"Mein altes West-Berlin" von Tanja Dückers: Zeitreise ins Milljöh der Mauerstadt
Eine Kindheit in der Mauerstadt, mit allen möglichen Freiheiten: Tanja Dückers beschreibt ihr "altes West-Berlin" in einem Buch. Ein Spaziergang mit der Autorin.
Ihre Mitschüler fanden Tanja Dückers damals ein wenig ärmlich. Das Walter-Rathenau-Gymnasium liegt in Grunewald, einer der feinsten Villengegenden Berlins, hinten die Koenigsallee, vorn die Hubertusallee, reiche Familien ohne Ende. Und wo wohnte sie? In der Schaperstraße in Wilmersdorf. Heute eine edle, feinbürgerliche Gegend – damals in den Siebzigern auch nicht viel angesehener als Moabit.
Tanja Dückers ist dort aufgewachsen, direkt gegenüber der Freien Volksbühne. Ihre Eltern, beide Kunsthistoriker und gestandene 68er, hatten sich dort für einen heute unvorstellbar günstigen Preis eine sehr große Wohnung gekauft. Sie selbst wurde 1968 geboren – und erinnert sich an spezifische Ängste: „Mein Bruder und ich hatten früher Angst, nachts auf die Toilette zu gehen, weil man dafür so viele Zimmer durchqueren musste“. Aufgeschrieben hat sie dies und eine Vielzahl weiterer Eindrücke und Erinnerungen in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Mein altes West-Berlin“.
Am Fasanenplatz erlebte sie ihre ersten Kinderjahre
Der Anstoß dazu kam von Walter Benjamins Buch „Berliner Kindheit um 1900“, das kein Ost- und West-Berlin kannte, jedenfalls nicht in der heute üblichen Bedeutung, die ja immer die Mauer mittendrin mitdenkt. Dückers tut das natürlich, sie ist ganz und gar ein Kind West-Berlins, auch wenn sie mit ihrer Familie längst in Prenzlauer Berg wohnt. Zum Treffen schlägt sie den Fasanenplatz vor, der Mittelpunkt ihrer ersten Kinderjahre – und trifft auf dem Weg von der U-Bahn, vor der Haustür zufällig erst einmal ihren Vater.
Von dort sind es nur ein paar Schritte bis zum Rattenloch. Das klingt dramatischer, als es gemeint war, dahinter scheint kindliches Erschaudern vor dem Unbekannten auf. Denn das Grundstück an der Ecke Ludwigkirchstraße lag noch brach – kein Gedanke an den eleganten Neubau, der dort heute steht. Noch weiter entfernt ist die Idee, dass Kinder damals, sich selbst überlassen, einfach nur durch die Straßen vagabundierten und eben auch die dunklen Ecken, die Rattenlöcher eben, auskundschafteten. „Dort oben an der Brandmauer stand ,Lummerland ist abgebrannt‘“, erinnert sie sich, es war die Zeit der Spontisprüche.
Sie spielten damals "Polizeistaat gegen RAF"
Und auch die der gesellschaftlichen Umbrüche. Auf der Marmortreppe im Vorderhaus spielten Tanja, ihr Bruder und eine Freundin erst „Vater, Mutter, Kind“, später in aller Antiautoritärer-Kinderladen-Unschuld „Polizeistaat gegen RAF“, sie immer als Christian Klar: „Wir sprangen auf der Straße und vor der Freien Volksbühne herum, die Marmortreppe wurde von Schüssen durchsiebt, wir entkamen knapp auf unseren Fahrrädern, auf denen wir freihändig fuhren, da wir in beiden Händen einen Revolver tragen mussten.“ Später brachte das dunkle Parkdeck der Volksbühne auch andere Eindrücke: Dort hatten sich Obdachlose eingerichtet, denen sie gelegentlich etwas zu essen brachte.
Das edle Literaturhaus in der Fasanenstraße? Damals ein Bordell. Die Spielhalle in der Uhlandstraße, gleich neben dem Cinema Paris? War das „Big Sexyland“, ein speziell für Kinder unergründlicher Sündenpfuhl, aus dem heraus sich unscheinbar sein wollende Männer jeglichen Alters diskret in den Fußgängerstrom einreihten. Tanja und ihre Freundinnen machten sich einen Spaß draus, diese Männer anzuglotzen. Einer allerdings war ihr Physiklehrer, und aus der dauerhaft vergebenen 4 wurde abrupt eine 5.
Der "Zwiebelfisch" - eine verrauchte Welt der Halbdunkelheit
Von hier ist es nicht weit bis zum Savignyplatz, dem Zentrum der West-Berliner Dichter- und Denker-Szene. Sagten ihre Eltern „Wir gehen zum Savignyplatz“, dann verstand sich das nicht nur geografisch, sondern als Distanzierung: „Da gab es ein Leben vor, nach und neben den Kindern, und das klang in ,Savignyplatz‘ an.“ Da gab es die „Dicke Wirtin“ und den „Zwiebelfisch“, eine verrauchte Welt der Halbdunkelheit, die den Kindern verschlossen blieb. Erst mit etwa 18, so erinnert sich Tanja Dückers, begriff sie mehr vom Platz und seiner Geschichte, erfuhr von Hedwig Courths- Mahler, Alfred Flechtheim und Else Ury , und natürlich von George Grosz, über dessen druckgrafisches Werk ihr Vater das Standardwerk geschrieben hatte: „Er erzählte mir das garantiert vor meiner Abi-Zeit, aber ich bin sicher, ich schaltete als Teenager auf Durchzug.“ All das nahm sie erst wirklich zur Kenntnis, als sie schon nach Neukölln gezogen war.
Ihr religiöses Leben endete ernüchtert
Weiter nach Osten, zur Gedächtniskirche. „Das stille, unheimliche Epizentrum der Gegend, in der ich aufgewachsen bin“, nennt sie sie, sagt sie, ein bedrohliches Relikt einer anderen brutaleren Zeit. Sie fürchtete sich vor der Ruine, hielt Abstand, „wie zu einem Grab“. Als das Buch entstand, ahnte sie so wenig wie zum Zeitpunkt unseres Spaziergangs, dass die Kirchenruine zum Schauplatz eines Terroranschlags werden würde. Nachträglich findet sie: „Die Gedächtniskirche bekommt nun noch eine neue, weitere Melancholiefacette.“ Ihr religiöses Leben hatte früh begonnen und endete nicht viel später in Ernüchterung. Die Mutter evangelisch, der Vater katholisch – das lief auf Firmungsunterricht in der St.-Ludwig-Kirche hinaus, wo Pfarrer Fahlbusch, später auf „Katastrophalbusch“ umgetauft, vollkommen uninspirierte Gottesdienste gehalten habe, „weltfern, formel- und greisenhaft, er berührte unsere Lebenswelten nicht im Entferntesten“. Den Abbruch löste allerdings ein junger anbiedernder Kaplan aus, der ein anderes Mädchen allzu sehr berührte. Auch das katholische Franziskus-Krankenhaus warb nicht sehr für die lindernde Kraft des Glaubens: Als die zehnjährige Tanja unter Schmerzen auf ihre Blinddarm-Operation wartete und fragte, ob sie die denn überleben werde, antwortete die Nonne am Bett lakonisch: Das wisse nur Gott allein.
Die Cecilienschule war dunkel, grau, beängstigend
Eltern, die ein Leben auch ohne Kinder führten und sich generell nicht allzu sehr sorgten – das scheint Tanja Dückers heute fast ein wenig exotisch. Sie erinnert sich, dass sie auf dem Weg zur Cecilienschule, mit knapp sechs, vier Straßen zu überqueren hatte, darunter den belebten, breiten Hohenzollerndamm, und niemandem fiel es ein, sich deshalb Kopfschmerzen zu machen. Die Schule selbst kam ihr dunkel, grau und alt vor, geradezu beängstigend, einschüchternd: Heute wundert sie sich, dass sie in ihrer Schulzeit nie etwas erfuhr vom dunkelsten Kapitel in der Geschichte des Baus: Dort wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht nach ihrer Festnahme 1919 einen Tag gefangen gehalten, bevor man sie auf dem Weg ins Gefängnis ermordete.
Auch das ewige Trauma der Berliner wird gestreift
Das Buch erinnert beiläufig an viele solcher historischen Episoden, bleibt aber doch generell dicht an den unmittelbaren Erinnerungen der Autorin. Zu denen natürlich auch das ewige Trauma des West-Berliners gehört, die Grenze mit ihren vielfältigen Ereignissen zwischen düster und komisch, die Geisterbahnhöfe der U-Bahn, das endlose Zuckeln mit dem Auto durch die graue DDR, die Fülle von Erinnerungen, die sich allein hinter Ortsnamen wie „Dreilinden“ oder „Helmstedt“ verbirgt. Und dann waren da natürlich auch die unter Schaudern anreisenden Verwandten, die sich in einer sterbenden Stadt wähnten und die ewige Frage stellten, wie man es denn überhaupt darin aushalten könne.
Viele, wohl eher die meisten Relikte dieser eigenartigen Halbstadt sind längst verloren, angewiesen darauf, dass sich eine kundige Autorin auf sie besinnt. Die Verkehrskanzel an der Ecke Joachimsthaler Straße/Kurfürstendamm gehört sicher nicht dazu: Sie ist da nun mal, aus der Zeit gefallen, aber im kollektiven Gedächtnis der Stadt verankert. Ein guter Ort für ein Erinnerungsfoto.
Tanja Dückers, Mein altes West-Berlin, be.bra-Verlag, 144 Seiten, 10 Euro, erhältlich im Tagesspiegel-Shop und online unter der Adresse www.tagesspiegel.de/Shop