Elke Heidenreich im Interview: „Au weia, Elke, jetzt reiß dich zusammen!“
Im Bolschoi kamen ihr die Tränen, in China sah sie Leute in der Oper kollabieren: Elke Heidenreich über die Kraft und zornige Schönheit der Musik.
Elke Heidenreich, 72, debütierte 1975 in der Rolle der Comedyfigur Else Stratmann. Später moderierte die Autorin Talkshows und die Sendung „Lesen“ im ZDF. Am 31. Juli wird in der Kammeroper in Schloss Rheinsberg die Oper „Adriana“ uraufgeführt, zu der Elke Heidenreich das Libretto geschrieben hat.
Frau Heidenreich, haben Sie schon mal den Redefluss Ihres Gegenübers mit den Worten gestoppt: „Jetzt quatsch hier mal keine Opern!“?
Nein, diese Formulierung würde ich auch nie benutzen. Weil ich sie furchtbar finde. Sie suggeriert, Opern seien immer zu lang und zu schwülstig.
So sehen das die allermeisten Menschen wohl tatsächlich.
Es stimmt trotzdem nicht. Die Oper ist ein Gefühlskraftwerk. Und ein herrlicher Luxus, in einer Welt, wo alles immer mehr auf billig gemacht wird. Da sitzen 80 Mann im Frack und spielen, es gibt Bühnenbilder, Solisten, einen Chor, es wird unverstärkt gesungen. So was Verrücktes!
Und was bringt’s?
Musik ist das beste Mittel, um unsere inneren Verhärtungen zu lösen. Wir sind alle so tough, unser Leben ist komplett durchgetaktet – da dürfen wir uns ruhig mal zwei, drei Stunden zugestehen, die uns aufweichen. Mit zunehmendem Alter treiben mich Fragen um, wie diese: Habe ich alles falsch gemacht? Kann ich das Ruder noch herumreißen? Welche Verluste kann man überleben? Und dann kommt eine Geschichte und erzählt genau davon, worüber ich gerade grüble. Das tröstet mich. Jeder Leser liest sich selber in jedem Buch, hat Proust gesagt. So ist es auch mit der Musik.
Dennoch hat die Oper den Nimbus des Elitären.
Dadurch entsteht eine falsche Angst. Wir müssen die Oper herunterbringen von diesem hohen Kunstberg, auf dem sie steht. Opern handeln immer von Liebe und Tod, von Krankheit, Trennung und falschen Entscheidungen. Das kennen wir doch alle. Ich bin keine Kurtisane wie La Traviata, dass man jedoch nicht immer den Mann bekommt, den man liebt, dass man verzichten muss, das kann ich verstehen und nachvollziehen.
Früher gab es Opern in deutscher Übersetzung, mittlerweile wird selbst an den kleinsten Häusern alles in der Originalsprache gesungen, sei es Italienisch, Russisch, Französisch oder auch Tschechisch.
Ja, darum gibt es die Übertitel, da kann man den gesamten Text mitlesen. Oft reicht es allerdings, vorher kurz die Inhaltsangabe zu überfliegen, um zu wissen, wer wer ist – über die Musik teilen sich ja dann die Gefühle sowieso mit. Wenn die Leute dem nur vertrauen würden! Und dann ist da noch die Überheblichkeit in der Musikkritik, die zusätzlich abschreckt. Man braucht weder ein Brokatkleid noch Spezialwissen, um Oper genießen zu können. Ich habe einen Freund, der ist Rockmusiker. Irgendwann ist es mir gelungen, ihn in eine Aufführung von Bizets „Carmen“ mitzuschleppen. Er saß da und war fassungslos. Was für ne geile Band!, hat er hinterher gesagt. Seitdem geht er dauernd in die Oper.
Aus dem Fernsehen kennt man Sie als Comedy-Figur Else Stratmann aus Wanne-Eickel und als engagierte Lese-Missionarin. Dass Ihre größte Leidenschaft der klassischen Musik gehört, Sie bei Bertelsmann mit der Edition Heidenreich Musik-Bücher herausgegeben haben, wissen die wenigsten.
Heute ist Musik mein ganzes Glück. Wenn ich gefragt werde, ob ich bei Konzerten moderieren möchte, sage ich: Nee, aber mitmachen! Ich schreibe dann Texte über die Komponisten, erzähle aus ihrem Leben, zeige auch Querverbindungen zur Literatur auf. Ich bin missionarisch unterwegs, will klarmachen, was für ein großes Geschenk Kultur ist.
Wer hat Sie an die Musik herangeführt?
Das war meine Mutter. Sie hat mir die Liebe zur Musik eingepflanzt. Ich komme aus einem Arbeiterhaushalt, regelmäßig in die Oper zu gehen oder ins Konzert war nicht drin. Also hat meine Mutter Radio gehört, stundenlang. Als ich 13 war, kaufte sie mir eine Karte für die „Zauberflöte“. Für ein zweites Ticket reichte das Geld nicht. Sie hat mich abgeholt, und ich musste dann auf dem Heimweg alle Arien vorsingen. Das war in Essen, 1956.
"Klavierunterricht konnten wir uns nicht leisten"
Zum Beruf wollten Sie die Musik nicht machen?
Als meine Mutter schwanger war, hat sie klassische Musik angeschaltet und das Radio auf ihren Bauch gelegt, damit ich musikalisch werde. Ich hätte als Mädchen tatsächlich gerne Klavier gelernt, das konnten wir uns nur nicht leisten. Und, ganz ehrlich, ich hätte wohl auch kaum die Disziplin gehabt, täglich stundenlang zu üben. Als ich später beim SWR Radio machte, wurde ich zur Rockmusik-Spezialistin, weil ich in den Sendungen Platten aufgelegt habe. Gleichzeitig bin ich in Baden-Baden viel in Klassikkonzerte gegangen.
Sie haben also nie selbst musiziert?
Solange meine Stimme gut war, habe ich im Bach-Chor gesungen. Als ich dann gebeten wurde, bei der Kölner Kinderoper mitzuarbeiten, war das eine Offenbarung. Zwölf Jahre war ich dabei, ehrenhalber, mein Honorar bestand darin, dass ich mich überall im Haus bewegen, alle Proben sehen durfte und so weiter. In Köln haben wir es übrigens geschafft, dass Eltern, die zum ersten Mal als Begleitung ihrer Kinder ins Haus kamen, später auch in die Abendvorstellungen gegangen sind.
Sie haben mal erzählt, Ihre größte Freude sei es, ganz allein zu einem Opernabend nach Moskau zu fliegen oder nach Palermo oder New York.
Das hört sich vielleicht etwas großkotzig an: Ich bin tatsächlich jemand, der nicht gerne Urlaub macht. Ich kann es mir nicht vorstellen, 14 Tage im selben Hotel zu sitzen und jeden Morgen meine Liege mit einem Handtuch zu reservieren. Ich bin allerdings gerne unterwegs, reise auf den Spuren von Verdi, Puccini oder Rossini, jedes Jahr nehme ich mir einen anderen Komponisten vor. Und wenn ich eine Lesung im Ausland habe, zum Beispiel auf Einladung des Goethe-Instituts in Moskau, Stockholm oder Kairo, dann hänge ich einen privat bezahlten Tag dran und gehe in die Oper.
Egal, welches Stück läuft?
Absolut. Ich habe bestimmt schon 20 verschiedene „Traviata“-Inszenierungen gesehen und was weiß ich wie viele „Zauberflöten“ und „Freischütze“. Ich gehe in alles, von Händel bis heute. Selbst in kleineren Städten, am Schönsten ist es in der italienischen Provinz.
Kann die Oper die Menschen wirklich über alle Landes- und Mentalitätsgrenzen hinweg ansprechen?
Ich war in China, als zum allerersten Mal Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ in Schanghai aufgeführt wurde, und habe gesehen, wie die Einheimischen reagierten. Draußen standen drei Krankenwagen – die Leute sind zusammengebrochen, ein Mann musste mit Sauerstoff behandelt werden, kam am nächsten Abend wieder und fragte: „Kann die Tür nicht einen Spalt breit offen bleiben, dann könnte ich von draußen zuhören und wäre nicht ganz so erschüttert.“ Es funktioniert also doch noch mit den Emotionen, wenn wir es zulassen. In der Liebe machen wir per SMS Schluss, man glaubt an gar nichts mehr, je älter man wird, desto schwieriger wird es – doch in der Oper blühen die Gefühle noch.
Gehen Sie vor dem Ende der Vorstellung aus dem Theater, wenn Ihnen die Inszenierung missfällt?
Das ist bislang nur zwei Mal passiert. In New York war Verdis „Falstaff“ an der Metropolitan Opera so grauenhaft langweilig, so altmodisch und plüschig ausgestattet, dass ich dachte: Nee, das muss ich jetzt nicht haben. Und in Luzern habe ich am Stadttheater mal eine „Traviata“ gesehen, die unter Wasser spielte: Für jede Arie ging ein Gullideckel auf und dann wieder zu – da bin ich protestierend mitten während der Aufführung geflüchtet.
Dass Besucher Türen knallend den Saal verlassen, gibt es kaum noch. Außerdem wird weniger gebuht.
Heute ertragen die Leute alles. Wir sind bürgerlicher und braver geworden. Oder die Zuschauer denken: Es muss wohl so sein.
Viele Regisseure finden, dass die Auseinandersetzung mit der Welt auch auf der Opernbühne weitergehen muss. Teilen Sie diese Ansicht?
Das klingt mir zu sehr nach: Genießen verboten! Ich habe ein Recht darauf, mich auch einfach nur zu unterhalten, es schön zu finden und glücklich zu sein. Weil ich nämlich neue Kraft tanke, indem ich mein Herz aufmache und eine Geschichte reinlasse. Die dann eine Chance hat, mich zu verändern, weil sie mich anrührt.
Sie sind also kein Fan des heutigen Regietheaters?
Der Regisseur muss mit Liebe bei der Sache sein, darauf kommt es an. Wenn er neue Ideen hat, die mich überzeugen, ist das toll.
Das System Oper lebt seit jeher auch von den Menschen, die den Besuch der Aufführung als Statussymbol verstehen.
Das Publikum, das gesellschaftliche Events sucht, ist nicht das Publikum, das ich mir wünsche. Ich gehe ungern in Premieren, weil man da auf diese Leute trifft. Erst in den späteren Vorstellungen begegnet man denen, die wirklich an den Stücken interessiert sind.
Hören Sie bei sich zu Hause Opern?
Eher selten. Lieber lege ich Klaviermusik auf, Oratorien oder Sinfonisches. Ich gehe jedoch gerne in die Theater, wegen des Live-Erlebnisses.
"Ich will auch berührt werden"
Weil der dunkle Saal ein Schutzraum ist?
Das ist das Geheimnis, genau! Ich sitze da, keiner schaut mich an, keiner sieht meine Emotionen, und dann kommt das „Don Carlos“-Quartett: Jeder singt etwas anderes, jeder singt seine Geschichte, aber wie Verdi das ausdrückt, wie vier verschiedene Charaktere und ihre Gedanken durch die Kraft der Musik zusammenkommen, wie das funktioniert – das ist doch ein Geschenk! Es geht um Schönheit. Womit ich nicht nur Harmonien meine. Es kann auch zornig schön sein. Ein Gedicht, das mich packt, kann ich sofort auswendig, das vergesse ich nie wieder, trage es mit mir herum. Mit der Musik ist es genauso. Ich erlebe oft in der Oper, dass Leute mich beim Schlussapplaus so anschauen, als wollten sie sagen: Haben wir da nicht gerade etwas Schönes erlebt?
Also kommt zum privaten Glücksgefühl noch das Gemeinschaftserlebnis?
Live dabei zu sein, erzeugt eine ganz andere Konzentration, als wenn man eine Opernübertragung im Fernsehen sieht. Wir gehen ja auch wieder ins Kino, obwohl wir alles ebenso gut zu Hause gucken könnten. Als ich in Moskau war, habe ich Modest Mussorgskis „Chowantschtschina“ gesehen. Das ist nun wirklich nicht mein Lieblingsstück, zudem war es eine schreckliche Produktion. Dennoch war ich ergriffen, zum ersten Mal im Leben im berühmten Bolschoi-Theater zu sitzen. Mir liefen plötzlich die Tränen runter. Neben mir saß eine ganz alte Frau, kerzengerade, mit ihrem Plastik-Handtäschchen auf dem Schoß. Die schaute mich streng an von der Seite, und ich dachte schon: Au weia, Elke, jetzt reiß dich zusammen! Da nahm sie wortlos meine Hand und hielt sie eisern fest. Sie hat begriffen, dass mich die Situation rührt, und das wiederum hat sie wohl gerührt.
Sie haben immer wieder von den zeitgenössischen Komponisten gefordert: Schreibt sinnliche Musik, lasst den Rausch zu!
Ich bin bereit, mich vielem auszusetzen, ich will jedoch auch berührt werden. Allzu oft jedoch klingen Uraufführungen nach dem, was Hape Kerkeling als „Hurz“ verarscht hat. Musik ist doch etwas so Soziales, so Emphatisches. Von allen Künsten ist sie diejenige, die unsere Sinne am Unmittelbarsten erreicht. Denken Sie an Paul Potts: Da kommt ein dicker Kerl mit schlechten Zähnen, singt „Nessun dorma“, und alle müssen weinen. Nicht wegen Paul Potts, sondern wegen Puccinis Musik.
Bei der Kammeroper Schloss Rheinsberg kommt am 31. Juli die Uraufführung einer Oper heraus, die Sie zusammen mit dem Komponisten Marc-Aurel Floros kreiert haben. Wollen Sie all den stacheligen Neutönern damit mal so richtig zeigen, wie man es besser machen kann?
Marc-Aurel Floros habe ich in Köln bei der Kinderoper kennengelernt. Ich war für die Bearbeitung der Libretti zuständig, er hat die Partituren für den Rahmen angepasst. Dann bekamen wir den Auftrag zur Kammeroper „Gala, Gala“ im Rahmen der Dali-Ausstellung. Daraus entstand wiederum ein Auftrag fürs Kölner Opernhaus. Doch kurz vor Probenbeginn zu „Adriana“ wurde Marc-Aurel Floros sehr krank, musste für drei Monate ins Krankenhaus. Das war für ihn ein Trauma.
Jetzt hat es im zweiten Anlauf geklappt. Worum geht es in „Adriana“?
Um Menschen von heute. Ich verstehe nicht, warum so viele Komponisten auf antike Themen ausweichen. Verdi hat doch auch nach zeitgenössischen Stoffen gesucht, die „Traviata“ wurde sein größter Erfolg, inspiriert von der damals gerade erst erschienenen „Kameliendame“. In „Adriana“ begegnen sich drei Generationen: Da ist die junge Frau, die sich nicht entscheiden kann, wie und mit wem sie leben will. Da gibt es ein mittleres Paar, das zynisch geworden ist, und ein altes, bei dem alles funktioniert.
Und wie muss man sich die Musik vorstellen?
Marc-Aurel Floros hat einen sehr eigenen Ton, der durch viele Zitate anderer Komponisten geprägt ist, die er liebt, wie Richard Strauss oder Igor Strawinsky. Seine Musiksprache ist verwurzelt mit den Klassikern. Das ruft natürlich die Puristen auf den Plan. Denn bei uns wird ja aus allem immer gleich eine Doktrin. Warum, frage ich, soll er nicht an Vorbilder anknüpfen dürfen? Sehr, sehr oft erzählt die zeitgenössische Musik nur von Drama und Katastrophen. Floros will zeigen, dass sie Liebe, Glück und Schönheit ausdrücken kann. Wenn er arbeitet, ist er wirklich im Schaffensrausch, ein Künstler, so wie ich mir Beethoven vorstelle. Wenn ihm heiß ist, schüttet er sich einen Eimer Wasser über den Kopf und komponiert weiter.
Haben Sie das Libretto ganz traditionell in Versen verfasst?
Nein, ich habe rhythmisch geschrieben. Durch die Arbeit mit der Kölner Kinderoper habe ich gelernt, wie man schreiben muss, damit Worte gesungen werden können. Es sollte ja keine moderne Schreioper werden, die sollen schon vernünftig miteinander reden. Gleichzeitig ist das Libretto auch eine Hommage an die Dichter, die ich mag.
Zum Beispiel?
Mein Text wimmelt von Zitaten, von Walter Benjamin, Hans Henny Jahn, Gottfried Benn, Emile Cioran. Und zwei zeitgenössische Dichter habe ich um Erlaubnis gefragt, zwei Zeilen zu verwenden: „Sähst Du mich mit meinen Augen, Du sähest mich nicht“, lautet die eine, die von Peter Hamm ist. Und die andere geht so: „Aus dem zerbrochenen Porzellan des Lebens haben wir uns einen Becher zusammengeklebt. Wir wagen nicht, daraus zu trinken. Aber das Kleingeld legen wir hinein.“
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