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Zwischen 250.000 und 500.000 Demonstranten, vielleicht auch mehr, versammelten sich vor 30 Jahren auf dem Alexanderplatz.
© picture-alliance/ dpa

Theater der Revolution auf dem Alexanderplatz: Zwei Theaterprojekte würdigen die Riesenkundgebung vom 4. November 1989

Die Demonstration auf dem Alexanderplatz war die größte unabhängige der DDR. Dort und in der Volksbühne wird an sie erinnert.

Je mehr Menschen sich zu einer Großveranstaltung versammeln, desto schwieriger wird es, die Größe dieser Versammlung halbwegs exakt zu bestimmen. „Bis zu einer Million Menschen demonstrierten in Ost-Berlin“, titelte der Tagesspiegel am 5. November 1989, entsprechend den Angaben, die die Agenturen dpa, AP und Reuters zu dem Top-Ereignis des Vortages gemacht hatten. Auf der Website „Chronik der Mauer“, für die die Bundeszentrale für politische Bildung, der Sender Deutschlandradio und das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam verantwortlich zeichnen, geht man dagegen von 250.000 bis 500.000 Teilnehmer aus.

Wie auch immer: Die Demonstration durch die Ost-Berliner Innenstadt mit der Schlusskundgebung auf dem Alexanderplatz war die größte unabhängige Demonstration in der Geschichte der DDR. Mit ihr verlor die Staatsführung endgültig die Initiative des politischen Handelns, ging diese auf die sich in den Straßen versammelnden Massen über. Die durchweg friedliche, über Stunden sich hinziehende Versammlung wurde vom DDR-Fernsehen direkt übertragen. Dabei wurden Transparente gezeigt mit Parolen wie „Volksauge sei wachsam“, „Macht die Volkskammer zum Krenz-Kontrollpunkt“, „Glasnost und nicht Süßmost“ oder auch, unter einer Krenz-Karikatur und frei nach den Brüdern Grimm, „Großmutter, warum hast du so große Zähne?“

Gut zwei Dutzend Redner sprachen auf dem Alexanderplatz zu den Demonstranten, Schriftsteller wie Stefan Heym, Christa Wolf, Christoph Hein oder Heiner Müller, aber auch Vertreter des Staates wie Politbüro-Mitglied Günter Schabowski oder der frühere Geheimdienst-Chef Markus Wolf. Sie hatten Mühe, sich bei Pfiffen und Zwischenrufen Gehör zu verschaffen.

Als Rednerpodest diente ein Lastwagen der Volksbühne

Zu der Großdemonstration hatten Ost-Berliner Kunst- und Kulturschaffende aufgerufen. Die Initiative war von der Volksbühne und dem Deutschen Theater ausgegangen, und als improvisiertes Rednerpodest diente ein Lastwagen der Volksbühne. Es ist daher nur passend, dass ein Bühnendoppelprojekt an die Riesenkundgebung am 4. November vor 30 Jahren erinnern soll. Am Montag wurde es im Gebäude der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, im Roten Salon, vorgestellt.

Die Krenz-Karikatur mit dem Märchenzitat, ersonnen am 4. November 1989, gefiel auch dem Theaterkollektiv Panzerkreuzer Rotkäppchen.
Die Krenz-Karikatur mit dem Märchenzitat, ersonnen am 4. November 1989, gefiel auch dem Theaterkollektiv Panzerkreuzer Rotkäppchen.
©  Promo

Das Gedenkprojekt beginnt da, wo die Geschehnisse 1989 geendet hatten: Auf dem Alexanderplatz. Am späten Nachmittag kehrt dort die Großdemo von damals als „Theater der Revolution“ zurück, dargeboten vom Theaterkollektiv Panzerkreuzer Rotkäppchen (PKRK), das es sich zum Ziel gesetzt hat, „neue Formen, DDR zu erzählen“ zu finden, wie Susann Neuenfeldt, Regisseurin des Projekts, es umschrieb. „Kein Reenactment, kein 1:1-Nachstellen“, also nicht das vermeintlich originalgetreue Spielen des historischen Geschehens, sei geplant, vielmehr eine Wiederbelebung und Aktualisierung, dargeboten von 60 Performerinnen. teils Schauspielerinnen, teils Aktivistinnen.

Zwölf der Reden von damals werden noch einmal zum Material von zwei Stunden auf dem Alexanderplatz, allerdings nicht getreulich Wort für Wort vorgetragen, vielmehr künstlerisch verfremdet, von Musik und Tanz begleitet und kommentiert. Aktuelle Anliegen, sei es jenes, der „Fridays für Future“-Bewegung oder antirassistischer Initiativen, werden mit historischen vermischt, und selbst Versprecher von damals werden zu interpretierbarem Material, um so einen „Gefühlsraum“ zu öffnen, voller Angst, Spaß, Witz, Hoffnung, Glück, einen Gefühlsraum auch „für die Trauer um den Verlust der Aufbruchserfahrung von 1989, für die Sehnsucht nach diesem Freiheitsmoment, der fast alles wollte – außer die Wiedervereinigung“.

Daraus spricht eine gewisse nachträgliche Skepsis gegen die alte Wendeeuphorie, wie sie sich beim zweiten Projekt zum 4. November bereits im Titel andeutet: „Ost-Berlin. Revue einer verpassten Gelegenheit“. Es ist eine Kooperation der Volksbühne mit dem Stadtmuseum, das soeben in der „Ost-Berlin“-Ausstellung im Ephraim-Palais den 50 000 Besucher begrüßen konnte, und dem Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung.

Der dritte Weg - die "verpasste Gelegenheit"

Die „verpasste Gelegenheit“, so erläuterten Regisseur Christian Filips und Marion Brasch, die durch die Revue führen wird, das sei der dritte Weg zwischen bundesdeutschem Kapitalismus und real existierendem Sozialismus, den damals eigentlich alle Redner, selbst Schabowski und Wolf, gewollt hätten und der dann doch verpasst worden sei. Schon Heiner Müller habe die Demonstration kurz danach als verpasste Gelegenheit kritisiert, als lediglich ein „Theater der Befreiung“. Doch auch er selbst habe die Gelegenheit zu einem eigenen Redebeitrag verpasst und stattdessen nur ein Gewerkschaftsflugblatt vorgelesen.

Anfangs wussten die beiden Projekte nichts voneinander, mittlerweile sieht man sich als gute gegenseitige Ergänzung. Während aber die Veranstaltung auf dem Alexanderplatz, nahe der Weltzeituhr, inszeniert und geprobt ist, setzt man in der Volksbühne auf Improvisation und Spontaneität der Beteiligten, das Zusammentreffen ihrer Gedenken und Meinungen zum 4. November und der „verpassten Gelegenheit“. Was am Ende passiert? „Wir wissen es nicht.“

„4-11-89 Theater der Revolution“ beginnt am 4. November, 17.30 Uhr, auf dem Alexanderplatz, der Eintritt ist frei. „Ost-Berlin – Revue einer verpassten Gelegenheit“ folgt um 20 Uhr in der Volksbühne. Derzeit ausverkauft, doch voraussichtlich gibt es später Restkarten.

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