Neurologische Reha nach Schlaganfall: Zurück ins Leben
Nach einem Schlaganfall ist nichts wie zuvor. Um wieder selbstständig zu werden, ist neurologische Rehabilitation von entscheidender Bedeutung. Sie wird in Berlin nur von zwei Kliniken angeboten, eine davon ist der Medical Park Humboldtmühle. Ein Besuch in Tegel.
Auf den ersten Blick sieht das Gerät ulkig aus: vier schwarze Rollen, in die Nils Pfeiffer (Name geändert) seine linke Hand legt, dazu eine Stange, die er mit dem Daumen umgreift. Dann geht’s los: Vier Reiterchen, ebenfalls mit Rollen ausgestattet, ruckeln vor und zurück, massieren seine Finger und das Handgelenk, bringen die Blutzirkulation und also den Stoffwechsel in Gang und drücken überschüssige Lymphflüssigkeit aus dem Gewebe. Das muss doch kribbeln und kitzeln? „Nein“, sagt Nils Pfeiffer, „ich merke fast gar nichts.“ Kein Wunder, denn seine linke Hand ist gelähmt. Als er die rechte, gesunde in das Gerät legt, ist es anders: „Da spüre ich, dass sich etwas auf der Haut bewegt.“ Er gibt knappe Antworten, spricht langsam, so als falle es ihm schwer, die richtigen Worte zu finden. Manchmal blickt er auch nur aus dem Fenster. Der 51-Jährige befindet sich zum Zeitpunkt dieses Gesprächs in der neurologischen Rehabilitation des Medical Parks Humboldtmühle in Tegel. Er hatte einen Schlaganfall.
Dass er Bluthochdruck hatte, war ihm in den vergangenen Jahren durchaus bewusst. Aber er spürte ja nichts, fühlte sich wohl damit. Ist der Blutdruck zu hoch, lebt man gut und kurz, ist er zu niedrig, lebt man schlecht und lang, sagen Mediziner. Also unternahm Nils Pfeiffer nichts dagegen. Bis zu jenem Tag im September 2018, als er im Büro – er arbeitete in der Verwaltung eines Berliner Bezirksamtes – plötzlich merkte, dass etwas nicht stimmte. „Ich habe keine Erinnerung mehr an das, was dann geschah“, sagt er. Seine Kollegen erzählen, er sei nach vorne gekippt. Grund war eine massive Hirnblutung, ein Blutgefäß war geplatzt. „Als Grund für Schlaganfall ist das eher selten“, erklärt Martin Ebinger, Chefarzt der Neurologie in der Humboldtmühle, „Schlaganfälle entstehen häufiger durch das Gegenteil: Ein Gefäß verschließt sich so, dass gerade kein Blut mehr fließen kann.“
Egal auf welche Weise: Ist es einmal passiert, muss sehr schnell gehandelt werden. „Time is brain“, lautet der Grundsatz beim Schlaganfall. Die Kollegen riefen den Notarzt, Nils Pfeiffer wurde mit dem Stroke-Einsatz-Mobil (Stemo) der Feuerwehr transportiert. Entscheidende Vorteile dieses Gefährts: Das CT an Bord erlaubt, mit der Therapie sofort zu beginnen, und die Schlaganfallexperten wissen genau, in welche Klinik sie den Patienten am besten einliefern. In Nils Pfeiffers Fall war es das Virchow Klinikum der Charité. Da sein Hirn stark geschwollen war, musste ein großer Teil der rechten Schädeldecke entfernt werden, damit die Schwellung Platz hatte, sich nach außen auszubreiten. Nach der Akutphase, im November 2018, kam er zur Reha in die Humboldtmühle. Die große Narbe an seiner rechten Kopfhälfte ist noch kaum durch beginnenden Haarwuchs bedeckt.
Die meisten Menschen brauchen Rehabilitation in der Regel nach einem orthopädischen Ereignis – sie haben ein neues Hüftgelenk bekommen oder mussten wegen Arthrose behandelt werden – oder, wie im Fall von Nils Pfeiffer, nach einem neurologischen Ereignis, also Schlaganfall, Multiple Sklerose oder auch Guillain-Barré-Syndrom (GBS, eine Entzündung der Nervenwurzeln). 300 Betten hat der Medical Park Humboldtmühle, er gehört zu einer Gruppe von bundesweit 13 Kliniken und ist neben der Median Klinik in Kladow eine der wenigen Kliniken für stationäre Rehabilitation im Berliner Stadtgebiet. Die anderen sind im Brandenburger Umland angesiedelt. Die Großstadt ahnt man hier in Tegel trotz der guten Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr aber eher, als dass man sie spürt. Die Lage ist ausnehmend schön – wenn es um Rehabilitation geht, keine ganz unwichtige Tatsache.
Das Tegeler Fließ, ein für Berliner Verhältnisse kräftig strömender Bach, mündet direkt unter dem Gelände in den Tegeler See, also in die Havel. Tatsächlich befand sich hier einst eine Mühle, Teile der Klinik sind in denkmalgeschützten Gebäuden untergebracht, ein früherer Kornspeicher ist jetzt Bettenhaus. Nur wenige Gehminuten entfernt liegt in einem Wäldchen das von Karl Friedrich Schinkel entworfene Tegeler Schloss, in dessen Vorgängerbau einst die Brüder Alexander und Wilhelm von Humboldt aufgewachsen sind. Die Lage zieht eine betuchte Klientel an: „Wir haben einen hohen Anteil Privatversicherter“, erklärt Martin Ebinger. Staatsgäste, auch Prinzen aus dem Nahen Osten seien darunter. Dazu passt, dass der Eingangsbereich alles tut, um wie ein Hotel zu wirken, mit Teppichboden, gepolsterten Sesseln und Rezeptionistinnen, die den Schlüssel aushändigen. Dennoch versichert der Chefarzt: „Die Mehrzahl unserer Patienten ist gesetzlich versichert.“
So wie Nils Pfeiffer. Drei Monate ist er jetzt hier in der Humboldtmühle, und er wird wohl noch einen vierten Monat bleiben. Für Rehabilitation ist das eher eine lange Phase. Sein Tag umfasst eine Vielzahl von Therapien. „Grundsätzliches Ziel neurologischer Reha ist es, den Patienten wieder so in sein soziales und berufliches Leben einzugliedern, dass er oder sie den Alltag selbständig bewältigen kann“, sagt Martin Ebinger. Die Therapien gliedern sich grob in vier Bereiche. Physiotherapie zielt auf die Wiederherstellung der grundlegenden körperlichen Funktionen, vor allem Gehen und Laufen. Ergotherapie (von griechisch Ergon, „das Werk“, „die Arbeit“) will die konkreten Interaktionen des Menschen mit der Umwelt verbessern: etwas Greifen, Halten von Besteck oder den selbstständigen Transfer vom Rollstuhl ins Bett. Logotherapie verbessert die Sprach- und Schluckfähigkeit und eine eigens auf die Reha zugeschnittene Psychotherapie soll sicherstellen, dass die Patienten auch rehafähig bleiben – und nicht etwa depressiv werden und nicht mehr an den anderen Therapien teilnehmen können. Außerdem können kognitive Einschränkungen von den Neuropsychologen behandelt werden.
"Wer gehen will, muss gehen"
Das Gerät, das die Finger von Nils Pfeiffer massiert und den tauben Rezeptoren der gelähmten Hand wieder Leben einhauchen soll, heißt Reha-Digit. Es gehört zur Ergotherapie, wie auch sämtliche anderen Geräte in diesem Raum, dem sogenannten Armstudio. An jedem dieser Geräte muss Pfeiffer zehn bis 15 Minuten verbringen. Martin Ebingers Vorgänger als Chefarzt, der 2016 mit nur 56 Jahren an Krebs verstorbene Neurologe Stefan Hesse, hat den Reha-Digit selbst entwickelt – sowie noch weitere Therapiehilfen wie etwa den Gangtrainer GT1, getreu seinem Leitspruch: „Wer gehen will, muss gehen.“
Jetzt wird Pfeiffer vom Ergotherapeuten Dahm an ein anderes Gerät geleitet, die Reha-Slide: Über einem Brett ist eine Stange montiert, die vor und zurück geschoben werden muss, das trainiert den Bizeps. Das Brett ist höhenverstellbar, kann also auch zur schiefen Ebene werden, was eine höhere Schwierigkeitsstufe darstellt. 50 Wiederholungen muss der Patient machen. Da das Gefäß in seiner rechten Hirnhälfte geplatzt ist, ist sein Körper auf der linken Seite gelähmt. Zusätzlich trägt er eine Bandage über seiner linken Schulter. „Sein Arm ist teilweise ausgekugelt“, erklärt Ergotherapeut Dahm. „Durch schrittweisen Muskelaufbau soll sich das von alleine wieder einrenken“. Schließlich muss Pfeiffer noch an ein Gerät namens Bi-Manu-Track. Seine Arme werden festgeschnallt, mit den Händen umklammert er zwei Griffe, die er nach innen und außen drehen muss; die eine Bewegung nennt man Pronation, die andere Supination. Ziel ist der Aufbau der Unterarmmuskulatur.
[Diesen und weitere interessante Artikel rund um psychiatrische und neurologische Themen finden Sie im Gesundheitsratgeber „Tagesspiegel Psyche & Nerven“. Das Magazin kostet 12,80 Euro und ist erhältlich im Tagesspiegel- Shop, www.tagesspiegel.de/shop, Tel. 29021-520, und im Zeitschriftenhandel.]
Ergänzend zur Ergotherapie existieren in der Humboldtmühle viele weiterer Angebote für Reha-Patienten: Laufband, Schlammtherapie mit Fango, Bewegungsbad, Elektrotherapie, Schreibtraining, Tai-Chi, therapeutisches Tanzen – sogar eine Hippotherapie ist in Planung, also eine Reittherapie mit Pferden auf dem benachbarten Reithof. Diätassistentinnen beraten die Patienten bei der Ernährung, etwa im Fall von Diabetes, Über- oder Untergewicht. „Diät wird ja von den meisten Menschen mit weniger essen assoziiert“, so Ebinger, „dabei kann sie umgekehrt auch bedeuten, dass man mehr essen muss, um an Kräften zuzulegen.“ Auf dem Weg zu seinem Büro, das sich in einer 1848 erbauten Backsteinvilla befindet, läuft er jetzt an großen Erdgeschossfenstern vorbei. Patienten trainieren hier an Geräten, wie man sie aus dem Fitnessstudio kennt. „Das ist unsere medizinische Trainingstherapie unter Anleitung ausgebildeter Physiotherapeuten“, erklärt er. Neben der gerätegestützten Physiotherapie, zu der auch der von Stefan Hesse entwickelte Gangtrainer gehört, gibt es auch eine Therapievariante, in der ganz auf Hilfsmittel verzichtet werden kann. „Es ist jedes Mal wieder bewegend zu sehen, wie unsere Patienten zu anderen Menschen werden, sobald sie wieder selbstständig laufen können“, erzählt Ebinger. „Sie blühen regelrecht auf.“
Bis Nils Pfeiffer wieder aufblüht, wird es allerdings noch eine Weile dauern. Wenn alles gut läuft, ist er Ostern wieder zu Hause in seiner Heimatgemeinde im westlichen Berliner Umland. Und vielleicht kann er 2020 auch wieder anfangen zu arbeiten. Vorher aber muss er mit seiner Frau und den beiden Kindern umziehen, in ein barrierefreies Haus. Das wird er nicht alleine stemmen müssen: Ein Sozialdienst, der ebenfalls von Martin Ebinger geleitet wird, unterstützt die Patienten nach der Entlassung. Denn dann stellen sich zahlreiche Fragen: Brauche ich einen Krückstock oder Rollator? Wo bekomme ich den her? Was davon übernimmt die Krankenkasse, was die Pflegeversicherung? Auch bei der Wiedereingliederung ins Berufsleben hilft der Sozialdienst. Er ist eine Brücke zurück ins eigene Leben.