Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Wo Hochstapler Helden sind
96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 45: Köpenick.
Der Hauptmann stand in einem Meer aus Blüten. Jedes Mal, wenn ein frisch verheiratetes Brautpaar das Rathaus verließ, regneten neue Rosen- und Tulpenblätter auf den Bronzeoffizier vor der Eingangstreppe. Ich sah zu, wie eine Hochzeitsgesellschaft nach der anderen neben der Statue stehen blieb, um sich mit dem berühmtesten Köpenicker aller Zeiten fotografieren zu lassen.
Friedrich Wilhelm Voigt hieß der Schuhmacher, der sich 1906 mit einer Hauptmannsuniform aus Trödelbeständen den Gehorsam der halben Stadt ertrickste. Von der Straße weg rekrutierte er einen Trupp Soldaten und dirigierte ihn zum Rathaus Köpenick, wo er den Bürgermeister verhaften und sich alle Geldbestände aushändigen ließ. Niemand kam auf die Idee, ihn aufzuhalten. Als der Hochstapler wenige Tage später gefasst wurde, lachte bereits die halbe Welt über die uniformgläubigen Preußen. „Kein Volk der Erde macht uns das nach“, soll Kaiser Wilhelm II. gesagt haben, als ihm von der „Köpenickiade“ berichtet wurde.
Als Makler hätte der Hauptmann heute Potenzial
Während ich durch Berlins größten Ortsteil lief, versuchte ich mir vorzustellen, was ein Mensch vom Schlage Voigts hier heute alles anstellen könnte. Im Schiedsrichteroutfit könnte er in der Alten Försterei auftauchen und dem 1. FC Union in einem verloren geglaubten Spiel den Sieg herbeipfeifen. Er könnte als Makler posieren und die reichen Wassersportliebhaber foppen, die es auf der Suche nach ufernahen Baugrundstücken nach Köpenick zieht.
Mit einem Umzugswagen könnte er vor dem Köpenicker Schloss vorfahren und dem verdutzten Personal erklären, dass er die Möbel des Regierenden Bürgermeisters vorbeibringe – schließlich sei Köpenick (urkundliche Ersterwähnung: 1209) älter als Berlin (1244), weshalb das Stadtoberhaupt ab jetzt hier residiere.
Am Ende meiner persönlichen Köpenick-Tour landete ich in der „Gardestube“, einer kleinen Kneipe hinter dem Rathaus. Das Grammofon spielte eine kratzige Schellackplatte: „Am Sonntag geh’n wir beide aus, und abends bring’ ich dich nach Haus, wie’s weitergeht, verrat’ ich nicht, darüber, Liebling, spricht man nicht ...“
Die Idee: eine persönliche Köpenickiade
Eine Schaufensterpuppe in Hauptmannsuniform lehnte an der Wand. Am Tisch daneben saß eine alte Dame, die mir einen Stuhl anbot. Gemeinsam aßen wir Grünkohl mit Pinkel und redeten über das Leben in Köpenick, wo die Dame seit ihrer Geburt vor mehr als 80 Jahren lebt. Zu DDR-Zeiten war sie Bibliothekarin in der Betriebsbücherei des riesigen Narva-Glühlampenkombinats an der Warschauer Straße gewesen. Als das Werk nach der Wende abgewickelt wurde, hatte sie keine Arbeit mehr gefunden. Es schmerzt sie bis heute.
Plötzlich wusste ich, wie meine persönliche Köpenickiade aussehen würde. In Schwarz gekleidet und mit einem Ring im linken Ohr würde ich meine Köpenicker Freundin ins Direktionsbüro der Staatsbibliothek Unter den Linden schleifen. „Schönen guten Tag“, würde ich der Wessi-Chefin ins Gesicht rufen, „Lederer, Kultursenator! Darf ich Ihnen Ihre Nachfolgerin vorstellen? Neue Diversitäts-Leitlinie, Sie wissen schon: Verjüngung durch Reife. Ach was, noch nicht zu Ihnen durchgedrungen? Halb so wild, für Sie haben wir auch was Schönes – das Jobcenter Köpenick hat eine Hausbibliothek, da sind Sie ab morgen der Boss!“
Fläche: 34,9 km² (Platz 1 von 96)
Einwohner: 63 778 (Platz 17 von 96)
Durchschnittsalter: 47,0 (ganz Berlin: 42,7)
Lokalpromis: Friedrich Wilhelm Voigt (Hochstapler), Romano (Musiker)
Gefühlte Mitte: Rathaus
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