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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (r) mit Roland Jahn, Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen.
© Wolfgang Kumm/dpa
Update

Steinmeier besucht ehemalige Stasi-Zentrale: Wo Menschen heute noch in Tränen ausbrechen

Einsicht in die Akten: Vor 30 Jahren stürmten aufgebrachte Bürger die Stasi-Zentrale in Lichtenberg. Bundespräsident Steinmeier war heute zu Gast.

Roland Jahn steht auf dem Hof und breitet die Arme aus. „Das hier ist der Ort, den wir den jungen Menschen zeigen müssen“, sagt der Mann mit den kurzen weißen Haaren und lächelt verschmitzt. „Hier findet sich alles, was ostdeutsche Geschichte ausmacht: die Repression.“

Seine Hand zeigt auf das Gebäude in der Mitte, das noch so grau ist wie früher der gesamte Ostteil Berlins. Dort, im zweiten Stock, saß einst der Chef der DDR-Geheimpolizei an seinem holzvertäfelten Schreibtisch und befahl die Unterdrückung jeder freien Stimme eines ganzen Landes.

„Aber hier ist auch der Ort der Revolution.“ Die Hand des Mannes wandert weiter zum nächsten Gebäude auf dem weitläufigen Gelände in Berlin-Lichtenberg. Hier stürmten vor 30 Jahren wütende, mutige Ostdeutsche durch die Tore, warfen Papiere durchs Treppenhaus und schrieben mit Farbe an die Wände: „Wo ist meine Akte?“

Die verhasste Staatssicherheit, damals „Schild und Schwert“ der Staatspartei SED, wurde besetzt und friedlich zerschlagen, ihre geheim gesammelten Unterlagen bewahrt. Sie erzählen, wie Diktatur funktioniert – und wie sich Menschen unter Druck verhalten, im Guten wie im Schlechten, Schwarz auf Weiß mit vielen Schattierungen. Und sie hinterlassen für die Zukunft die Frage: Was habe ich damals getan? Oder zumindest: Was hätte ich getan?

Lesen Sie hier alles zur Erstürmung der Stasi-Zentrale

Roland Jahn breitet die Arme aus. „Und hier ist auch die Aufklärung zu Hause.“ Sein Finger wandert rüber auf ein Haus an der Ecke – dort leuchtet ein Schild in der Mittwochssonne: „Stasi-Unterlagen-Archiv“. Hier lagern die Akten, die das Volk vor der Vernichtung gesichert hatte (was nicht bei allen gelang) und die jeder auf Antrag einsehen kann. Die Einsicht für eine freie Gesellschaft zu fördern, indem man Einsicht in die Vergangenheit nimmt – das war immer das Ziel des Mannes auf dem Hof und seiner Mitstreiter.

Roland Jahn war beim Sturm der Zentrale der geheimen Macht vor 30 Jahren dabei. „Es war ein erhebendes Gefühl, hier reinzukommen und unseren Unterdrückern ihren Platz zu nehmen.“ Jahn war am 15. Januar 1990 als Journalist dabei, als Oppositioneller war er zuvor gegen seinen Willen aus der DDR ausgebürgert worden.

Er veröffentlichte dann heimlich aufgenommene Filmaufnahmen der Montagsdemos in Leipzig beim West-Berliner SFB, so dass alle Ostdeutschen trotz Zensur sehen konnten, was in ihrem Land wirklich los ist. Heute ist Jahn Bundesbeauftragter für Stasi-Unterlagen, er hütet die eroberten Akten, lässt sie archivieren und muss sie für die Zukunft sichern. Das ist sein gesetzlicher Auftrag. Gleich kommt der Bundespräsident.

Steinmeier erhält eine Führung durch das Gelände

Das Gelände ist weitläufig. In den Häusern scheint die Zeit stehengeblieben oder kaum vorangekommen. Der Putz bröckelt und atmet die Geschichte aus. Hier stecken noch die Karteikarten mit den Namen der Zehntausenden Inoffiziellen Mitarbeitern, welche – zum Teil auf Druck, zum Teil freiwillig – ihre Nachbarn, Freunde, manchmal gar ihre Ehepartner ausspioniert und an den Staat verraten haben.

„Wir müssen die Auseinandersetzung mit dem SED-Regime und seinen Erblasten offen halten“, sagt Steinmeier, als er aus seinem Wagen gestiegen ist, der auf den holprigen Hof gefahren ist. „Nur so können wir uns selbst im Heute verstehen.“ Er erhält eine kleine Führung durch das 180.000 Quadratmeter große Gelände, auf dem es schon eine Freiluftausstellung gibt und das irgendwann zu einem „Campus der Demokratie“ ausgebaut werden soll.

Frank-Walter Steinmeier schaut sich die Ausstellung vor der einstigen Stasi-Zentrale an.
Frank-Walter Steinmeier schaut sich die Ausstellung vor der einstigen Stasi-Zentrale an.
© John MACDOUGALL / AFP

Aber dafür müssten viele Gebäude erst einmal behutsam saniert werden – die Eigentumsverhältnisse auf dem ganzen Komplex sind komplex. Die Politik im Bund und in Berlin unterstützt den Plan zwar, es gibt schon eine Bürgerbeteiligung und auch Aufarbeitungsvereine, die hier tätig das Stasi-Museum betreiben und Führungen anbieten. Aber viele Gebäude machen derzeit den Eindruck, als sollten für einen lebendigen Campus noch einmal drei Jahrzehnte vergehen.

Drinnen aber sind die Dokumente der Unterdrückung und auch des Widerstandes noch gut erhalten. 111 Aktenkilometer sind die Unterlagen lang, fast die Hälfte davon findet sich in Berlin. Sortiert wurde alles auf 41 Millionen Karteikarten. Ali Catal arbeitet seit mehr als zehn Jahren schon hier als Karteirechercheur.

Hinter jeder Akte stehen schmerzhafte Schicksale

Wenn Menschen ihre Akten sehen wollen, um zu erfahren wer sie bespitzelt und drangsaliert hat, dann landen die Anträge bei ihm. Der 40-Jährige sucht nach den Unterlagen – „und dann finde ich manchmal Briefe von zerrissenen Familien, wo Kinder verzweifelt an ihre Eltern scheiben, von denen sie getrennt worden sind. Diese Briefe hat die Stasi abgefangen.“

Hinter jeder Akte stehen Menschen und manchmal schmerzhafte Schicksale. Die Akten erzählen viel, auch die Wahrheit, dass es in einer Diktatur nicht nur eine Wahrheit gab, „dass einer Täter und Opfer zugleich sein kann“, wie Steinmeier sagt. Genau deshalb will Steinmeier die Behörde, die seit 1990 mehr als sieben Millionen Anträge auf Akteneinsicht bearbeitet hat, auch mit seinem Besuch am historischen Ort an einem historischen Tag beehren. „Sie hat wie keine zweite Institution zur Aufarbeitung unserer jüngeren Geschichte beigetragen.“

Wie vielschichtig diese Geschichte ist, wird deutlich, als die Menschen erzählen, die damals in diesem untergegangenen Land gelebt haben. Angela Marquardt ist gekommen, die Politikerin mit Punkfrisur. Sie ist in einer regimetreuen Familie in Greifswald aufgewachsen, ihre Mutter war IM, also Inoffizielle Mitarbeiterin, Spitzel. Der Stiefvater auch, ebenso der Opa. Im Haus der Familie fanden regelmäßig Treffen statt von Männern, die ihr zu väterlichen Freunden wurden, die sie aber auf der Straße nicht offen grüßen durfte.

Angela Marquart muss weinen

Marquardt, lange Politikerin der Linken, inzwischen der SPD, erinnert sich: „Ich sollte schon als Schülerin an die Stasi gebunden werden. Die hatten einen Plan für mich, eine vorgefertigte Biografie: Ich sollte die Kirche in Greifswald ausspionieren.“ Sie sei schon als Kind darauf vorbereitet worden, Denunziantin zu werden und sie frage sich bis heute, wie lange sie das mitgemacht hätte, wenn nicht die Mauer und die Stasi gefallen wären. „Ich bin so dankbar, dass es zum Glück andere Leute gab, die nicht an all das glaubten“, sagt Marquardt und muss weinen. Die Vergangenheit, sie vergeht nicht einfach so.

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So geht es auch den Opfern, die zuweilen bis heute unter der Zerstörung ihrer Familien und Freundeskreise oder den Folgen eigener Haft leiden. Nicht nur für sie sind die Stasi-Akten ein Symbol, dass die Geheimpolizei am Ende besiegt werden konnte. „Ich wollte Seefahrer werden, war dafür aber politisch zu unzuverlässig“, erzählt etwa Uwe Schwabe. Später saß er im Gefängnis und empfand die Eroberung der Akten als Befreiung. Denn darin finden sich auch viele Geschichten des Widerstehens.

„Es ist schön zu wissen, dass wir heute frei sind.“

„Ich habe mir eine Tonbandaufnahme angehört, wie ein Freund von mir verhört worden war. Da hat der Vernehmer gefragt: ‚Kennen Sie Rainer Müller?‘ Daraufhin hat der Mann zehn Minuten geschwiegen, ich dachte schon das Tonband ist kaputt.“ Irgendwann habe der Verhörte, dem bei fehlender Kooperation mehrere Jahre Haft drohten, dann doch geantwortet. „Er hat gesagt: ‚Wissen Sie, wenn man mit jemandem in einer Wohnung zusammenwohnt, dann läuft man sich schon mal über den Weg.‘“

Der 15. Januar 1990 in Lichtenberg: Mehrere zehntausend Demonstranten stürmen die Zentrale des Amtes für Nationale Sicherheit.
Der 15. Januar 1990 in Lichtenberg: Mehrere zehntausend Demonstranten stürmen die Zentrale des Amtes für Nationale Sicherheit.
© Wolfgang Kumm/dpa

Kleiner Mut konnte in der DDR große, harte, dauerhafte Folgen haben. Irgendwann haben aber immer mehr Menschen den großen Mut gefunden, ihre Angst zu überwinden – sie gingen für die Freiheit auf die Straße, rissen die Mauer ein und besetzten die Zentralen der Macht. „Wie viel Mut gehörte zu diesem friedlichen Sturm auf die Bastionen der Repression“, sagt Steinmeier. Ein paar Schüler aus Zehlendorf sind auch eingeladen. Eine von ihnen sagt: „Es ist schön zu wissen, dass wir heute frei sind.“

Viele Akten warten noch auf ihre Zusammensetzung

Dass die Akten offen stehen, ist ein Vermächtnis dieses Mutes. Die Bundesregierung war im Zuge der deutschen Einheit eigentlich dagegen, sie fürchtete Racheakte der Opfer und womöglich auch manche Enthüllung über die Westkontakte der Stasi. Die Bürgerrechtler erkämpften sich das Gedächtnis der Diktatur und retteten es vor dem Vergessen.

Die Akten sollen nächstes Jahr ins Bundesarchiv überführt werden; unter dieser Obhut sollen sie modern archiviert und gelagert und womöglich auch digitalisiert werden. Viele in der Umbruchzeit noch schnell von den Tätern zerrissenen Akten warten noch in 15.000 Säcken auf ihre Zusammensetzung.

Roland Jahn wird der letzte Akten-Beauftragte sein. Seine Vorgänger Joachim Gauck und Marianne Birthler haben nach ihren Amtszeiten noch viele Aufgaben für die Aufarbeitung und öffentlichen Ämter übernommen, Gauck wurde sogar Steinmeiers Vorgänger als Bundespräsident. Roland Jahn dagegen will in zwei Jahren in Rente und auf Weltreise gehen. Denn die Welt zu sehen – auch das war ein Traum der Ostdeutschen, der sich erfüllt hat.

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