Coronavirus-Krise in Berlin: Zeit für behutsame Experimente – aber nicht für Leichtsinn
Das Coronavirus greift nicht nur die Lunge an, sondern auch die Seele. Der Senat muss jetzt genau abwägen, welche Lockerungen möglich sind. Ein Kommentar.
Wer im dichten Nebel unterwegs ist, sollte langsam fahren. Auch in Berlin, wo man gern Vollgas gibt, zumindest verbal. Aber in diesen Wochen ist es eindeutig gesünder, sich behutsam vorzutasten. Obwohl die Sehnsucht wächst, bei den Politikern wie den Bürgern, an das frühere Leben anzuknüpfen, damit Corona endlich in dunkler Erinnerung versinkt: Wisst ihr noch?
Das macht Druck und erschwert die Bemühungen der Bundes- und Landespolitiker, sich nur Schritt für Schritt vorzukämpfen. Weil es keinen zweifelsfreien Masterplan gibt, mit dem sie die Pandemie souverän bezwingen können. Auch der Berliner Senat wird weiter behutsam experimentieren müssen, um zu große Kollateralschäden zu vermeiden. Die Verantwortung ist groß. Es muss abgewogen werden zwischen den unterschiedlichsten Nöten und Bedürfnissen, die sich immer drängender artikulieren.
Damit war zu rechnen. Denn Covid-19 greift auch in der Hauptstadt nicht nur die Lunge an. Vor allem in den Familien mit kleinen Kindern liegen die Nerven blank. Von Tag zu Tag wird die Wohnung gefühlt enger, viele Eltern sind in Kurzarbeit oder müssen mit der Arbeit aussetzen, weil die Betreuung fehlt.
So gesehen ist die Frage, ob Abitur- und MSA-Prüfungen schon ab nächster Woche stattfinden sollen, eher zweitrangig. Bis zur Senatssitzung am Dienstag muss geklärt werden, wie der Grundschulbetrieb allmählich wieder beginnen kann und ob sich für eine epidemiologisch vertretbare Kitabetreuung ein Weg finden lässt. Das ist die dringendste soziale Frage.
Was Berlin ausmacht, muss jetzt verzichtbar sein
Produktiv streiten sollte sich Rot-Rot-Grün auch über die Wiederbeatmung des Einzelhandels, der in Berlin eine viel größere Rolle spielt als in den meisten anderen deutschen Großstädten. Die willkürliche 800-Quadratmeter-Regelung sollte der Senat, soweit es die föderale Solidarität zulässt, maximal großzügig auslegen. Was spricht dagegen, unter Einhaltung der eingeübten Standards (Hygiene und Mindestabstand) möglichst vielen Ladenbesitzern wieder die Gewerbefreiheit zu schenken? Das wäre besser als jeder öffentliche Zuschuss und stärkt das seelische Wohlbefinden der Verkäufer und der Kunden.
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Ein freiwilliger Mundschutz, den der Regierende Bürgermeister Michael Müller außerhalb von Kliniken empfiehlt, klingt angesichts des fast schon philosophisch geführten Diskurses über die medizinische Wirkung selbst genähter Tücher akzeptabel. Flächendeckend kontrollieren ließe sich die Schutzpflicht in einer Stadt wie Berlin ohnehin nicht. Trotzdem hilft das kleine Accessoire, die eigenen Keime nicht auf andere Menschen zu übertragen. Nutzen Sie den Mundschutz, wo er helfen könnte. Als guter Nachbar!
Was Berlin ausmacht, im erwachenden Frühjahr: Die Straßencafés und Biergärten, die abends vor Lebensfreude überschäumenden Kneipen, Restaurants und Klubs – darauf werden wir noch Wochen, wenn nicht Monate verzichten müssen. Selbst ein Schmalspurbetrieb mit 1,50 Meter zwischen den Tischen und Menschen wird das quirlig-lebhafte Flair dieser Stadt nicht ersetzen können.
Die Pandemie nimmt auf schlechte Laune keine Rücksicht
Das ist bitter, es kratzt an der Seele, aber es kratzt nicht im Hals. Und deshalb darf der Senat bei diesem Thema nicht leichtsinnig werden. Trotz der wachsenden Erwartungen vor allem junger Menschen, denen es inzwischen mächtig stinkt, mit dem Sixpack in der Hand artig in Zweierreihe durch die Parks zu schlendern. Es sollte vorerst bei der geltenden Ausgeh-Regel bleiben, denn die Mathematik der Pandemie nimmt auf schlechte Laune nun mal keine Rücksicht.
Wie lange die strengen Restriktionen noch freiwillig funktionieren, werden wir vielleicht schon am 1. Mai testen können. Es könnte durchaus sein, dass sich an diesem Tag der angestaute Widerwille gegen das Corona-Pflichtprogramm erstmals Bahn brechen könnte. Welch hohen Wert das Demonstrationsrecht hat, wurde vom Bundesverfassungsgericht gerade bestätigt. Hoffen wir, dass der Berliner Senat auch das im Auge behält.
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