Zwischen "Charlie Hebdo" und Hasskommentaren: Wo endet die Meinungsfreiheit?
Meinungen können schmerzen, Polemik kann Gefühle verletzen - das muss eine freiheitliche Gesellschaft aushalten. Über Journalismus in Zeiten von Pegida und Facebook.
Der Kerl ist bereits „für Nürnberg 2.0 vorgemerkt“, ein „Islam-Schleimbeutel“, einer der „größten Vollpfosten“, ein „Antisemit“, ein „Fetzenschädel“, ein „politisch korrekter Dummschwätzer“, er verfasst „geistige Ejakulate“, gehört „der CIA, dem Mossad, Scientology oder einer anderen Truppe an“. Das sind einige der Bezeichnungen, die im Internet über den Verfasser dieses Artikels kursieren. Kaum einer, der sich öffentlich äußert, ist vor Beschimpfungen solcher Art gefeit. Das verstört.
Einige fordern daher einen Klarnamenzwang, andere fragen „Woher kommt der Hass?“, wieder andere rufen nach einer Art Facebook-Polizei. Selbst der Chefredakteur des französischen Satiremagazins „Charlie Hebdo“ orakelt: „Vielleicht werden wir eines Tages feststellen, dass der Preis zu hoch ist, den wir für die Freiheit im Internet zahlen.“
Wie bitte? Ausgerechnet der Vertreter des Magazins, das wie kein zweites weltweit für eine möglichst weite Auslegung des Rechts auf Meinungsfreiheit streitet, zweifelt am Wert dieser Freiheit? Das hat etwas Symptomatisches. Denn sobald sich jemand selbst verletzt fühlt, tendiert er dazu, das Recht auf Meinungsfreiheit einschränken zu wollen.
Diesem Reflex unterliegen Individuen ebenso wie Gruppen und Staaten. In Deutschland ist die Leugnung des Holocaust verboten, in Argentinien die Leugnung der von der Militärjunta begangenen Verbrechen, Frankreich verbietet die Leugnung des Genozids an den Armeniern, in der Türkei gilt das Gegenteil, außerdem wird dort die Beleidigung Atatürks geahndet.
Freiheit der Meinung und des Glaubens machen den Westen aus
In Polen, Tschechien und Ungarn wiederum dürfen neben dem Holocaust auch die kommunistischen Verbrechen nicht bestritten werden. In Tschechien heißt der entsprechende Paragraf: Wer den nationalsozialistischen oder kommunistischen Genozid öffentlich verneint, in Zweifel zieht, billigt oder zu rechtfertigen sucht oder andere Verbrechen der Nazis oder Kommunisten, wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft. In Deutschland hat eine solche Parallelisierung von Kommunismus und Nationalsozialismus einst einen Historikerstreit entfacht. Auch global gesehen führt die Einschränkung der Meinungsfreiheit zu einer Reihe von Absurditäten.
Für Papst Franziskus wiederum wird die Meinungsfreiheit dann begrenzt, wenn sie religiöse Gefühle verletzt. „Viele Menschen ziehen über Religionen her, das kann passieren, hat aber Grenzen. Jede Religion hat eine Würde, und man kann sich darüber nicht lustig machen“, sagte der Papst mit Blick auf die Terroranschläge auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“. Ähnlich formulierte es der Medienbischof der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Gebhard Fürst: „Man kann auch durch Bilder und Worte töten. Wo jemand mit voller Absicht, mit Spaß und Zynismus das zu verstören versucht, was Menschen am heiligsten ist, ist die Grenze überschritten.“
Dabei wurden beide, die Meinungs- wie die Religionsfreiheit, in Kriegen und Revolutionen erbittert erkämpft. Sie sind konstitutiv für die Wertegemeinschaft, die man gemeinhin den „Westen“ nennt. Jeder hat das Recht auf freie Meinungsäußerung, heißt es in Artikel 19 der UN-Menschenrechtscharta. „Dieses Recht umfasst die Freiheit, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.“ Das ist klar und deutlich.
Wenn wir Bürger hätten, die tatsächlich wieder miteinander kommunizierten (denken-senden- empfangen- denken- senden - empfangen... frei nach Watzlawick), dann könnten wir eine allumfassende Meinungsfreiheit zulassen und würden davon nur profitieren.
schreibt NutzerIn 13ryce
In Artikel 18 steht: „Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder seine Weltanschauung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder seine Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen.“
Es geht nicht um Ehre der Religion, sondern Freiheit der Gläubigen
Was so edel klingt, hat es in der Praxis schwer. Nicht selten werden beide Freiheiten gegeneinander in Stellung gebracht. Wer für Verschleierungs-, Moscheebau- und Beschneidungsverbote wirbt, beruft sich zwar gern auf die Meinungsfreiheit, schätzt aber die Religionsfreiheit oft gering. Wer öffentliche Auftritte von Thilo Sarrazin, Frauke Petry oder Alexander Gauland stört, beschränkt deren Meinungsfreiheit, inszeniert sich aber gern als Verteidiger von Multikulti und Religionsfreiheit.
Dabei sind beide Freiheiten eng miteinander verwandt. Der weit verbreitete Eindruck, die Meinungsfreiheit sei ein urliberales Recht, die Religionsfreiheit eher ein Recht der Schonung, ist falsch. „Da wird missverstanden, dass Religionsfreiheit im Kern derselben freiheitlichen Logik folgt wie Meinungsfreiheit“, sagt Heiner Bielefeldt, der UN-Sonderberichterstatter für Religionsfreiheit. Es gehe eben nicht um den Schutz religiöser Gefühle oder gar um die Ehre der Religion, sondern um Menschen und ihre Freiheit, in Religionsfragen so zu leben, wie es ihren Überzeugungen entspricht.
Meinungen können wehtun. Muslime fühlen sich durch Mohammed-Karikaturen wahrscheinlich ebenso verletzt wie all jene in Deutschland, die den Facebook-Eintrag des 26-Jährigen aus Berlin-Hellersdorf gelesen hatten, der das Bild des ertrunkenen Flüchtlingskindes mit dem Satz kommentierte: „Wir trauern nicht, sondern feiern es.“
Zynisch, abstoßend, widerlich, menschenverachtend: Muss man so etwas nicht verbieten? Die Frage liegt nahe. Aber wie können die tapferen Streiter für die Meinungsfreiheit so etwas fordern, gleichzeitig „Je suis Charlie“ skandieren und vehement das Recht der Karikaturisten verteidigen, durch Spott und Satire die tiefsten Gefühle von gläubigen Muslimen zu verletzen? Und hat sich nicht einst selbst Angela Merkel über den Tod eines Menschen gefreut – als US-Einheiten Al-Qaida-Chef Osama bin Laden aufspürten und erschossen?
Nein, im Namen der Freiheit muss der Schmerz, den Meinungen oft erzeugen, ausgehalten werden. In Deutschland etwa sind Beleidigungen und Volksverhetzung strafbar, nicht aber rassistische und fremdenfeindliche Äußerungen generell. Im Jahr 2011 urteilte das Bundesverfassungsgericht: „Meinungen fallen stets in den Schutzbereich von Artikel 5, Absatz 1, Satz 1 GG, ohne dass es dabei darauf ankäme, ob sie sich als wahr oder unwahr erweisen, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational sind, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden. Dementsprechend fällt selbst die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts nicht von vornherein aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit heraus.“
Wir sollten alles kritisieren und bezweifeln dürfen
Ob „Charlie Hebdo“, Facebook-Kommentare oder Pegida: Das Recht auf Meinungsfreiheit sollte stets umfangreich, der Schutz der freien Rede umfassend sein. Wir sollten möglichst alles kritisieren, infrage stellen, bezweifeln dürfen. Das umfasst Karikaturen, Spott, Satire, Zuspitzung, Polemik.
Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 lautete der Vorsatz, im Kampf gegen den Terror unsere Freiheiten nicht zu opfern. Dieser Vorsatz aber lässt sich auf jeden Kampf übertragen – den für Flüchtlinge, für Integration, gegen Homophobie. In einer offenen Gesellschaft darf die Meinungsfreiheit keinem noch so honorigen Ziel untergeordnet werden. Sobald „richtige Inhalte“ oder „lautere Absichten“ in das Urteil einfließen, hat die Freiheit schon verloren.
Nach dem Attentat auf „Charlie Hebdo“ und der Ermordung von elf Menschen druckten viele westliche Zeitungen, auch der Tagesspiegel, Karikaturen des Magazins aus Solidarität nach. Einige wenige, darunter die „New York Times“, taten es nicht und wurden als feige kritisiert. Das sei eine „offizielle Bankrotterklärung“, hieß es etwa in der „Welt“, „die finale Unterwerfung der Pressefreiheit gegenüber der terroristischen Gewalt“.
Der Tagesspiegel ließ sich von folgender Überlegung leiten: Die Karikaturen von „Charlie Hebdo“ mögen bösartig und pauschalisierend sein, sind aber vom Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt. Das Recht auf Meinungsfreiheit ist nicht gleichbedeutend mit der Pflicht, Artikel oder Karikaturen zu veröffentlichen, die andere Menschen in ihrem Glauben, ihrer Ethnie, ihrem Geschlecht oder ihrer sexuellen Orientierung verletzen. Wenn aber die Veröffentlichung eines solchen Artikels oder einer solchen Karikatur durch Terror oder die Androhung von Gewalt verhindert werden soll, muss sie genau deshalb geschehen.
Die Ressentiments sind nicht neu - aber der Widerhall im Netz
Die „New York Times“ ging diesen dritten Schritt nicht mit. Man könne durchaus die Meinungsfreiheit verteidigen und trotzdem dem Grundsatz treu bleiben, keine religiösen, weltanschaulichen oder sittlichen Überzeugungen zu schmähen. Eine Beschreibung der Karikaturen reiche völlig aus, um den Lesern genügend Informationen zu geben. Wenn Karikaturen nur deshalb gedruckt würden, weil die Terroristen ein Massaker an deren Zeichnern verübt haben, würden letztlich die Terroristen definieren, was gedruckt wird.
Hass, Menschenverachtung, Rassismus, Homophobie: Im Internet wird öffentlich, was in der Prä-Internet-Zeit an Stammtischen und in holzvertäfelten Partykellern semiprivat ausgetauscht wurde. Neu sind die Ressentiments nicht. Neu aber ist die Kraft ihres Widerhalls durch die sozialen Netzwerke. Dieser Kraft lässt sich nur eigene Kraft entgegensetzen. Und vielleicht auch eine Hoffnung auf die Macht der Zivilität.
Dieser Text erscheint zum 70-jährigen Bestehen des Tagesspiegels. Lesen Sie weitere Beiträge zum Geburtstag auf unserer Themenseite.