Berliner Naturschutzgebiet: Tegeler Fließ befindet sich in einem desolaten Zustand
Gut gemeint, schlecht gelaufen: Am Tegeler Fließ zeigt sich, was passiert, wenn man einst gepflegte Natur sich selbst überlässt.
Im Norden Berlins, im idyllischen Tal des Tegeler Fließes, kann man seit dem Sommer 2017 eindrucksvoll beobachten, wie eine an sich gut gemeine Umweltpolitik ins Gegenteil umschlägt. Im Laufe der Jahre ist aus dem einstigen Ausflugs- und Erholungsgebiet mit seinen Flussauen und Wanderwegen über weite Strecken eine verstörende Mischung aus treibendem Totholz, umgestürzten oder verfaulenden Bäumen und brackigen Tümpeln geworden. Nach dem verregneten Sommer mussten selbst die Wasserbüffel aus dem Fließtal abgezogen werden, weil es keine halbwegs trockenen Plätze mehr für sie gab.
Das Fließtal ist Landschaftsschutzgebiet, die Politik des Senats ist schon lange darauf ausgerichtet, die Landschaft zu renaturieren, „das Fließ der Natur zurückzugeben“, es sich selbst zu überlassen. Dass in einem Schutzgebiet Flüsse nicht mehr ausgebaggert werden wie noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts, ist weitgehend Konsens.
Schlimme Folgen für die Wasserqualität
Problematisch wird diese Umweltpolitik aber, wenn schon vor fast 200 Jahren angelegte Entwässerungsgräben nicht mehr gepflegt, nicht mehr entkrautet und gereinigt werden und im Fluss selbst umgestürzte Bäume verbleiben. Dann reduziert sich die Fließgeschwindigkeit, wird aus einem Fluss ein stehendes Gewässer mit all den schlimmen Folgen für die Wasserqualität. Anlieger beklagen überschwemmte Grundstücke und vollgelaufene Keller, Bauern können auf durchnässten Wiesen das Gras nicht mehr mähen und müssen teures Futter hinzu kaufen.
In diesem Sommer der Starkregenfälle – bis zum Oktober lagen sie bei 203 Prozent des langjährigen Durchschnitts – und der niedrigen Temperaturen stand das Fließtal teilweise einen Meter hoch unter Wasser. Da beim Ablaufwehr etwa 80 Meter nordöstlich der A 111 der natürliche Abfluss reduziert wird, staut sich das Regenwasser bis zum heutigen Tag. Das müsste nicht sein, denn von dort bis zur Mündung des Fließes in den Tegeler See unterhalb der ehemaligen Humboldtmühle gibt es noch einmal einen Unterschied des Wasserspiegels von knapp 1,30 Meter.
„Verstoffwechselung von Nährstoffen“
Eine mögliche vorübergehende Senkung des Wehrs wird von der Senatsverwaltung für Umwelt unter anderem mit einer Modellrechnung verweigert, wonach der Rückstau an dieser Stelle nur 1000 Meter weit reiche. Dabei wird verschwiegen, dass diese 1000 Meter schon genügen würden, um das halbe Tal wieder trockenzulegen, und dass eine solche Maßnahme natürlich aus rein physikalischen Gründen auch Auswirkungen auf alle weiter Richtung Quellen liegende Gebiete hätte.
An dem Wehr nahe der A 111wird der größte Teil des Fließwassers (in der Regel im Jahresschnitt 80 Prozent) über eine doppelte Leitung zur südlich in Tegel liegenden Oberwasser-Aufbereitungsanlage, der OWA, geleitet und dort vor allem von Phosphat gereinigt. Anschließend wird das saubere Wasser wieder unterhalb des Wehrs dem Bett des Fließes zugeführt. Warum das Fließ deutlich höher verunreinigt ist als selbst der als extrem belastet geltende Nordgraben, der ursprünglich Industrie- und Kläranlagenabwässer transportierte, ist unklar. Experten vermuten eine „Verstoffwechselung von Nährstoffen“. Ob die wiederum durch Überdüngung, Tierhaltung oder gar die biologische Dynamik im Brackwasser ausgelöst wird, weiß niemand. Fest steht aber, dass ein fließendes Fließ für die Wasserqualität besser als ein stehendes Gewässer wäre.
Der Boden kann die Feuchtigkeit nicht mehr aufnehmen
Die Behauptung der Senatsverwaltung für Umwelt auf Anfrage des Tagesspiegels, die „Gewässerunterhaltung wird ordnungsgemäß durchgeführt, der Senatsverwaltung ist eine Vernachlässigung der Gewässerunterhaltung nicht bekannt“, ist allenfalls durch Unkenntnis der örtlichen Gegebenheiten zu erklären. Fotos umgestürzter Bäume im stehenden Gewässer, Äste, Laub beweisen das Gegenteil, so wie die Aussagen der Anlieger.
Natürlich haben die Starkregenfälle des Sommers, die im Norden von Berlin zudem besonders intensiv waren, die Lage verschärft. Der Boden ist nicht mehr in der Lage, die Feuchtigkeit aufzunehmen. Umso wichtiger wäre eine umgehende Reinigung des Flusslaufs, eine Säuberung der Entwässerungsgräben und eine Erhöhung des Ablaufs vor der Mündung des Fließes in den Tegeler See. Technisch möglich ist das jedenfalls.
Ein klarer Konflikt
Der Reinickendorfer Bezirksbürgermeister Frank Balzer, zum Jahresbeginn auf den Sachverhalt angesprochen, teilte dazu mit: „Während das Bezirksamt sich wiederholt dafür eingesetzt hat, den Wasserablauf im Tegeler Fließ zu gewährleisten bzw.. wiederherzustellen, vertritt die Senatsverwaltung die Auffassung, das Fließ möge sich selbst überlassen entwickeln. Hier gibt es einen klaren Konflikt.“ Ausgetragen wird er auf dem Rücken der Anlieger und zu Lasten der Natur.