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Fahrradfahrer in Johannisthal.
© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Wo die erste deutsche Pilotin abhob

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Nr. 39: Johannisthal.

Es gibt Ortsteile, in die man sich auf den ersten Blick verliebt, weil sie rund um ihre U-Bahnhöfe und sonstigen Zugangswege besonders hübsch sind. Johannisthal gehört nicht dazu. Ich verließ den Südwestausgang der S-Bahn-Station Schöneweide und stand vor dem vermüllten Wendegleis einer Tram-Endhaltestelle. Vorbei an windschiefen DDR-Garagen, tristen Imbissbuden und einer City-Toilette überquerte ich den grauen Bahnhofsvorplatz. Als ich die sechsspurige Betonschlucht des Sterndamms erreichte, war ich mit Johannisthal innerlich fertig.

Es gibt Ortsteile, von denen man auf den zweiten Blick enttäuscht ist, weil sie jenseits des hübschen ersten Eindrucks immer langweiliger werden. Johannisthal gehört nicht dazu. Kaum war ich vom Sterndamm in eine Seitenstraße abgebogen, entdeckte ich die erste von mehreren alten Reihenhaussiedlungen, die so verblüffend unberlinisch wirkten, dass ich mich in eine andere Stadt versetzt wähnte – einen unbekannteren Teil von London vielleicht. Staunend lief ich durch die List- und die Weststraße, den Eibenweg und den Breiten Weg, bis ich in der Oststraße meine Neugier nicht mehr zügeln konnte und zwei Männer ansprach, die sich an einem Gartenzaun unterhielten.

Fragmente des Kolonialismus?

„Entschuldigung“, rief ich, „was ist denn das für eine Siedlung?“ „Das“, sagte einer, „ist das Negerdorf.“ Bei der Erklärung des Namens waren sich die Nachbarn nicht ganz einig. Es habe hier einst einen Kohlenhändler gegeben, sagte einer, weshalb die Straßen und die nackten Füße der spielenden Kinder oft schwarz von Kohlenstaub gewesen seien. Unsinn, sagte der andere – die Siedlung sei gebaut worden, als Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg seine Kolonien verlor und man Wohnraum für die rückkehrenden Verwaltungsbeamten brauchte. Manche der Zuzügler hätten afrikanische Bedienstete mitgebracht – ein seltener Anblick im damaligen Berlin, daher der Name.

Er selbst, erzählte der Mann, habe bei Umbauten am Dach seines Hauses Bretter entdeckt, auf denen der Schriftzug „Swakopmund“ eingebrannt war, der Name einer Stadt in Westnamibia. Ansonsten kann man in Johannisthal das Ruinengelände des einstigen „VEB Kühlautomat Berlin“ bestaunen, dessen Industriehallen in stiller Schönheit vor sich hin bröckeln. Oder man kann der Frage nachgehen, was im Antlitz und Gedächtnis einer Stadt langfristig mehr Spuren hinterlässt: Filmateliers oder Flughäfen. Beides gab es hier mal, beides gibt es nicht mehr.

Flugplatz und Filmstudio

Vom Flugplatz Johannisthal, wo einst Deutschlands legendäre erste Pilotin Melli Beese abhob, ist ein riesiger, dem Tempelhofer Feld nicht unähnlicher Park geblieben. Auch geblieben sind Straßennamen wie Segelfliegerdamm, Sportflieger- und Pilotenstraße, Fokker-, Junkers-, und Melli-Beese-Straße, geblieben ist schließlich das wissende Nicken, mit dem hier alle reagieren, die man nach dem alten Flugplatz fragt. Von den Johannisthaler Filmstudios dagegen, wo in Berlins goldenen Zwanzigern Fritz Lang „Dr. Mabuse“ drehte und Friedrich Wilhelm Murnau „Nosferatu“, scheint kein Gebäude, kein Straßenname und kaum eine Spur im Gedächtnis der Johannisthaler geblieben zu sein. Wen ich auch fragte, alle zuckten gleichgültig mit den Schultern.

Fläche: 6,54 km² (Platz 58 von 96)

Einwohner: 19.524 (Platz 54 von 96)

Durchschnittsalter: 45,2 (ganz Berlin: 42,7)

Lokalpromis: Melli Beese (Pilotin), Gregor Gysi (Politiker)

Gefühlte Mitte: Rathaus

Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

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