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Bettina Jarasch, Bündnis 90/ Die Grünen.
© Doris Spiekermann-Klaas

Frühere Berliner Grünen-Chefin Bettina Jarasch: „Wir verurteilen nicht pauschal eine Gruppe“

Ein Gespräch über das umstrittene Frauenbild vieler Flüchtlinge, grüne Selbstkritik wegen nicht gestellter Fragen und die Vorwürfe der Frauenrechtlerin Ates.

Bettina Jarasch (50), ist Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin und Sprecherin bei Bündnis 90/Die Grünen für Integration, Flucht und Religionspolitik. Von 2011 bis 2016 war sie Landesvorsitzende der Grünen in Berlin. Die studierte Philosophin und Politologin ist auch Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZDK) und Vorsitzende des Gemeinderats der katholischen Gemeinde von St. Marien-Liebfrauen, Kreuzberg.

Frau Jarasch, mehr als 1000 Muslime haben auf dem Tempelhofer Feld das „Gebet im Freien“ abgehalten. Frauen und Männer mussten dabei streng voneinander getrennt sitzen. Die Muslimin und Frauenrechtlerin Seyran Ates hatte deswegen „relativ große Bauchschmerzen“. Sie auch?
Viele orthodoxe oder konservative jüdische Gemeinden wie beispielsweise die Gemeinschaft Chabad Lubawitsch, die letzten Freitag nach einem antisemitischen Angriff auf ihren Rabbiner ein öffentliches Solidaritätsgebet abgehalten hat, praktizieren ebenfalls Geschlechtertrennung. Das finden viele Menschen gerade in einer säkularen Stadt wie Berlin seltsam – aber wir halten uns aus guten Gründen mit öffentlicher Kritik zurück.

Zur Religionsfreiheit gehört, dass Menschen ihre Religion auch öffentlich leben können – und das gilt für Juden, Muslime und andere Religionen gleichermaßen. Auch Kirchentage oder katholische Fronleichnamsprozessionen über den Alexanderplatz sind öffentliche Ereignisse.

Für Seyran Ates ist es ein weiterer Beleg dafür, dass sich im Alltag patriarchalische Strukturen schleichend festsetzen. Sehen Sie das auch so?
Fundamentalismus gedeiht im Verborgenen. Deshalb wird seit Jahren darüber diskutiert, wie man den Islam aus den Hinterhofmoscheen heraus an die Öffentlichkeit holen kann. Wenn die Muslime auf dem Tempelhofer Feld jetzt öffentlich beten und predigen und auch die Presse dazu eingeladen haben, tun sie damit genau das, was die Politik seit langem gefordert hat.

Frau Ates allerdings hat die Muslime auf dem Tempelhofer Feld wegen der Geschlechtertrennung als „muslimische Identitäre“ bezeichnet. Ob eine Frau, die durch öffentliche Auftritte bei der österreichischen FPÖ Rechtspopulisten unterstützt, die Richtige ist, anderen vorzuwerfen, sie seien keine aufrechten Demokraten, darf bezweifelt werden.

Die Frauenrechtlerin und Autorin Seyran Ates.
Die Frauenrechtlerin und Autorin Seyran Ates.
© imago images / epd

Lehrerinnen, die Flüchtlinge in Deutsch unterrichten, beklagen sich, dass einige arabische Männer ihnen abschätzig zurufen: „Von einer Frau lasse ich mir nichts beibringen.“ Tolerieren Multi-Kulti-Grüne so eine Haltung?
Wir sind eine Bürger- und Menschenrechtspartei. Nötigung, Gewalt gegen Frauen oder sexuelle Übergriffe tolerieren wir nicht, und wir kämpfen gegen Frauenfeindlichkeit. Wir haben schon gegen Zwangsheiraten und Ehrenmorde gearbeitet, als das für andere Parteien noch gar kein Thema war.

Von der Partei, der Frauenrechte sehr am Herzen liegen, war sehr lange viel von Verständnis für Flüchtlinge, aber sehr wenig über frauendiskriminierendes Verhalten einiger dieser Flüchtlinge zu hören. Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Ekin Deligöz und Manuela Rottmann haben in einem Diskussionspapier mehr Präsenz bei diesem Thema gefordert.

Ich kenne die beiden schon lange und schätze sie, aber über dieses Papier habe ich mich aus zwei Gründen sehr geärgert. Erstens wird darin behauptet, dass bei uns Grünen ein Tabu gebrochen werden müsse, obwohl es gar kein Tabu gibt. Gäbe es ein Tabu, gäbe es auch keine Lösungsvorschläge von uns. Aber keine der Forderungen in dem Papier ist neu, sie sind alle Konsens, den wir auch in Berlin versuchen umzusetzen.

Zweitens: Das Papier trägt den Titel „Zuwanderungsgesellschaft und Frauenrechte“. Aber ich vermisse den Hinweis, dass wir Bündnisse brauchen, um Frauenrechte durchzusetzen – und zwar Bündnisse mit der Zuwanderungsgesellschaft. Es gibt dafür genügend Partner. In Berlin gibt es Migrantenorganisationen, die für Frauenrechte kämpfen und beraten. Oder Männer aus der türkischen Community wie Kazim Erdogan, der Männer berät, wie sie sich aus patriarchalischen Rollenbildern lösen. Und es gibt feministische Muslima.

Ekin Deligöz und Manuela Rottmann schreiben in ihrem Diskussionspapier: „Dass Gewalt gegen Frauen durch deutsche Täter seit jeher ein gravierendes Problem ist, darf nicht dazu führen, dass wir die Frage nach dem eingewanderten Frauenbild erst gar nicht stellen. Wir müssen etwas tun.“ Was wurde denn nicht getan?
Das müssen Sie die Autorinnen fragen. Ich glaube, die Beiden haben sich von einem gesellschaftlichen Diskurs treiben lassen. Es gibt in der Gesellschaft eine Spaltung entlang der Themen Flüchtlinge und Islam. Rechtspopulisten versuchen uns in einen Kampf der Kulturen zu drängen. Sie werden von den Grünen immer klare menschenrechtliche Positionen hören, aber nie pauschale Verurteilung von Gruppen.

Ekin Deligöz, Bündnis 90 / Die Grünen.
Ekin Deligöz, Bündnis 90 / Die Grünen.
© privat

Es geht um einzelne Männer, die sich frauenverachtend verhalten, nicht um die pauschale Verurteilung einer ganzen Gruppe. Ist nicht genau dieser fast reflexartige Hinweis auf die angeblich attackierte ganze Gruppe das Problem der Grünen? Partei-Chefin Annalena Baerbock sagt: „Gewalt gegen Frauen wird instrumentalisiert, um Stimmung gegen Flüchtlinge zu machen.“ Könnte bedeuten: Aus Angst, die AfD stark zu machen, kritisieren wir Flüchtlinge lieber gar nicht. Genau deshalb entstand doch der Eindruck, die Grünen hielten sich bei Kritik am Verhalten von einigen Flüchtlingen zurück.

Wir fordern eine konsequente Verfolgung der Täter und einen konsequenten Schutz der Frauen. Aber wir fordern keine Sonderbehandlung von Gruppen, egal welche. Wir unterscheiden auch nicht nach der Herkunft der Täter. Deshalb finde ich es konsequent, dass wir nach der Silvesternacht von Köln...

...als in der Nacht zum 1. Januar 2016 offiziell 1276 mutmaßliche Opfer, die allermeisten Frauen, vor allem von Nordafrikanern und arabischen Flüchtlingen massiv sexuell attackiert wurden...
...erneut gesagt haben, dass wir eine Verschärfung des Sexualstrafrechts brauchen. Damit Nein wirklich Nein bedeutet und der Übergriff an sich sanktioniert wird. Dabei ist es mir egal, ob der Täter ein Migrant ist oder nicht.

„Häusliche Gewalt gibt es in allen Milieus unserer Gesellschaft“

Bettina Jarasch, Bündnis 90/ Die Grünen.
Bettina Jarasch, Bündnis 90/ Die Grünen.
© Doris Spiekermann-Klaas

Deligöz und Rottmann schreiben, dass viele Flüchtlinge aus Kulturen kommen, in denen Frauen als zweitrangig gelten und damit die Frauen potentiell schneller als Opfer eingeschätzt werden. Das ist ja nur eine Tatsache. Die kann man ja schlecht ignorieren.
Naja, dass wir in Deutschland das Patriachat schon ganz überwunden haben, das ist ja nun auch schon sehr zweifelhaft.

Stimmt, aber Sie wollen doch jetzt nicht die deutsche mit der arabischen Kultur in dieser Frage gleichsetzen?
Nein, aber es wäre fatal anzunehmen, in Deutschland sei in Sachen Frauenrechte nichts mehr zu erledigen – nur weil es eine neue Gruppe von potentiellen Tätern gibt. Ich möchte bei dieser Debatte die deutschen Männer nicht aus der Verantwortung lassen. Häusliche Gewalt gibt es in allen Milieus unserer Gesellschaft.

Wichtig ist allerdings, dass Menschen, die hier ankommen, möglichst schnell mitbekommen, wie dieses Land tickt und wer welche Rechte hat. Deshalb gibt es auch ganz tolle Projekte wie „Wir im Rechtsstaat“, die Justizsenator Dirk Behrendt fördert. Da gehen Richter, Staatsanwälte und andere Juristen in Unterkünfte, Schulen und Integrationskurse und informieren über unser Rechtssystem, über Grund- und natürlich auch über Frauenrechte. Diese Rechte sind ja für viele Geflüchtete auch ein Grund, nach Deutschland zu kommen. Viele sind in ihrer Heimat unterdrückt worden.

Zweifellos. Die Zahl der arabischen und afghanischen Frauen, die sich trauen, sich scheiden zu lassen, steigt enorm. Aber Frau Eligöz und Frau Rottmann schreiben auch: „Wer dauerhaft in Deutschland leben will, muss sich von herabwürdigenden Frauenbildern lösen, welche Frauen als den Männern untergeordnet definieren.“ Wie wollen Sie denn so in der Praxis etwas durchsetzen?
Es braucht eine Grundrechtsklarheit in den ganz alltäglichen Dingen und Begegnungen, also auch bei SozialarbeiterInnen, Lehrkräften oder Arbeitskollegen. Um hier voranzukommen, muss man aber nicht pauschal alle muslimischen oder arabischen Geflüchteten diffamieren.

Nochmal: Das macht doch keiner. Hier werden spezielle Gruppen angesprochen.
Doch, das machen die Beiden in dem Text, und deshalb ärgert er mich so.

Die Beiden schreiben explizit: „Die übergroße Mehrheit der Flüchtlinge ist nicht kriminell.“ Wenn man einzelne Gruppen mit ihrem Verhalten herausgreift, kommt das Argument, alle Flüchtlinge würden pauschal diffamiert? Das erschwert eine themenbezogene Diskussion.

Dann reden wir doch mal übers Thema – also darüber, was hilft. Bei einer Straftat ist eine schnelle, konsequente Strafverfolgung nötig. Deshalb unternehmen wir auch in Berlin große Anstrengungen, die Polizei und die Justiz besser auszustatten. Die Opfer erwarten, dass es eine Strafe gibt und die auch vollzogen wird.

Wie wollen Sie das diversen Flüchtlingen beibringen? In einer Berliner Grundschule erklärte ein neunjähriger arabischer Junge einer palästinensischen Pädagogin mit offenen Haaren: „Von dir lasse ich mir gar nichts sagen, du trägst ja kein Kopftuch, du bist keine echte Muslima.“ Das war vor wenigen Wochen. Die Schule liegt neben einer erzkonservativen Moschee. Diese Haltung entwickelt der Junge ja nicht selber. Die wird ihm ganz offenkundig im Elternhaus und in der Moschee beigebracht.
Bei einer Diskriminierung in der Schule, egal mit welchen Beteiligten, muss es sofort eine rote Linie geben. Klare Ansage: Das geht bei uns nicht. Eine Schulleitung muss diese rote Linie konsequent durchsetzen. Wir versuchen die Schulen bei diesem Handeln zu stärken. Aber wir stellen auch fest, dass sich Schulleitungen bei der Problemlösung schwerer tun als üblich, wenn sie glauben, sie hätten es mit religiös konnotierter Diskriminierung zu tun. Soweit der erste Schritt.

Und der zweite?
Wir müssen migrantische communities, die sich einbringen, viel stärker nutzen. Ich kenne Muslima, auch teilweise mit Kopftuch, die im Auftrag von Projekten in Schulen gehen und über Diskriminierung und den Umgang mit Vielfalt reden. Für so einen Jungen wirkt es natürlich nochmal anders, wenn eine muslimische Frau mit Kopftuch ihm sagt: Hör mal, ob eine Frau ein Kopftuch trägt, ist ihre Entscheidung, und du hast sie zu respektieren, sie ist deine Pädagogin. Vor allem kann sie glaubwürdig sagen: Du hast da den Koran falsch verstanden. Der Koran verlangt Respekt gegenüber Mitmenschen.

Das eigentliche Problem, sagen viele Schulleiter, sind nicht die jungen Schüler, sondern die Eltern, die ihren Kinder diese Frauen-Bilder vermitteln. Wie kommt man an diese Eltern heran?
Elternarbeit ist in der Tat ein Riesenthema. Die wollen wir auch in diesen Haushaltsberatungen verstärken. Ich habe mit vielen Schulleitungen über dieses Thema gesprochen, und mein Eindruck ist, dass es auf beiden Seiten Probleme gibt. Es gibt gerade im eher linken, säkularisierten Berlin Lehrkräfte, die sich grundsätzlich mit religiösen Menschen schwer tun. Ich höre oft die These, Eltern seien das Problem. Aber ich würde es nicht allein auf die Eltern beschränken. Da müssen schon alle Beteiligten lernen, auch die Lehrkräfte.

Die Grünen in Berlin setzen bei abgelehnten Asylbewerbern immer noch auf die freiwillige Ausreise. Glauben Sie, dass das wirklich etwas nützt? In Deutschland leben Tausende abgelehnte Asylbewerber, die schlicht untergetaucht sind, und viele von ihnen verdienen ihren Lebensunterhalt jetzt durch Drogenhandel. Ist das Preis, den man für eine Flüchtlingspolitik zahlen muss, die auf freiwillige Ausreise setzt?
Für uns sind Abschiebungen Ultima Ratio. Wir sind überzeugt, dass es intelligentere und humanere Wege gibt, um mit Menschen umzugehen, die ausreisepflichtig sind, aber trotzdem hier leben. Dazu gehört die freiwillige Rückkehr, mit Unterstützung bei einer Existenzgründung und Starthilfe im Heimatland. Dazu gehören aber auch Aufenthaltstitel für die vielen Menschen, die hier mit unsicherem Status leben, weil wir sie nur dulden, obwohl wir wissen, dass sie bleiben werden und wir sie gar nicht abschieben können. Zum Beispiel, weil es Probleme mit dem Pass gibt. Oder weil sie eine Ausbildung machen. Warum bekommen sie dafür nur eine Ausbildungsduldung und keine Aufenthaltserlaubnis? Im Übrigen tragen wir mit, dass sich der Berliner Innensenator bei der Abschiebung von Geflüchteten auf verurteilte Straftäter konzentriert.

Es geht um abgelehnte Asylbewerber, die ausreisepflichtig sind, die keine Duldung haben. Die untertauchen, weil sie nicht gehen wollen.
Es gibt Menschen, die leben komplett in der Illegalität, die allermeisten aber mit einer Duldung. Dass Menschen in die Illegalität gehen und ohne Duldung leben, ist auch eine Konsequenz aus der Tatsache, dass wir eine Welt sind, die zusammengewachsen ist und dass Menschen, wenn sie in ihrer Heimat keine Perspektive mehr sehen, kommen und bleiben, ohne zu fragen, ob sie ein Bleiberecht haben. Das ist eine Realität, mit der man umgehen muss.

Dürfen verurteilte gefährliche Straftäter nach Afghanistan abgeschoben werden?
Das ist ein schwieriges Thema. Der Menschenrechtsschutz gilt in einem Rechtstaat grundsätzlich auch für Straftäter – das ist ja gerade das Besondere am Rechtstaat. Aus der Sicherheitsperspektive finde ich es besser, diese Leute hier einzusperren. Dann kann man sicher sein, dass sie ihre Strafe auch im Gefängnis verbüßen. Es gibt keinen Abschiebestopp nach Afghanistan in Berlin, aber wir halten als rot-rot-grüne Koalition Afghanistan nicht für ein Land, das so sicher ist, dass man es humanitär verantworten kann, Menschen dorthin zurückzubringen. Diese Linie trägt auch der Innensenator mit. Aber er prüft jeden Fall und er behält sich vor, schwere Straftäter abzuschieben.

Haben Sie persönlich mal frauenverachtendes Verhalten bei muslimischen Flüchtlingen erlebt?
Ich habe eher Freude erlebt, wenn ich irgendwo hinkomme. Und wenn die Menschen sehen, dass ich mich für ihre Situation interessiere.

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