sehr viele.

Das Buch ist eine Tour de Force durch die Geschichte, genauer: die Literaturgeschichte des Restaurants. Es speist sich nicht aus Erlebtem, sondern aus Erlesenem. Als Literaturwissenschaftler ist Ribbat von Texten aller Art fasziniert. „Schon immer“ hat er mit Begeisterung Rezensionskritiken gelesen, vor allem die von Siebeck, selbst die von Jürgen Dollase in der „FAZ“, „auch wenn der einen in den Wahnsinn treiben kann – die Sprache finde ich großartig“.

Bei der Fülle der von ihm studierten Literatur – gibt es ein Buch, das ihn besonders inspiriert hat? Ribbat überlegt einen Moment, schließt dabei, wie er es gern beim Nachdenken tut, die Augen. Ja: ein Essay von James Baldwin. Eigentlich geht es darin um den Vater, aber der Schriftsteller erzählt, wie er in einem Restaurant als Schwarzer nicht bedient wird und aus lauter Wut einen Wasserkrug nach der Kellnerin schmeißt. Für Ribbat eine einschneidende Lektüre: Weil er beschloss, nicht nur einschlägige Texte aus dem kulinarischen Bereich zu benutzen, sondern auch ganz andere, die wichtige Momente einfangen.

In den zwei Jahren, in denen er am Buch schrieb, ist er nicht häufiger essen gegangen als sonst. Dazu sei er ohnehin zu geizig, wie der Münsteraner gesteht. Seine eindringlichste Kindheitserinnerung in Sachen Essengehen: Wie er einen Sommer lang versuchte, seine Eltern dadurch zu beeindrucken, dass er immer das Billigste von der Karte wählte. Mit Erfolg? An die Reaktion hat er keine Erinnerungen mehr.

Die Liebe, neu entfacht

Christoph Ribbat, der Karl May der Restaurants.
Christoph Ribbat, der Karl May der Restaurants.
© Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag

Sosehr Ribbat die Soziologie liebt, nie hatte er vor, sich wie Frances Donovan, selber im Lokal zu verdingen. Das wollte er niemandem zumuten. Nicht mal auf studentische Kellnererfahrung konnte er zurückgreifen. „Ich bin da wie Karl May, der nie in Amerika war und trotzdem über Indianer geschrieben hat.“ Es gebe doch schon so viele gute Texte, „die sind so lebendig, dass man eh das Gefühl hat, mittendrin zu sein“.

Und doch schreibt er natürlich aus seiner Perspektive, die stark von den USA, seinen vielfältigen Amerikaaufenthalten geprägt ist. Das hat die Wahl von Figuren und Lokalitäten ebenso wie das Tempo seiner Erzählung bestimmt. Amerikaner, so Ribbat, gehen dauernd essen. Aber sie halten sich nicht lange dabei auf. Einen ganzen gemütlichen Abend mit Freunden in einem Restaurant zu verbringen, ist in New York ein Ding der Unmöglichkeit. Sobald ein Gast dort das Besteck abgelegt hat, bekommt er die Rechnung serviert. Die Worte „no rush!“ signalisieren: „Verschwinde!“ In Manhattan haben die Mieten inzwischen so horrende Höhen erreicht, dass einige Lokale ihren Gästen schon gar keine Dessertkarte mehr reichen, weil die dann nur noch länger rumhängen. Diese Hektik wollte er einfangen.

Es geht um Geld, ums Geschäft

Und das, was in der Alten Welt seiner Meinung nach durch die Inszenierung noch mehr verdeckt wird, in den USA dagegen so deutlich wird: dass es im Restaurant nicht einfach um freundlichen Service und kulinarische Erlebnisse geht, sondern um Geld. Ums Geschäft.

Ganz am Schluss des Buchs bedankt Ribbat sich bei einigen Menschen und zwei Lokalen, die keine wirklichen Restaurants sind: der Rheinstein Coffee Bar in Berlin, für den Autor ein wunderbarer Ort zum Schreiben, mit einem riesigen Schaufenster, wie es Frances Donovan schon so gefiel, „wo die Kellnerinnen urbane Stars sind, wie sie rumlaufen“. Und bei der Snack-Bar Cabana.

Ribbat war ausgezogen, das Restaurant zu entmystifizieren. Die Schwärmereien von super Geheimtipps, wo kein Tourist je hinkommt (man selber ist ja kein Tourist), gehen ihm gegen den Strich. Aber dann: Ja, dann hat ihn die Romantik eingeholt. In den Ferien stolperte er über genau solch ein Lokal, das Cabana im portugiesischen Moledo do Minho, einem Strandort abseits der Touristenströme. Ein kleines Lokal mit einer mütterlichen Frau, die kein Englisch konnte und super gekocht hat. Und zwischendurch mit ihrer Haube immer wieder rauskam, um zu fragen, ob es auch schmeckt.

„Das ist wahrscheinlich wie mit der Liebe: tausendmal besungen, das totale Klischee, aber wenn man sie dann erlebt, glaubt man wieder dran.“ Er scheint sich nicht ganz sicher zu sein, ob er das als Kapitulation oder Triumph begreifen soll.

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